Fehlender Lernstoff wegen Corona: Sitzenbleiben leicht gemacht
Coronabedingt sollen Eltern in Berlin alleine entscheiden dürfen, ob ihr Kind ein Jahr wiederholt. Schulleiterverbände warnen vor überfüllten Klassen.
BERLIN taz | Berliner Schulleiter üben scharfe Kritik am Plan von Rot-Rot-Grün, allen Schüler*innen wegen der Pandemie das „freiwillige Sitzenbleiben“ zu erlauben. Dies könnte „soziale Verwerfungen nach sich ziehen und zur schulorganisatorischen Katastrophe führen“, erklärten fünf Vorsitzende von Berliner Schulleiterverbänden in einer gemeinsamen Presseerklärung.
Wenn die Eltern selbstständig entscheiden können, ob ihr Kind eine Klasse wiederholen soll, sei Personalplanung für das kommende Schuljahr unmöglich. Ein „hohes Risiko übervoller Klassen“ und fehlender Räume sei damit absehbar.
Die Koalition will an diesem Donnerstag im Abgeordnetenhaus einige coronabedingte Änderungen am Schulgesetz beschließen. Dazu gehört die diesjährige Aussetzung der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss, die Verlängerung des Probejahrs an Gymnasien sowie Erleichterungen für Abiturient*innen beziehungsweise Oberstufenschüler*innen.
Zu dieser Liste war kurzfristig auf Initiative von Linken und Grünen das „freiwillige Sitzenbleiben“ gekommen. Bisher müssen Eltern eine Wiederholung der Klasse bei der Schule ihres Kindes beantragen, die Entscheidung fällt die Schulkonferenz. Nun soll es zwar ein verpflichtendes Beratungsgespräch geben, die Entscheidung soll aber allein bei den Eltern liegen.
„Mit der Änderung geben wir Schüler*innen, die in besonderem Maße unter Corona gelitten haben, etwas an die Hand“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Regina Kittler, am Dienstag der taz. Es gehe um Kinder und Jugendliche, die besonders viel Stoff verpasst haben, etwa weil sie mehrfach in Quarantäne waren oder ihre Lehrer ständig ausgefallen sind.
Kittlers Kollegin von der SPD, Maja Lasic, ergänzte, wenn Eltern große Sorgen hätten wegen des vielen Homeschoolings, sollten sie selbst entscheiden können, „was im Sinne ihrer Kinder ist“.
Sturm im Wasserglas?
Beide Bildungspolitikerinnen erklärten, sie könnten die Sorge der Schulleiter*innen vor massenhaften Wiederholer*innen nicht nachvollziehen. „Das ist ein Sturm im Wasserglas“, sagte Kittler. Eine solche Möglichkeit würden doch nur jene in Anspruch nehmen, die „über die Maßen beeinträchtigt sind“, zumal im Beratungsgespräch sicher viele Eltern von diesem Schritt wieder abgebracht werden könnten. Auch Lasic meinte: „Niemand in den Familien wird sich die Entscheidung leicht machen.“
Miriam Pech von der Vereinigung der Berliner ISS Schulleiterinnen und Schulleiter (BISS) und Leiterin der Heinz-Brandt-Schule in Weißensee, eine der Unterzeichner*innen, befürchtet dagegen sehr wohl, dass es überfüllte Klassen geben wird. Bislang entschieden die Schulkonferenzen bei Rückstellungsanträgen nach pädagogischem Ermessen, das heißt zumeist unter sozialen Aspekten eher für einen Verbleib in der Klasse.
Wenn diese Entscheidung jetzt den Eltern obliege, die nach einem Jahr Pandemie und Homeschooling durchaus berechtigt Angst um die erfolgreiche Schullaufbahn ihrer Kinder haben könnten, vor allem bei solchen an den Übergängen zur Sekundarstufe I und II, seien deutlich mehr Rückstellungen zu erwarten. „Und wohin sollen wir dann mit den Kindern? An unserer Schule platzen wir jetzt schon aus allen Nähten!“
Leser*innenkommentare
Mamatier
Das ist eine Ohrfeige ins Gesicht der Kinder und Eltern, die aufgrund des systemrelevanten Arbeitens beider Elternteile das ganze Pandemie- Jahr durch das homeschooling nicht wirklich betreuen konnten. Meine Kinder sind solche: 3 5er im Zeugnis, wegen nicht rechtzeitig abgegebener Sachen. Keine Info an mich erfolgt, obwohl ich noch im Elterngespräch im Dezember darum gebeten hatte, falls etwas total schief läuft. Jetzt soll mein Sohn, 8. Klasse, doppelt/3fach "bestraft" werden? Man will ihm jetzt auch noch die sozialen Bezüge innerhalb der Klasse und den Kontakt zu den Freunden wegnehmen? Die ihm so sehr gefehlt haben? Bei der totalen Unfähigkeit dieser Regierung sitzen wir den Rest des Jahres immer wieder/noch im lockdown. Und er dann wieder im homeschooling - dann mit ihm unbekannten Lehrer*Innen und Mitschüler*Innen. Wie weit will man die Kinder des Proletariats eigentlich noch kaputt machen?
Rudolf Zlabinger
Um die Schüler nicht als Coronajahrgang abzustempeln, empfehle ich das Schuljahr generell zu wiederholen.
Libuzzi
"An unserer Schule platzen wir jetzt schon aus allen Nähten." Genau da liegt das Problem -- und zwar bundesweit. Und alle ducken sich weg oder schieben die Verantwortung woanders hin. Dabei wird am Ende ein großer Teil der Jahrgänge fast ein ganzes Schuljahr im Homeschooling gesessen sein.
Wenn man bei den Parteien nach Ideen und Konzepten fragt, wie die coronabedingten Rückstände aufgeholt werden sollen, dann bekommt man im besten Fall blabla, im Normalfall keine Antwort. Ich habe den Test bei uns in Baden-Württemberg gemacht -- in einem Land, in dem Wahlkampf ist!
Aber es geht ja um die Kinder. Und um deren psychisches Wohlergehen, ihre Bildung und ihre Entwicklung. Man könnte kotzen ...
Rudolf Zlabinger
@Libuzzi Die Konsequenz: Die Einschulung um 1 Jahr generell verzögern. Das bringt ein zusätzliches Jahr an Schulreife, ein zusätzliches Jahr Kindheit.