Fehlende Pfiffe bei der WM: Hart, härter, immer härter

Die Schiedsrichter lassen bei dieser WM zu viel durchgehen. Das Foul an Neymar im brutalsten Spiel der WM war nur der traurige Höhepunkt dieser Entwicklung.

Mitschuld an der Härte des Spiels: Schiedsrichter im Spiel Brasilien-Kolumbien. Bild: ap

BERLIN taz | Viertel vor zwölf deutscher Zeit am Freitagabend: Die WM ist vorbei. Für Neymar. Für uns alle ein bisschen. Der Kolumbianer Juan Zúñiga springt mit dem Knie in den Rücken des grazilen brasilianischen Superstars. Die Trage, mit der der weinende Volksheld abtransportiert wird, wirkt wie der Sarg, mit dem diese WM beerdigt wird.

Es ist kein Zufall, dass dieses Foul passiert ist. Der Schiedsrichter Carlos Velasco ließ das Spiel zunächst laufen, Zúñiga als Verantwortlicher für das Foul sah nicht mal Gelb. Nach diesem Viertelfinale ist sich nun fast die ganze Fußballwelt einig, dass die Knieattacke ein Ergebnis des Laisser-faire-Kurses ist, den die Schiedsrichter bereits das gesamte Turnier über verfolgen.

ARD-Experte Mehmet Scholl war bei seiner Analyse wütend: „Das kommt dabei raus, wenn die Schiedsrichter die Vorgabe haben, brutale Fouls nicht zu stoppen.“ Die Exreferees, ob sie nun Urs Meier oder Dr. Markus Merk heißen, stimmten überein.

Recht haben sie. Während die Spieler mit der steigenden Bedeutung der Spiele härter und härter zu Werke gehen, pfeifen die Schiedsrichter nach wie vor: wenig. Leichte Fouls lassen sie laufen, bei taktischen Fouls im Mittelfeld gibt es kein Gelb, verbale und gestische Provokationen ahnden sie mit Ermahnungen – das Hochschaukeln im Spiel Brasilien gegen Kolumbien eine natürliche Folge dieses anything goes. Resultat: ein gebrochener Lendenwirbel und der vielleicht filigranste Ballkünstler der Welt aus dem Turnier.

168-mal Gelb und zehnmal Rot

Schon die Zahlen zeigen, dass die WM in Brasilien ein Turnier ist, bei dem unsportliches Verhalten oder Fouls kaum oder gar nicht geahndet werden. Bis zum Halbfinale gab es bisher 168-mal Gelb und zehnmal Rot – in Südafrika vor vier Jahren waren es insgesamt noch 245 Gelbe und 17 Rote Karten.

Warum ist das so? Über ihre Direktive vor der WM halten sich die Fifa und die zuständige Schiedsrichterkommission bedeckt. Von einer Bevorteilung der Brasilianer, über die nach den ersten Partien spekuliert wurde, kann inzwischen, zumindest auf dem Feld, nicht mehr die Rede sein.

„Die Eskalation in diesem Spiel ist zu erklären“, sagt Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Sporthochschule Köln, „das ist ein Prozess, der sich im Spiel entwickelt hat.“ Der Schiedsrichter habe es versäumt, früh eine Gelbe Karte zu geben und die Grenzen abzustecken.

Der Spieler lerne daraus – vielleicht auch unbewusst – im Hinblick auf sein weiteres Verhalten: „Das ist in diesem Spiel kein gelbwürdiges Foul.“ Wissenschaftlich nenne man das Kalibrierungseffekt, für jedes Spiel müsse neu eine Norm bestimmt werden. Es sind Vorgänge, die jeder Kreisklassenspieler nachvollziehen kann: Der Kurs des Schiris gibt die Härte des Spiels vor.

Gelb oder nicht Gelb?

Man kann diese Justierung aber auch auf das Turnier in Gänze beziehen. Haben sich die Referees überhaupt mal auf einen Kurs eingependelt? „Ich vermisse eine klare Linie. Man weiß nie, wann es nun eine Gelbe Karte gibt und wann nicht“, sagte der ehemalige WM-Schiedsrichter Markus Merk vor wenigen Tagen der Zeitschrift 11Freunde.

Inzwischen kann man sagen: Doch, es gibt eine Linie. „Es wird viel mehr laufen gelassen, als dies im europäischen Fußball üblich ist“, findet Memmert. Zu den vielen taktischen Fouls, bei denen es während der WM kein Gelb gab, sagt Memmert: „Alles Fehlentscheidungen, die ich nicht nachvollziehen kann.“

54 Fouls gab es insgesamt beim Spiel Brasilien gegen Kolumbien – der bislang höchste Wert (mit 16 die wenigsten Fouls gab es bei Nigeria – Bosnien). Der Spanier Velasco zeigte ganze vier Gelbe Karten. Jene, die sich jetzt nur auf ihn stürzen – etwa Diego Maradona –, dürften mit falschen Maßstäben messen: Velascos stumme Pfeife bei den vielen Fouls gegen die Seleção – und von ihr – ist die schlüssige Folge der bisherigen WM-Pfiffe.

Und Neymar? Der zeigte sich verheult als Mutmacher für sein Team via Videobotschaft. Für ihn selbst aber gibt es keinen Trost: „Es war mein Traum, ein WM-Finale zu spielen. Aber, aber … Das wird diesmal nicht klappen.“ Sein dritter Lendenwirbel ist gebrochen. Bei gutem Heilungsverlauf könnte er in zwei Monaten wieder spielen. Nichts wird ihn gerade weniger interessieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.