Fazit der Kulturhauptstadt Chemnitz: Eine Stadt rehabilitiert sich
Gefühlt hat das Kulturhauptstadtjahr das bessere Chemnitz präsentiert und der Stadtgesellschaft Impulse verliehen. Wird diese Dynamik weitertragen?
Chemnitz sei eine „Stadt der Rollkoffer“ geworden, hört man lächelnd in diesem Kulturhauptstadtjahr von verschiedensten Personen. Hotels sind ausgebucht, im sächsischen Industriemuseum Chemnitz, ja sogar in der berühmtesten Kirche des Erzgebirges, St. Annen, im 45 Kilometer entfernten Annaberg muss man eine Gruppenführung Monate vorher anmelden. Ende August bescheinigte die offizielle Statistik der Stadt Chemnitz für den Juni einen Übernachtungszuwachs von 44,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr, der Region für das erste Halbjahr 8,4 Prozent.
Mit solchen Statistiken werden Politiker und das Kulturhauptstadtbüro gewiss aufwarten, wenn am 28. November im nahen Oelsnitz das Kulturhauptstadtjahr ausgewertet wird. Zugleich soll eine „Lichtskulptur“ des Amerikaners James Turrell den bis zur tschechischen Erzgebirgsgrenze reichenden Kunstweg „Purple Path“ krönen. Die offenkundige Entdeckerfreude bisheriger Chemnitz-Ignoranten wird schon jetzt als Beweis gewertet, dass das Logo und Motto „See the unseen“ treffend gewählt war.
Wer wollte zuvor schon unbedingt nach Chemnitz reisen, das als „Ruß-Chemnitz“, Proletenstadt, Stadt ohne Mittelpunkt nach den verheerenden Zerstörungen durch alliierte Bomber am 5. März 1945 und schließlich durch die ausländerfeindlichen Krawalle Ende August 2018 als Nazistadt verschrien war? Sogar die populäre Band Kraftklub schwärmte nicht gerade von ihrer Heimatstadt: „Ich komm' aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby …“ Wer ist schon so gebildet zu wissen, dass Chemnitz vor hundert Jahren schon einmal als „Stadt der Moderne“ in Kunst und Architektur galt und nicht erst seit der Aufwertungskampagne der Stadt seit 2009?
Titelvergabe als Entwicklungshilfe
Zu den Entdeckungen des Ungesehenen zählt in diesem Jahr beispielsweise der Verein Bordsteinlobby. Er veranstaltet Stadtführungen der anderen Art. Seine Arbeit verweist auf den wesentlichen ideellen Effekt dieses Kulturhauptstadtjahres jenseits touristischer Bilanzen und abgehakter künstlerischer Highlights. Mit ihrem erwachten Ehrgeiz, Vorzüge der oft geschmähten Stadt sichtbar zu machen, wurden Lisa Hetmank und Octavio Gulde sowohl zu Vorläufern der Vereinsgründung 2018 als auch des späteren Kulturhauptstadtmottos.
Eigentlich ist es immer noch unfassbar, dass zwei Dresdner in Chemnitz studieren und sich so in ihre neue Heimat verlieben, dass sie wohnen bleiben und sie schon beinahe missionarisch anderen erklären. Dresden, das sich seit jeher als Kulturhauptstadt des gesamten Universums versteht, hat seine Niederlage bei der Titelvergabe gegen den Underdog im Grunde nicht verkraftet.
„Dresden hat schon alles“, kommentierte Geschäftsführer und Programmchef Stefan Schmidtke lächelnd zu Beginn des Kulturhauptstadtjahres und traf damit den Entwicklungsgedanken der Jury, der den anfänglichen Belohnungscharakter der Titelvergabe verdrängt hat.
Chemnitz wäre ohne seinen Maschinenbau und den Erzbergbau in der Region vor hundert Jahren nicht so wohlhabend geworden, und der Kaßberg als eines der größten deutschen Gründerzeit- und Jugendstilviertel steht dafür. Die den Strukturwandel in verschiedenen europäischen Industriestädten vergleichende Sonderausstellung im Industriemuseum „Tales of transformation“ aber machte es sich zu einfach. Die Erzählung, dass es nur einiger Ideen und unternehmerischer Initiativen bedürfe, Niedergänge in Aufbrüche zu verwandeln, wird vom sich selbst erst langsam aufrappelnden Chemnitz widerlegt. So einfach ist es in einem kapitalistischen Konkurrenzsystem nicht.
Kulturprogramm und latenter Rechtstrend
Die Stimmung unter den geschätzt 80.000 Chemnitzern auf den Straßen am Eröffnungstag 18. Januar signalisierte schon, dass der Hauptzweck des Kulturhauptstadtjahres in einer positiven Identitätsfindung, in der Entwicklung eines entkrampfenden Selbstbewusstseins besteht. Einer Lockerheit, die Bürger weniger in die Arme von Verführern und Pseudo-Erlösern von rechts treibt. Ist das gelungen?
Ja, sagen die Teilnehmer dreier taz-Bildungsreisen, an einer stark von der DDR geprägten Stadt interessiert und mit erstaunlichen Vorkenntnissen ausgestattet. Im Herbst 2024 noch kaum beachtet, waren in diesem Jahr drei Reisen mit je 18 Teilnehmern plötzlich überbucht. 2026 werden weitere zwei Reisen folgen.
Die Teilnehmer interessierten vor allem soziale Milieus und der Ruf einer von Rechtsextremisten unterwanderten Stadt. Nach den ausländerfeindlichen Krawallen Ende August 2018, ausgelöst durch einen Mord an einem Deutschkubaner, bildete sich die Gruppe der „Buntmacher*innen“. Sie antworten skeptisch auf die Frage, ob die Kulturhauptstadtstimmung Nazis marginalisiert habe.
Dass sieben Jahre danach angeklagte militante Neonazis vor dem Landgericht Chemnitz straffrei ausgehen, passt auch nicht so recht in die Kulturhauptstadteuphorie. Lisa Hetmank von der Bordsteinlobby vermutet ebenfalls, dass die Vielzahl der Kulturhauptstadtangebote die latente rechte Szene nur überdecke.
Gleichwohl freut die progressive Szene eine spürbar höhere Resonanz. Zum Stadtrundgang „Das rote Chemnitz“ drängten plötzlich 120 Interessenten. Unmittelbar hinter dem „Nischel“, dem riesigen Marx-Bronzekopf, hat im Haus der früheren SED-Bezirksleitung ein Open Space geöffnet, daneben richtete die Landeszentrale für politische Bildung ein Projektbüro ein.
Ein gewachsener Stolz der Chemnitzer ist stärker spürbar als in den Vorbereitungsjahren seit 2020. Spontan angesprochen, werden Bürger zu Stadtführern, verweisen beispielsweise auf das Wohnhaus der Eiskunstlauflegende Katarina Witt. Beim Kneipier Ronny auf dem Kaßberg drückt sich Lokalpatriotismus in der Erinnerung an das schon zu DDR-Zeiten verkannte Karl-Marx-Stadt aus. Das destruktive sächsische „Rumningeln“ scheint in Chemnitz nicht so ausgeprägt wie weiter östlich.
Höhepunkte und Eventgeklingel
Selbstverständlich drängte alles in die Munch-Ausstellung der städtischen Kunstsammlungen, weniger ins Museum Gunzenhauser mit den Kunstankäufen der sächsischen Kulturstiftung. Noch bis zum kommenden Februar kann man im Schlossbergmuseum „Die neue Stadt“ der architektonischen Ostmoderne studieren oder am Theaterplatz die Spuren der legendären Künstlergruppe Clara Mosch verfolgen.
Die Kunstsinnigen wissen allerdings zu unterscheiden zwischen gelungenen künstlerischen Höhepunkten und inszenierten PR-Events. Für die Auftragsoper „Rummelplatz“ über die Härten des Uranabaus der sowjetisch-deutschen Wismut AG beispielsweise müssen die Theater Chemnitz wegen der enormen Nachfrage immer neue Zusatzvorstellungen ansetzen. Von der geplanten teuren Großaktion mit 4.000 zu pflanzenden Apfelbäumen aber blieb im Oktober nur ein Apfel-Fest mit immerhin 600 Jungbäumen.
Auch die an sich originelle Idee, etwa 3.000 Privatgaragen aus DDR-Zeiten als Kunstorte zu öffnen, fällt real einige Nummern kleiner aus. Wenn, dann erinnern einige bunte Garagentore an die schöne Absicht, performativ ist an den wenigsten etwas los. Der sogenannte Garagencampus im vorbildlich ausgebauten ehemaligen Straßenbahndepot wirkt auch eher ambitioniert als niveauvoll.
Gleichwohl verdienen die zahlreichen Mitmachformate in Stadt und Umgebung eine Würdigung. Darunter verschiedenste Makerhubs, ein Spielzeugmacherfestival in Seiffen, ein „Kiosk des Unwissens“ in der Fritz-Heckert-Plattenbausiedlung, das brisante „Haamit – Heimat – heimaten“-Debattenfestival, ein Filmfest über das Älterwerden neben dem „Betonblühen“-Festival für junge Menschen.
Der Kunstpfad „Purple Path“ dürfte überregional am meisten bekannt geworden sein. Eine schöne Gelegenheit, Kunstobjekte öffentlich auch in 38 abgelegeneren Orten der Region zu platzieren und Besucher dorthin zu locken. Über deren schwankende Qualität sollte man keinen Stab brechen.
Was bleibt?
Bleiben werden von diesem Kulturhauptstadtjahr die sogenannten Interventionsflächen, also die umgestalteten Parks und öffentlichen Räume. Der 18 Kilometer lange Kulturpfad Höhenweg oder der zu einem soziokulturellen Areal ausgebaute ehemalige Abfallhof. Schwieriger sieht die Zukunft aufgebauter Strukturen aus.
Über tausend freiwillige Helfer haben die organisatorische Arbeit wesentlich mitgetragen und werden nun nicht mehr gebraucht. Wo betätigen sie sich weiter, wo finden auch Hauptamtliche neue Jobs? Der prekäre Stadthaushalt verheißt nichts Gutes. Die Kunstsammlungen werden 2026 einen Tag weniger in der Woche öffnen. Vielleicht wollte die Stadt deshalb auch im Jubeljahr nicht auf Einnahmen aus der unnachsichtigen Ahndung von Parkverstößen verzichten.
Eine interministerielle Arbeitsgruppe von Stadt und Staatsregierung hat sich im September mit der nachhaltigen Wirkung des Kulturhauptstadtjahres befasst. Der Bund jedenfalls unterstützt das Programm „ENTER – Junge Kulturhauptstadt“ noch bis 2029 mit 7,2 Millionen Euro. Oberbürgermeister Sven Schulze sieht keinen Abschluss eines Prozesses, sondern „die großartige Chance, der Kulturregion eine langfristige Perspektive zu geben“.
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