Faszinosum Reality-TV: Wie weit zu weit ist
Eine Show ohne Drama funktioniert nicht. Doch wie viel darf gezeigt werden und wer übernimmt die Verantwortung dafür?
Was wirklich hinter den Kulissen einer Reality-Show passiert, können Zuschauer:innen nur ahnen. Wir sehen nur einen Teil von dem, was die Kandidat:innen tun – das Gezeigte ist sorgfältig ausgewählt und zusammengeschnitten. Und durch ausgewählte Konstellationen in Spielen oder gezieltes Fragestellen schüren Produzent:innen Konflikte.
Wozu das in Extremfällen führen kann, zeigt die fiktive Serie „UnReal“, die das Leben hinter den Kulissen einer Verkupplungsshow zeigt – inklusive Suizid und Missbrauch. Die Produzent:innen schrecken darin vor keinem Druckmittel zurück, um „gute“ Bilder zu bekommen. Die Serie basiert lose auf den Erfahrungen der ehemaligen „Bachelor“-Produzentin Sarah Getrude Shapiro.
Die Serie mag überzogen sein, doch wer sich durch die verschiedenen deutschen Formate kämpft, kann sich vielleicht danach besser erklären, wie diese „Realität“ entsteht. Hinzu kommt, dass die Kandidat:innen wochenlang abgeschnitten von der Außenwelt leben – meist ohne Handy, Musik, Filme oder Literatur, dafür mit jeder Menge Alkohol. Da wundert es nicht, wie häufig es knallt.
Ohne Streitigkeiten, Eifersucht und Rachegelüste lässt sich nur schwer Spannung und damit Unterhaltung erzeugen. Doch wie viel Drama ist zu viel? Sind diskriminierende Beleidigungen, Mobbing, Gewalt und Belästigung noch Unterhaltung oder schon eine klare Grenzüberschreitung? Für Reality-TV ist es ein Spiel, diese Grenzen auszutesten. Für die Zuschauer:innen ist es ein moralisches Dilemma zu entscheiden, was für sie noch in Ordnung geht und was nicht.
Eine nicht zu verteidigende Grenzüberschreitung
Wie weit zu weit ist, lässt sich manchmal ganz einfach beantworten. In der vierten Staffel der US-amerikanischen Produktion „Bachelor in Paradise“ soll eine Teilnehmerin zu betrunken gewesen sein, um einem sexuellen Akt mit einem anderen Kandidaten zuzustimmen. Die Produzent:innen sollen nicht eingeschritten sein. Sexuellen Missbrauch zu billigen für „spannende“ Bilder – eindeutig eine nicht zu verteidigende Grenzüberschreitung.
Nach einer Anzeige kam es zu einem Produktionsstopp und einer internen Untersuchung, die zu dem Schluss kam, dass der Produktion kein Fehlverhalten zuzuweisen sei. Die Szene wurde nicht ausgestrahlt.
Das Geschilderte ist ein Extremfall. Doch auch in deutschen Produktionen geht es manchmal zu weit. 2019 wurde Claudia Obert in der Sat1-Produktion „Promis unter Palmen“ so sehr von ihren Mitstreiter:innen gemobbt, dass sie die Sendung freiwillig verließ. Der ProSiebenSat.1-Vorstand Wolfgang Link sagte danach in einem Interview, dass die Sendung nicht zu weit gegangen sei. Viele widersprachen ihm. Unter anderem der Verein Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen. Dieser hatte nach einer Prüfung entschieden, dass die Folge nicht zur Primetime hätte ausgestrahlt werden dürfen und aus der Mediathek verschwinden muss.
In zwei Texten widmen wir uns zwei wesentlichen Fragen rund um das Fernsehfaszinosum Reality-TV:
Warum schauen sich Menschen sogenannte Trash-Formate überhaupt an?
Und wie viel Grenzüberschreitung darf gezeigt werden und wer trägt die Verantwortung dafür?
Die aktuelle Staffel „Sommerhaus der Stars“ scheint das noch einmal zu übertrumpfen. Dort wird gespuckt, Frauen werden als „Fotze“ beleidigt und gemobbt. Während vielen Reality-TV-Fans es hier zu weit geht, ist die Sendung bei anderen gerade deswegen so beliebt. Das größte Mobberpärchen, den ehemaligen Bachelor Andrej Mangold und seine Freundin Jenny Lange, ist die Sendung jetzt zwar los. Doch das eigentliche Problem bleibt bestehen.
Wer trägt dafür die Verantwortung, dass „erfolgreiches“ Mobbing, Missbrauch und Beleidigungen im Fernsehen gezeigt werden? Die Kandidat:innen, die Produzent:innen, der Sender? Sie alle – und auch die Zuschauer:innen. Solange die Sendungen weiterhin so erfolgreich sind, werden wohl weitere Grenzen ausgetestet – und überschritten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen