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Familienratgeber auf Social MediaScrollen, liken, erziehen

Auf Instagram boomen Momfluencerinnen wie Nora Imlau mit Erziehungsratschlägen. Wann sind Tipps hilfreich – wann führen sie zu Perfektionswahn?

Der Account „kakaoschnuten“ zeigt auch den unperfekten Alltag mit Kindern Foto: Cavan images/imago

Wie geht es Dir?„steht auf einem Foto, das Nora Imlau auf ihrem Instagram Account hochgeladen hat. „Entdecke die Energieampel“, ist in der Beschreibung darunter zu lesen. „Eine einfache und kraftvolle Methode, um dein emotionales Wohlbefinden zu checken – lerne, wie du deine Ressourcen sinnvoll einsetzen kannst. #Selbstfürsorge.

Ein Beispiel für die Umsetzung wird gleich mitgeliefert. Stichwort Brotdose. Steht die Ampel auf Rot? Dann bitte jemand anderen, das Frühstück zu übernehmen. Orange? Brezeln vom Bäcker in der Papiertüte. Grün? Ausgestochene Gurkenscheiben und Minipfannkuchen. 3.361 Likes hat der Beitrag bekommen.

„So ein toller Input. Werde ich direkt einbauen <3“, schreibt die Nutzerin „singletasking_mama“ in den Kommentaren. „Ich lebe größtenteils in Orange“, gibt „mutternatur“ zu. Und „milchquatsch.mit.miri“ teilt der Community mit, dass sie heute Morgen schon in Rot aufgewacht sei. „Irgendwann hab ich ’ne Stunde mit dem Kind zusammen geweint. Dann ging’s halbwegs.“

Gut 150.000 Menschen folgen Nora Imlau auf Instagram, etwa 120.000 sind es bei „mamiplatz“ und über 53.000 verfolgen, was auf dem Kanal „kakaoschnuten“ passiert. Die drei Influencerinnen stehen für unterschiedliche Familienaccounts auf Instagram. Da sind zum einen Leute wie Nora Imlau, die Erziehungstipps geben und Wissen über bindungsorientierte Erziehung teilen.

Dann gibt es Momfluencer wie Saskia Brecht, die ihre Community auf dem Kanal „mamiplatz“ an ihrem Familienleben teilhaben lässt – und dabei auch Produkte präsentiert. Erfolgreich sind außerdem Accounts wie „kakaoschnuten“ von Katja Breuer, die den unperfekten Alltag mit ihren Kindern zeigt, aber auch mal ein Video zu Mamagesundheit hochlädt.

Wie kann ich Grenzen setzen?

Familienaccounts sind auch deshalb so erfolgreich, weil Eltern in sozialen Medien Rat suchen. Sie wollen wissen, wie sie damit umgehen, wenn ihre Kinder Wutausbrüche haben, rebellieren, starke Emotionen zeigen. Sie fragen sich: Wie kann ich Grenzen setzen? Und dabei meine eigenen wahren?

Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff hatte Ende der Nullerjahre eine simple Antwort: Kinder würden ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten terrorisieren, schrieb er in seinem Bestseller „Warum Kinder Tyrannen werden“, und verteidigte diese These bei Lanz, Jauch, Will & Co.

Seit Mitte Februar muss sich Winterhoff wegen gefährlicher Körperverletzung in 36 Fällen vor dem Bonner Landesgericht verantworten. Er soll Kinder in unsachgemäßer Weise Neuroleptika und Parkinson-Medikamente verschrieben haben – um sie, mit seinen Worten, „sozial ansprechbar“ zu machen.

Dass Winterhoff mit seinen autoritären Positionen medial so reüssieren konnte, zeigt, dass wir in einer Welt leben, in der es ein Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern gibt. In der Kinder vor allem dann wertgeschätzt werden, wenn sie die Erwartungen Erwachsener erfüllen. Die Frage, wie Kinder verantwortungsbewusst zu erziehen sind, treibt Eltern, Pädagoginnen und Wissenschaftlerinnen auch heute noch um – und Familien-Influencerinnen.

In der Ratgeberliteratur und im Netz kursieren inzwischen andere Erziehungsmethoden: Die bedürfnisorientierte oder bindungsorientierte Erziehung, bei der die Kinder und ihre Rechte, Bedürfnisse und Wünsche im Mittelpunkt stehen. Doch auch hier gibt es Fallstricke. Mütter und Väter stehen unter einem enormen Erwartungsdruck.

Über 500 Menschen verfolgen an einem Dienstagnachmittag im Dezember Imlaus Zoom-Workshop „Bindung ohne Burnout“. 8 Euro kostet das Einzelticket, 12 Euro für Paare. Heute wollen Eltern alles richtig machen, erklärt Imlau zu Beginn.

Es werde suggeriert, dass sie immer perfekt funktionieren müssten: Ihre Kinder liebevoll in den Schlaf begleiten, sie mit einer Morgenroutine wecken, Wutanfälle gelassen begleiten, eine Wollwalkjacke aus Biofasern kaufen, die Brotdose mit den richtigen Zutaten füllen.

Ich bin eine von euch

Imlau sagt: „Es ist wichtig, dass wir im Alltag lernen, wo wir stehen und wie es uns gerade geht.“ Das „wir“ signalisiert: Ich kenne die Situation. Ich bin eine von euch. Es gebe heutzutage unzählige Vorstellungen von guter Elternschaft, die in Podcasts und bei Familienfeiern verbreitet würden, sagt Imlau später. Und da suche man auf Instagram & Co nach Orientierung.

Die Leute würden sie scherzhaft „die Erziehungspäpstin“ nennen, erzählt Imlau und fügt hinzu: „Aber auch nur so halb scherzhaft, weil sie eine Ikone für ihre Elternschaft suchen und bei mir landen. Und das ist eine komplexe Rolle. Da gibt es natürlich Enttäuschungen. Es ist eine wahnsinnige Verantwortung.“

Auch Anna Meffert kennt Nora Imlau. Sie ist selbst Pädagogin, arbeitet an einer Grundschule in Rheinland-Pfalz und hat eine zweijährige Tochter. Warum sie Familienaccounts folgt? „Man hat das Gefühl, hautnah dabei zu sein“, sagt sie der taz.

„Aber das bist du ja eigentlich nicht, weil immer nur gewisse Informationen geteilt werden.“ Sie informiere sich auf Social Media über spezifische Themen: Babyschlaf, Ernährung oder Langzeitstillen. Vor allem beim Stillen habe sie von der Community profitiert: „Das empowert mich, in meiner Umgebung habe ich bis auf eine einzige Freundin niemanden, die ihr Kind länger stillt.“

Sie findet es „total cool“, dass es Frauen gebe, die sich „dafür stark machen und auch wissenschaftlich erklären, was gut daran ist“. Wobei man die wissenschaftliche Expertise immer genau prüfen müsse, denn prinzipiell könne sich ja jeder auf Instagram zur Expertin erklären. Nach einem langen Arbeitstag und anstrengender Care-Arbeit sei es entspannter, noch durch ein paar Social-Media-Accounts zu scrollen, als Ratgeber zu lesen.

In seiner Promotion „Warum Eltern Ratgeber lesen“ schreibt der Soziologe Christian Zeller, dass es seit den 1960er Jahren einen regelrechten Boom an Elternratgebern gab. Ein bedeutender Unterschied zu den Familienaccounts auf Instagram: Die Autoren waren damals Psychologen und Kinderärzte, Pädagogen und Neurowissenschaftler. Zwischen Experten als Ratgebern und Laien als Ratsuchenden gab es eine deutliche Trennung.

Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre sei es dann zu einem veränderten Selbstverständnis der Erziehungsexperten gekommen, schreibt Zeller in seiner soziologischen Studie. Ratgeber wurden nicht mehr „als starr umzusetzendes Set von Erziehungsregeln“ verstanden. Erst recht nicht nach dem Fall Winterhoff. Heute, so Zeller, würden Erziehungsratgeber vermehrt auf die erzieherische Co-Produktion zwischen Experten und Laien setzen.

Auf Social Media passiert das vor allem über das Teilen persönlicher Erfahrungen, an die Eltern anknüpfen können. Diese Personalisierung ist auch Teil der Marketingstrategie. Die meisten Influencerinnen verdienen mit ihren Accounts auch Geld.

Bedürfnisorientierte Erziehung

Die Social-Media-Kanäle sind ihre Erwerbsarbeit, mitunter auch als Vollzeitjob. Im Gegensatz zur frühen Ratgeberliteratur, die vor allem von Männern geschrieben wurde, sind auf Instagram überwiegend Frauen unterwegs – und erreichen viele Menschen. So wirbt Nora Imlau nicht nur für bedürfnisorientierte Erziehung, sondern auch für kostenpflichtige Onlineseminare.

Und Saskia Brecht von „mamiplatz“ bietet auf ihrem Instagram-Account nicht nur Einblicke in ihr Leben als Mama, sie bietet auch Produkte an, die den Familienalltag bereichern können. Die 34-Jährige wohnt in einer renovierten Dorfschule im Münchner Umland. An der Wand des historischen Gebäudes hängen Stringregale mit Kochbüchern von Yotam Ottolenghi, in einer Obstschale liegen Äpfel.

Bis zu neun Stunden verbringe sie an manchen Tagen an ihrem Smartphone, erzählt Brecht der taz. Gestern Abend habe sie im Bett noch einen Post für den nächsten Tag vorbereitet, heute Morgen schon 20 Nachrichten auf Instagram beantwortet, sagt sie, während Chihuahuahund Peppa an ihrer Leopardenjeans kratzt.

In ihrem Account steckt viel Arbeit. Neben Brechts Schreibtisch stapeln sich Werbeprodukte: eine Hundedecke, Colla­gen­pul­ver, Augentropfen. Ob sie alles bewerbe? Prinzipiell schon, sagt sie, wenn es sich sinnvoll mit Familieninhalten verbinden lasse. Das sei aber auch eine große Verantwortung: „Manche Familien nehmen ihr ganzes Geld in die Hand und investieren es in ein Produkt oder einen Urlaub, den ich empfohlen habe.“

Mütter, die ihre vermeintlichen Schwächen öffentlich zur Schau stellen

Viele Familienaccounts zeigen ein klassisches Familienmodell – Mutter, Vater, Kind(er). Aber auf Social Media gibt es auch Vielfalt. Eltern, die neurodivergente Kinder haben, in Patchworkfamilien leben, alleinerziehend sind oder Inhalte aus ihrem queeren Familienleben teilen. Besonders beliebt: Mütter, die mit ihrer Unperfektheit kokettieren. Inzwischen scheint es Teil des Erfolgskonzepts zu sein, sich selbst und seine Mutterrolle nicht ganz ernst zu nehmen.

So wie Katja Breuer, die auf ihrem Kanal „kakaoschnuten“ Familienalltag mit Elterntipps kombiniert. „Ich bin die Mutter, die ihre Kinder zocken lässt, damit sie in Ruhe Schokolade in der Badewanne essen kann“ steht in einem ihrer Posts. In dem dazugehörigen Video ist zu sehen, wie sie sich genüsslich ein Stück Schokolade in den Mund schiebt und schelmisch in die Kamera lächelt.

Auch solche Momfluencer trenden auf Instagram. Mütter, die ihre vermeintlichen Schwächen öffentlich zur Schau stellen und damit den Erwartungsdruck offenlegen, dem Eltern, insbesondere Mütter, täglich ausgesetzt sind.

Breuers Bio auf Instagramklingt deshalb auch wie eine moderne Anleitung zum Muttersein: „Irgendwo zwischen bedürfnisorientiert und Alltagswahnsinn. Zwischen Achtsamkeit und gezücktem Mittelfinger.“

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2 Kommentare

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  • Danke für den Artikel!



    Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass Nora Imlau nicht hauptsächlich Momfluencerin ist und deshalb Erziehungspäpstin genannt wird. Sehr schade, dass im Artikel mit keinem Wort erwähnt wird, dass sie vor allem eine herausragende Buchautorin, Kinderbuchautorin, Journalistin, Podcasterin und DIE Expertin für Familienthemen in Deutschland ist!



    Sie spricht in ihren Werken alle Menschen sehr wertschätzend an und spricht auch besonders neurodivergente Elternteile und Kinder an! Ihre Expertise, ihre sehr gut recherchierten Arbeiten und ihre Erfahrungen als vierfache Mama, machen sie zur wichtigsten Expertin für bindungsorientierte Elternschaft in Deutschland!



    Ihre Bücher ( und Hörbücher für müde Eltern!) wie „Bindung ohne Burnout“, „Meine Grenze ist dein Halt“, „So viel Freude, so viel Wut“ und viele mehr, sowie ihre wunderbaren Kinderbücher (auch sehr wertvoll für Erwachsene!!) sollten in jeder Familie oder Einrichtung mit Kindern gelesen werden!



    Nora Imlaus Arbeit ist so unfassbar wichtig, unterstützend, augenöffnend, wertfrei und bereichernd für alle Menschen, die mit Kindern zu tun haben!



    Und Balsam für die Seelen für sehr viele Eltern und Kinder ♥️

  • In erster Linie ist Nora Imlau eine großartige Autorin, ich finde es schade, dass dies mit keinem Wort erwähnt wird.



    Außerdem geht es bei bedürfnisorientierter Erziehung nicht darum dass die Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen, sondern darum auf die Bedürfnisse von Eltern und Kindern gleichermaßen zu achten. Auch das finde ich schade, dass im Artikel nur die verdrehte Sichtweise zur Sprache kommt.