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Familienfilm von François OzonNiemand hier bereut ein schwieriges Leben

François Ozon spielt in „Wenn der Herbst naht“ mit leichter Bosheit Formen der Wahlverwandtschaft durch. Mit neuen Rollenmodellen für ältere Frauenfiguren.

Mit Liebe gesammelte Pilze: Michelle (Hélène Vincent) beim Kochen in „Wenn der Herbst naht“ Foto: Weltkino

Zu älteren Damen kennt das Kino allerlei Klischees. Geht es um „Omas“, dann haben sie eine Schwäche für niedliche Enkel, die sie in altmodischen Küchen mit selbst zubereiteten Speisen verwöhnen. Aus dem Partnerinnenalter sind sie meist (aufgrund von Verwitwung) heraus, stattdessen sitzen sie allein, manchmal einsam zu Hause; zuweilen tun sie sich mit anderen übriggebliebenen Damen zusammen, um Ältere-Damen-Dinge zu unternehmen (Gesellschaftsspiele, Spaziergänge, Handarbeiten).

Selten, aber legendär sind sie als scharfsinnige Kriminalistinnen („Miss Marple“), als spleenige Mörderinnen (Frank Capras ­„Arsen und Spitzenhäubchen“, 1944) oder als schrullige Vermieterinnen für Gangster und/oder Detektive (Alexander Mackendricks „Lady­killers“, 1955, Mrs. Hudson in „Sherlock ­Holmes“).

Der Film

„Wenn der Herbst naht“. Regie: François Ozon. Mit Hélène Vincent, Josiane Balasko u. a. Frankreich 2024, 102 Min.

Für den traditionellen Prototyp der älteren Dame in der Erzählung zeichnen über die Grenzen Deutschlands hinaus die Brüder Grimm verantwortlich – sie waren es, die Waldhäuschen, Einsamkeit und Suppentopf mit fragwürdigem Inhalt in der klassischen Märchenhexe zusammenbrachten.

Die Figur, die der Regisseur und Drehbuchautor François Ozon sich für seinen Film „Wenn der Herbst naht“ erdacht hat, scheint einige der genannten Boxen zu ticken: Michelle (Hélène Vincent) lebt allein in ihrem von saftigen Wäldern umgebenen, pittoresken Häuschen im malerischen Burgund.

Zwei Freundinnen beim Pilzesuchen

Wenn sie sich mit ihrer langjährigen Freundin Marie-Claude (Josiane Balasko), einer gleichaltrigen Frau aus dem Dorf, zum Pilzesuchen trifft, steckt sie ihr ergrauendes Haar sorgsam zu einer praktisch-eleganten Hochfrisur zusammen, wickelt sich in eine Weste, und nimmt vorsichtshalber ein Pilzbestimmungsbuch mit.

Die Hinweise, dass etwas an der Idylle nicht stimmt, kann man suchen wie Pilze

Das Schönste für Michelle sind jedoch die Besuche ihres geliebten Enkels Lucas (Garlan Erlos), mit dem Michelles Tochter Valérie (Ludivine ­Sagnier) viel zu selten aus Paris kommt. Sind die beiden vor Ort, dann gibt es gutes Essen im Wohnzimmer, in dem jedes Schondeckchen am richtigem Platz liegt; und Waldspaziergänge in rührender Oma-Enkel-Harmonie.

Dass etwas an der Idylle nicht ganz stimmt, darauf versteckt Ozon schon früh in seinem Film Hinweise, die man suchen muss wie Pilze. Einige davon wachsen an der Oberfläche, andere kann man (wie den Speisemorchel) im Verborgenen finden: Michelles Vergangenheit ist ungewöhnlich – sie und Marie-Claude haben einst als Prostituierte in Paris gearbeitet, ihre Kinder brachten sie während dieser Zeit allein durch.

Vergiftetes Pilzgericht

Aber ist es das, was das Verhältnis zwischen der missmutigen Valérie und ihrer Mutter permanent trübt? Wofür saß Vincent (Pierre Lottin), der erwachsene, finanziell stets klamme Sohn von Marie-Claude, im Gefängnis? Wieso vertraut ihm Michelle so sehr, dass sie ihn bei sich als Gärtner arbeiten lässt? Und wie kann es sein, dass sich trotz Michelles Vorsicht anscheinend doch ein falscher Pfifferling oder ein Gallenröhrling oder vielleicht ein giftiger Kartoffelbovist in das liebevoll zubereitete und sorgfältig geprüfte Pilzgericht verirrt haben muss!?

Valérie wird nach einem gemeinsamen Essen nämlich mit einer Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert und wirft ihrer Mutter danach Tötungsabsichten vor. Zu ­Michelles Entsetzen droht sie sogar, Lucas von seiner Oma fernzuhalten. Doch das Schicksal in Form von Michelle, Vincent und vielleicht auch Marie-Claude scheint es anders zu meinen. Denn kurz darauf geschehen Dinge, die das Leben aller Beteiligten verändern – zum Teil sogar beenden.

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Im Verlauf der Geschichte lockern sich Familienverbunde, während sich andere festigen. Eine glückliche Familie, so ließe sich Ozons moderne und furios unethische Botschaft interpretieren, besteht jedenfalls nicht unbedingt aus einer Gruppe von biologisch miteinander Verwandten. Sondern aus Menschen, die das tolerante Miteinander aktiv gewählt haben. Und diese Wahlbeziehungen dürfen auch über Leichen gehen. Denn wer sagt denn, dass Eltern-Kind-Beziehungen immer das Nonplusultra sein müssen?!

Märchenhaft-herbstliche Bilder

Zu viel über die Story von Ozons Tragikomödie zu verraten, würde ihren Genuss schmälern. Jener Genuss entsteht neben der doppeldeutigen Botschaft und märchenhaft-herbstlichen Bildern vor allem aus der Spielfreude der Schauspieler:innen: Die fast 82-jährige Hélène Vincent interpretiert ihre Figur Michelle mit nonchalanter Genauigkeit und stellt deren Älterwerden (der Film erzählt einen Zeitraum von einem Jahrzehnt) mit überzeugendem Selbstbewusstsein dar. Irgendwann ist Michelles Schopf komplett weiß, fast unmerklich verändert sich auch ihr Gang – ihr Glaube an Selbstbestimmung dagegen ist ungebrochen.

Pierre Lottin als undurchschaubarer, in seiner vermeintlichen Kälte bewusst einfältig angelegter Vincent balanciert an der Grenze zwischen Retter und Schurke, Ludivine ­Sagnier als bockige Tochter führt sämtliche Bewegungen mit einer unterschwelligen Wut aus, die neugierig macht.

Und wenn Josiane Balasko alias Marie-Claude in ihrer praktischen Steppjacke durch die Brille lugt, dann konterkariert das mit einem Bild die Vorstellung zu Ex-Prostituierten, die bei vielen Menschen vorherrschen mögen: Hier bereut niemand ein schwieriges Leben, hier ist man einfach stolz darauf, sich durchgekämpft zu haben.

Dass die Toleranz Ozons gegenüber Beziehungsmöglichkeiten Heteroklischees sprengt, versteht sich. Ältere Damen im Film haben eben einiges zu bieten. Auch wenn man bei ihrem Pilzragout aufpassen sollte.

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