Falsche Freihandels-Versprechungen: TTIP kann zum Jobfresser werden
Jede Menge neue Arbeitsplätze solle das Freihandelsabkommen von EU und USA bringen, hieß es bislang. US-Forscher sagen etwas anderes.
BRÜSSEL taz | Das umstrittene Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) könnte zu Wachstumseinbußen führen und Arbeitsplätze vernichten. Allein in Deutschland könnten nach der geplanten Liberalisierung 124.000 Jobs verloren gehen. Zu diesem Ergebnis kommen US-Forscher der Tufts-Universität in Boston.
Die Studie widerspricht diametral den optimistischen Annahmen der EU-Kommission. Auch für Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ist sie ein Dämpfer. Dieser hatte am Montag die neue EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström in Berlin empfangen und erneut für eine Liberalisierung des Handels geworben. Dabei war deutlich geworden, dass er den umstrittenen Investorenschutz für nicht mehr zu verhindern hält.
Die Gespräche für TTIP waren 2013 mit dem Versprechen gestartet, der transatlantische Freihandel werde das Wachstum beleben und neue Arbeitsplätze schaffen. Die EU-Kommission legte eine Studie vor, nach der die Wirtschaft nach dem Wegfall aller Handelsschranken um 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung schneller wachsen würde. Eine EU-Durchschnittsfamilie werde 545 Euro zusätzlich verdienen.
Deutsche Arbeitnehmer verlieren 3.400 Euro
Dem widersprechen nun die Forscher aus Boston. Familie Mustermann würde durch TTIP nicht etwa Einkommen gewinnen, sondern verlieren, prognostizieren sie: 3.400 Euro könnte ein Arbeiter in Deutschland weniger in der Tasche haben, um 5.500 Euro könnte das Einkommen in Frankreich schrumpfen.
Auch die von TTIP besonders begeisterten Länder Nordeuropas sowie Großbritannien würden zu den Verlierern gehören. Ihre Arbeiter würden 4.800 beziehungsweise 4.200 Euro einbüßen. Zudem könnten die Netto-Exporte zehn Jahre nach Einführung von TTIP um bis zu 2 Prozent zurückgehen.
Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Während die EU-Kommission noch 2012 einen Aufschwung prognostizierte – was sie mittlerweile revidiert hat –, gehen die US-Amerikaner davon aus, dass der Austeritätskurs in der EU fortgesetzt wird und das Wachstum auf beiden Seiten des Atlantiks schwach bleibt.
Flexibles versus statisches Rechenmodell
Außerdem verwenden sie für ihre Studie ein anderes Modell. Ihre Berechnungen beruhen auf dem „Global Policy Model“ der Vereinten Nationen, das speziell für alternative Szenarien in der Wirtschafts- und Handelspolitik entwickelt wurde. Dabei werden sogenannte Spill-over-Effekte, also Wechselwirkungen, berücksichtigt. Die EU neigt hingegen eher zu statischen Modellen.
Sollten sich die neuen Simulationen bewahrheiten, würde TTIP zu mehr finanzieller Instabilität und sogar zu einer „wirtschaftlichen Desintegration“ führen, warnen die US-Forscher. Es sei falsch, wenn man versuche, das Wirtschaftswachstum während einer Krise anzukurbeln, indem man den Handel ausweite. Das führe nur zu höherem Druck auf die Einkommen.
Pech für Gabriel – schließlich präsentiert er TTIP und Ceta neuerdings gern als Trumpf für die Arbeitnehmer. Der SPD-Chef hat seine Haltung sogar eng mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund abgesprochen. Freuen dürfen sich hingegen die Kritiker des Freihandels. Sie hatten am Montag Klage vor dem höchsten EU-Gericht in Luxemburg eingelegt, um die Zulassung einer Bürgerinitiative gegen TTIP zu erzwingen. Die US-Studie dürfte ihnen nun neuen Zulauf bringen – und neue Argumente.
Leser*innenkommentare
Gabriel Renoir
Dass mehr Handel Wirtschaftswachstum bringt, sieht man schon am verringerten Wachstum aufgrund des verringerten Handels mit Russland. Man nehme den Schwachsinn grundsaetzlich unterschiedlicher Computertastaturen. Das gehort zB vereinheitlicht. Wieso ist das Z und das Y vertauscht? Reiner Schwachsinn. Wenn Dinge billiger werden (groessere Serie), vergroessert sich der Markt.
Ute Krakowski
@Gabriel Renoir Noch selten so ein be ... scheidenes Argument gelesen...
Velofisch
Das eine kann richtig sein ohne dass das andere falsch ist. Eine Industrie, die in ein anderes Land exportiert, schrumpft, wenn der Handel dorthin eingeschränkt wird. Dagegen würde sich eine Industrie, die Produkte produziert, die russische Produkte ersetzt, nur langsam aufbauen. Zudem gibt es wenig Industrieprodukte, die Russland exportiert - es geht also vor allem ein Markt verloren.
Die Sache mit den Computertastaturen hat übrigens etwas mit der Sprache zu tun. Deutsch lässt sich eben doch einfacher tippen, wenn die Tastatur auch Umlaute anbietet ;-)
Daneben sind die Stückzahlen bei Tastaturen schon so gross, dass eine weitere Vereinheitlichung nur noch geringste Effekte generieren würde.
Aber wir könnten ja überlegen, die deutsche Sprache abzuschaffen und alle nur noch Englisch zu kommunizieren - das spart sicherlich sehr! ;-)
Gabriel Renoir
@Velofisch Wachstum durch Handel funktioniert so, das interessantere Dinge angeboten werden, d h mehr Nachfrage geschaffen wird. Wenn zB nur Trabbi und Wartburg produziert werden wie in der DDR, fahren eben keine Mercedese und Porsche rum. Dasselbe gilt fuer die verfuegbaren Buecher in der DDR, oder die Schwierigkeit, Unterwasserpumpen fuer 200 Meter tiefe Tiefbrunnen in Afrika zu kaufen, wenn es 1000 Standards weltweit gibt, und man nicht weiss, ob man Schrott oder Qualitaet in das Rohr runterlaesst. Noch komplizierter wird es, wenn man eine Solarpumpe dafuer moechte, denn dann variiert alles, von den Panelen, zur Voltzahl, zum AC/DC der Pumpen (also Standards vereinheitlichen wie durch TIPP). Ohne Vereinheitlichung stellt man sich eben einen stinkenden Dieselgenerator hin, da weiss man, was man hat (Stichwort: Hoehere Innovationsgeschwindigkeit durch TIPP).
Ute Krakowski
Winzig kleiner Lichtblick ist, dass diese Studie aus USA kommt und daran erinnert, dass auch dort das Abkommen kritisch hinterfragt wird. Dumm nur, dass in USA vernünftige Menschen genauso wenig Gehör finden wie auf unserer Seite des Teichs. Obamas Schlappe verstärkt vermutlich auch den Druck zur Durchsetzung von TTIP. Und leider werden wir von dieser unsäglichen GroKo regiert, der unser Wohlergehen ziemlich schnurz-piep egal ist.
Andreas_2020
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) interessiert diese Studie nicht, wie ihn überhaupt alles kalt lässt, was man länger lesen muss und was seinen durchweg neo-liberalen Ideen widerspricht.
Der Neoliberalismus ist ja auch nur dewegen so erfolgreich, weil seine Protagonisten seit Jahren ignorieren, was ihnen immer häufiger fein-sachlich recherchiert vor die Nase gelegt wird: Nichts ist so, wie versprochen. Der Neoliberalismus isst Wohlstand der unteren Schichten auf.
Das war schon bei der Schaffung des EU-Binnenmarkts der Fall - seine Verheißungen niemals erfüllten sie nie. Im Gegenteil die weggefallenen Arbeitsplätze in Exportabteilungen, an Grenzübergängen und die Nebeneffekte haben deutlich mehr Arbeitsplätze vernichtet, als neue geschaffen.
Warum belassen wir es nicht dabei: Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen gar kein Ziel von Regierungen in Europa oder den USA ist?
Siegmar Gabriel will doch gar keine Vollbeschäftigung. Das Hartz-Gesetz unterstellt das zum Beispiel und behauptet, dass jeder Menschn jederzeit sofort arbeiten kann.
Das ist nachweislich nicht richtig, aber trotzdem verfechten SPD, Union, FDP und die Grünen diesen Satz. Genauso werden sie auch weiterhin beim TTIP rumlügen und den Menschen vollkommen falsche Versprechungen und Verheißungen machen. Nach ein paar Jahren kommt die nächste Studie und bestätigt diese jetzt vorliegende Studie.
vjr
Man müsste, endlich, auch nördlich des Rheins, auch über solche Dinge abstimmen können, und zwar zwingend und verbindlich:
zum Thema »Bundesweiter Volksentscheid« (nördlich des Rheins)
- http://volksentscheid.de
(z.Z. leider etwas »eingeschlafen«*)
zum Thema »Politische Rechte« (südlich davon, seit den 80ern Nördlich inspirierend):
- http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10368.php
- http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/f/F10368.php
- http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/i/I10368.php
(de, fr, it)
---------
*) hier kann man fragen warum:
http://www.mehr-demokratie.de/vorstand.html
vjr
Danke, ziemlich interessant! -- hier noch die Links:
---------
TTIP: European Disintegration and Other Consequences
- http://ase.tufts.e...P_simulations.html
The Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership:?
European Disintegration, Unemployment and Instability?
Jeronim Capaldo?
GDAE Working Paper 14-03
?October 2014?
Download the Working Paper
- http://ase.tufts.e...03CapaldoTTIP.pdf?
Download the Executive Summary
- http://ase.tufts.e...CapaldoTTIP_ES.pdf
---------
GDAE Global Development and Environment Institute
of Tufts University
- http://ase.tufts.edu/gdae/
1714 (Profil gelöscht)
Gast
Das alles wird unseren phantastischen Wirtschaftsminister nicht kümmern. Er wird diese Studie abqualifizieren und er wird TTIP mitsamt dem Investorenschutz durchsetzen. Er ist so verblendet, nicht mal zu erkennen, dass Merkel sich aus dem Gezeter heraushält um den schwarzen Peter Gabriel und der SPD zuspielen zu können, wenn wirklich klar wird, wem allein das alles nutzt: der CDU/CSU Klientel. Und die Gewerkschaften? Das sind in ihren Strukturen total erstarrte Apparatschicks die stereotyp nachplappern, was von interessierter Seite vorgesungen wird: TTIP schafft Arbeitsplätze! Solange sich die Gewerkschaftsbosse mit Maßanzig, Schlips und Kragen von ihren Chauffeuren zu Kundgebungen fahren lassen und nicht am Fließband oder an der Schüppe die bitteren Erfahrungen des kleinen Mannes sammeln müssen, so lange wird sich nichts ändern. Uns steht eine schlimme (!!) Zukunft bevor ...