Fakten im Journalismus: „Die einen sagen so, die anderen so“
Immer öfter zitieren Medien Expert*innen, um Fakten darzustellen – die dadurch wie Meinungen klingen. So können wir autoritäre Albträume nicht verhindern.
J edes Bild, jeder Text, ja jeder Satz ist Teil des Kampfes um die Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Sagen, was ist“ war schon immer ein etwas pathetischer und keineswegs widerspruchsfreier Selbstauftrag des Journalismus. So gut es eben geht, die empirisch nachprüfbare Realität abzubilden, ist aber keine schlechte Idee. So kann Journalismus mithelfen, eine allgemein anerkannte Diskussionsgrundlage über Welt und Wirklichkeit zu erschaffen.
Anhand derer ließe sich zum Beispiel zügig klären, ob jene Probleme, die so gern von Politiker*innen als die drängendsten dieser Zeit beschrieben werden, nur in deren Fantasie stattfinden oder tatsächlich die Existenz des Abend- und sonstiger Länder gefährden. Dann wäre eventuell deutlicher, dass nicht ein halluzinierter Migrationsnotstand, sondern die menschengemachte Klimakatastrophe die wichtigste Herausforderung unserer Generation ist.
Doch unter dem missverstandenen Banner der Objektivität hat sich bei vielen Journalist*innen ein von nachlässiger Gleichgültigkeit geprägtes Berufsethos breitgemacht. Statt zu recherchieren, „was ist“, wird der Fakt durch Dritte bewertet und so zur Nachricht. Oder noch schlimmer: Die Behauptung frei erfundener Tatsachen ist Berichtsgegenstand. Diesen permanenten Großangriff auf die Gesamtwahrnehmung der Realität kann auch kein Fact-Checking abwehren. Das ist ohnehin inzwischen zur zeitraubenden Müllabfuhr unbelegter Propaganda geworden.
Unter diesen Bedingungen ist es nur arbeitsökonomisch, statt mit Recherche ein realitätsbasiertes Weltbild zu verteidigen, einfach das Mikrofon in die Landschaft zu halten: „Die einen sagen so, die anderen so.“ Diese distanzierte Objektivität illustriert die Abwesenheit einer eigenen Haltung, ist dabei aber selber eine – stilprägend ist sie noch dazu. Selbst in allerkleinsten, unstrittigen Punkten schleicht sich da eine schon völlig automatisierte Distanzierung vom Faktischen ein.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Das schafft sogar die „Tagesschau“ in einem Beitrag von Samstag: „Eine von der New York Times zitierte Expertin sagte, es sei das erste Mal seit 60 Jahren, dass der Präsident sich ohne Einwilligung eines Gouverneurs der Nationalgarde eines Bundesstaats bemächtigt.“ Hier wird zur Darstellung einer historisch überprüfbaren Tatsache ein Zitat aus einem anderen Medium zitiert. Es ist seltsam, dass das Leitmedium des deutschen Nachrichtenjournalismus nicht im eigenen Archiv nachschaut, wann ein US-Präsident das letzte Mal so handelte.
Das mag wie eine lässliche Petitesse aussehen, ist aber Symptom eines größeren Problems und kann uns sogar im konkreten Fall auf die Füße fallen. Im nicht ganz unwahrscheinlichen Fall nämlich, wenn irgendeiner der Trump-Höflinge über die immer aufnahmebereiten Mikrofone verbreitet, dass mehrere Präsidenten in den vergangenen Jahrzehnten ähnlich gehandelt hätten. Wird das dann auch so zitiert? Oder ist das zu offensichtlich?
Und gehen Medien dann auch so mit anderen Fragen um? Etwa bei der, ob die Zurückweisungen an innereuropäischen Grenzen legal sind? Ob es einen Wärmepumpenzwang gibt? Arbeitslose faul sind? Es draußen regnet?
„Die einen sagen so, die anderen so“? Das wird nicht genügen, um das kommende autoritäre Albtraumland zu beschreiben, geschweige denn es zu verhindern.
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