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FIND-TheaterfestivalAuch im Intimsten sitzt die Gesellschaft

Beim FIND-Festival für zeitgenössische Dramatik sind Stimmen von Menschen zu hören, die sonst im Schatten der großen Ereignisse stehen.

Unter viel Druck arbeiten Näherinnen am königlichen Hochzeitskleid: Szene aus „Lacrima“ Foto: Jean Louis Fernandez

Der wallonische Schauspieler Cédric Eeckhout beginnt „Du bist …“, dann hält er inne. Er trägt ein langes rotes Ballkleid mit paillettenbesetzten Spaghettiträgern und leicht verschmierte, dicke Kajalstriche unter den Augen. Langsam lässt er seinen warmen Blick von rechts nach links über alle Zuschauerreihen gleiten. Er lässt sich Zeit, will mit jedem Einzelnen eine Verbindung aufbauen. Als er mit der Person direkt vor sich Augenkontakt aufnimmt, wird sein Lächeln intensiver – und er beendet seinen Satz: „… eine Heldin.“

Um diese Heldin, die in der ersten Reihe vor Eeckhout sitzt, dreht sich in diesem Theaterstück alles. Es ist Jo Libertiaux, Eeckhouts 79-jährige Mutter. Und es ist ein bewegender Moment an diesem Samstagnachmittag in der Nebenspielstätte Ku’damm 56 der Berliner Schaubühne. Einige Zuschauer wischen sich diskret über die Augen.

Gerade noch stand Libertiaux mit ihrem Sohn vor dem Publikum. Gemeinsam haben sie, begleitet von der Musikerin Pauline Sikirdji, mit wenigen Requisiten, Film- und Fotoprojektionen ihr Leben erzählt. Unsentimental, ehrlich und gerade auch deshalb zutiefst berührend.

Politische Erkundung des Privaten

„Héritage“ heißt das autobiografische Stück von Cédric Eeckhout. Zu sehen ist es auf dem diesjährigen FIND-Festival der Schaubühne, dem großen internationalen Theaterfestival für zeitgenössische Dramatik in Berlin.

Dieses Jahr sind Inszenierungen aus Frankreich, Belgien, Irland, Spanien, den USA und Kirgisien eingeladen. Fast alle sind zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Kuratorischer Leitfaden sei in diesem Jahr die politische Erkundung des Privaten, steht in der Programmzeitung. Erkundet werden soll, welche Spuren gesellschaftliche Umbrüche in unseren intimsten Beziehungen hinterlassen.

Ein fruchtbarer Ansatz, wie das Eröffnungswochenende zeigt. Zu Gehör gebracht werden ausschließlich Stimmen von Menschen, die im Schatten der großen Ereignisse stehen. Und deren Existenzen natürlich trotzdem davon geprägt sind.

Das Stück „Héritage“ ist dafür exemplarisch. Das Leben der 1945 geborenen Jo Libertiaux wirkt auf den ersten Blick eher konventionell: Mit 19 Jahren heiratet sie einen Elektriker und bringt vier Söhne zur Welt. Das erarbeitete Geld gibt sie für ein Eigenheim, Reisen, schöne Kleider und modernste Haushaltsgeräte aus. Ob sie von der 68er-Revolte gehört habe, fragt Eeckhout seine Mutter an einer Stelle im Stück. Doch, schon, sagt sie. Aber sie habe andere Ziele gehabt. Ob sie nicht die Welt verändern wollte? Nein, ist ihre ehrliche Antwort.

Ein bisschen mehr Frau sein

Und doch lebt in ihr ein libertärer Geist. Die Alltagsrepressionen, die die Ehe für Frauen in den 60er Jahren bedeutet, das patriarchale Verhalten ihre Ehemanns – irgendwann reicht es Libertiaux. Mit 37 Jahren lässt sie sich scheiden. Gesellschaftliche Stigmatisierung und finanzielle Nöte erträgt sie mit eisernem Willen und baut sich und ihren vier Söhnen ein neues Leben auf.

Für sie würde keine Statue gebaut, keine Straße und kein Platz würde nach ihr benannt, sagt Eeckhout am Ende des Stücks, und doch habe ihr Leben die Geschichte vorangetrieben. Seine auf jeden Fall. Denn obwohl er ein Mann sei und Männer liebe, sei es ihm dank des Vorbilds seiner mutigen Mutter möglich, ein bisschen mehr Frau zu sein. Politischer kann das Private kaum sein.

Um eine ganz andere Mutterfigur geht es in der jüngsten Inszenierung des Schweizer Regisseurs Milo Rau am Freitagabend im großen Saal der Schaubühne. Rau, der für seine provokanten theatralen Zugriffe auf aktuelle politische Themen bekannt ist, verknüpft darin den antiken Medea-Mythos vom Kindsmord der betrogenen Mutter mit einem realen belgischen Kriminalfall: 2007 hat in der Kleinstadt Nivelles eine Mutter ihre fünf Kinder im Alter von drei bis vierzehn Jahren mit geradezu mathematischer Systematik ermordet.

Auch Rau rückt für seine Inszenierung marginalisierte Stimmen ins Zentrum, und zwar die der verletzlichsten und machtlosesten Mitglieder jeder Gesellschaft: Er lässt die Geschichte auf der Bühne bis auf eine Erwachsenenrolle von einem Kinderensemble erzählen. Und das auf eine Art, die so manchem im Zuschauerraum flau im Magen werden lässt.

Der Beginn der Inszenierung ist eigentlich ihr Ende: Sieben Stühle stehen vor dem heruntergelassenen roten Vorhang. Fünf Kinder zwischen acht und dreizehn Jahren kommen zu einer gespielten Nachbesprechung auf der Bühne. Moderator und einziger Erwachsener auf der Bühne ist der Schauspieler Peter Seynaeve.

Selten wurden Kindermorde mit so viel realistischer Vehemenz gezeigt

Die Kinder erzählen, wie es ihnen während der Aufführung ergangen ist – und kommen darüber ins reale Nachspielen der Geschichte und am Ende der Morde. In einem für Rau typischen Reenactment stellen die Kinder die brutalen Tötungen aller fünf Kinder nach. Minutenlang, gefühlt stundenlang. Mit verzweifelten Schreien, Röcheln und literweise Theaterblut. Alles mit der Handkamera gefilmt und in Großaufnahme live auf die Bühnenrückwand projiziert.

Selten wurde die Grausamkeit von Kindermorden mit so viel realistischer Vehemenz auf die Bühne gebracht. Mehrere Zuschauer fallen in Ohnmacht, ein Theaterarzt muss gerufen werden, viele verlassen den Theaterraum. Raus Plan ist aufgegangen.

Doch seine Versuchsanordnung hat aus einem ganz anderen Grund einen seltsamen Beigeschmack. In den klassischen Tragödien seien die Kinder zum Schweigen verdammt, wird Milo Rau im Programmheft zitiert. In seinem Stück bekämen sie nun endlich eine Stimme. Ein ehrenwerter Ansatz.

Schuften für das Hochzeitskleid

Die Kinder auf der Bühne sind ungemein souverän, schlagfertig und schlau, aber auch irgendwie zu erwachsen für ihr Alter. Welches Kind sagt mit sieben Jahren schon Sätze wie: „Meiner Meinung nach wurde Aischylos nur von Beckett übertroffen“ oder: „Wer schreibt heute noch psychologische Dramen?“.

Werden die Kinder hier nicht doch wieder nur zum Medium eines starken künstlerischen Willens?

Am Sonntagabend, zum Abschluss des Eröffnungswochenendes, entwirft die französisch-vietnamesische Regisseurin Caroline Guiela Ngyuen dann noch ein ganz großes Tableau der marginalisierten Stimmen. Ihr 2024 entstandenes Stück „Lacrima“ erzählt von der Produktion eines Hochzeitskleides für das britische Königshaus. Oder besser gesagt: von den Menschen, die rund um den Globus acht Monate lang an diesem Traum in Weiß arbeiten.

Hunderttausende von Perlen werden aufgenäht, kunstvolle Spitze mit Fäden gestickt, die dünner sind als Haare – und das alles unter strengster Geheimhaltung. Der Anspruch ist hoch, der Druck ist groß. Eine Figur in der Erzählung wird davon am Ende in den Suizid getrieben.

Nguyen nutzt alle möglichen Kommunikationskanäle, um die Welt auf die Bühne des großen Saals der Schaubühne zu holen: Zoom-Konferenzen, Sprach- und Textnachrichten, Radiosendungen, Telefonate. In diesem rasanten epischen Erzählfluss verkommt die eine oder andere Figur zur Karikatur, auch die Grenze zum platten Luxusbashing ist immer wieder erschreckend nah – wird dann aber doch nie überschritten.

FIND-Festival

Festival Internationale Neue Dramatik 2025: Schaubühne,

bis 13. April

Vielmehr gelingt Nguyen das Kunststück, die Ambivalenz zwischen der Faszination von Perfektion und Schönheit einerseits und andererseits dem unmenschlichen Preis, den sie fordern kann, glaubwürdig darzustellen – und damit die Würde ihrer hart arbeitenden Figuren bis zum Schluss zu bewahren.

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