Expertin über Pflege in der Coronakrise: „Es ist der blanke Wahnsinn“
Schon vor Corona mangelte es an Pflegekräften. In der Pandemie kommt dazu, dass auch noch Schutzausrüstung fehlt, sagt Pflegeexpertin Ellen Fährmann.
taz: Frau Fährmann, wegen der Coronapandemie dürfen Menschen nicht mehr zwischen ihrem Zuhause in Polen und der Arbeit in Deutschland pendeln. Was bedeutet das für die Pflegedienste?
Ellen Fährmann: Wir haben ohnehin eine problematischen Situation, die noch verstärkt wird, da unsere Mitarbeiter von der polnischen Seite nicht mehr täglich kommen können. Das betrifft ambulante Pflegedienste genauso wie Intesivpflegedienste. Einige Mitarbeitende sind bei Kolleginnen und Kollegen oder in Unterkünften untergekommen. Doch unterm Stricht fehlen einfach zu viele Pfleger und wir haben Probleme, die Dienste abzusichern.
Dieser Personalmangel ist ein bundesweites Problem, dass in Grenznähe besonders ausgeprägt ist. Wie viele Mitarbeiter:innen fehlen bei Ihnen in Brandenburg?
Schwer zu sagen, aber 250 sind es sicherlich. Und es fehlen nicht nur einzelnen Personen. Zum Teil brechen komplette Intensivteams von fünf Personen weg. Das bedeutet Mehrarbeit für die, die noch da sind und da befinden wir uns schnell im Konflikt mit dem Arbeitszeitgesetz.
Wie lösen Sie diesen Konflikt?
Manche Pflegekräfte sagen, sie nehmen das mit der Arbeitszeit gerade nicht genau, aber es ist eine arge Problematik. Zwei Wochen durch zu arbeiten macht auch krank. Wir haben das dem Arbeitsministerium Brandenburgs mitgeteilt, doch von dort kam die saloppe Antwort: Dann muss man eine Lösung finden. Sicherherstellungsaufträge [also Aufträge, die die Pflege von Pflegebedürftigen sicherstellen. Anm. d. Red.] sollten eingehalten werden, sagt das Land, aber wie sollen wir das machen? Ich habe mir vom Ministerium mehr erhofft.
Was erwarten Sie denn vom Ministerium?
ist Pflegesachverständige und Vorstandsvorsitzende der Landesgruppe des Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) in Brandenburg.
Die Pflegeeinrichtungen müssen besser vor der Übertragung des Coronavirus geschützt werden. Wenn die Tür zu ist, muss die Tür zu bleiben! Es ist verständlich, dass Angehörige die Patient:innen sehen und bei schönem Wetter mit ihnen spazieren wollen, aber wir brauchen Vorschriften.
Es gibt doch aber Regelungen dazu, wer Angehörige unter welchen Umständen in Pflegeeinrichtungen besuchen darf?
Die sind schwammig und unterschiedlich auslegbar. Außerdem fehlen klare Regelungen dazu, ob demente Pflegebedürftige beispielsweise festgehalten werden dürfen. Das wäre wichtig, um alle zu schützen, gleichzeitig besteht dann unter Umständen aber der Tatbestand der Freiheitsberaubung. Ich möchte die Leute in meinen Einrichtungen nicht massenweise von Bestattern abholen lassen, weil Besuch erlaubt ist, demente Bewohner rausgehen oder es an Schutzmaterial fehlt.
Gibt es denn schon Materialengpässe?
Ja, und die Situation wird nicht einfacher. Die Einrichtungen versuchen Material zu bekommen, aber es liefert kaum noch jemand. Masken kriegen sie nirgendwo auf dem freien Markt. Ich bin nur noch am Zahlen jonglieren und hin und her rechnen.
Was fehlt?
Wir haben von einer Erdölraffinerie 650 Liter Desinfektion geschenkt bekommen und die verteile ich auf die Pflegeeinrichtungen. Damit kommen sie ca. 14 Tage hin. Vom Landkreis gab es ein bisschen Material. Ich habe 20 Schutzkittel, 1.100 Paar Handschuhe und 60 FFP2-Masken für 2100 Beschäftigte bekommen. Es ist der blanke Wahnsinn.
Sind selbstgenähte Masken eine Hilfe?
Wir nutzen alles, was wir können. Die Menschen haben Angst. Wenn man ohne Schutzkleidung kommt, dann verzichten die Pflegebürftigen im Moment lieber auf Hilfe, aber das kann es nicht sein. Inzwischen melden auch die ersten Pflegedienste: Wenn wir nicht mehr mit Hilfsmitteln versorgt werden, müssen wir die Versorgung einstellen. Wenn das passiert, dann haben wir die Büchse der Pandora aufgemacht.
Die Büchse der Pandora? Warum sind gerade die ambulanten Pflegedienste und die häusliche Pflege so entscheidend?
Es sind noch viel mehr Pflegebedürftige draußen und in den Heimen, als im Krankenhaus. Wenn wir die nicht versorgen können, würde das bedeuten, die Gepflegten müssten ins Krankenhaus. Das ist undenkbar. [Denn wegen Corona droht ohnehin schon eine Überlastung der Kliniken. Anm. d. Red. ] Die Pflege wird an den Rand gedrängt, dabei sind genau wir, die an der Front – die, die Risikogruppen versorgen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken