Experte über Long Covid: „Wirklich eine erkleckliche Zahl“
Viele Menschen leiden noch Jahre nach der Corona-Infektion unter Symptomen. Das wirkt sich auch auf den Arbeitsmarkt aus, sagt Markus Bassler.
taz: Herr Bassler, die Infektionszahlen sind aktuell sehr hoch, trotzdem rechnen Expert*innen auch mit einer weiteren Welle im Herbst. Was kann die Bundesregierung tun, um das einzudämmen?
Markus Bassler: Wir orientieren uns grundsätzlich an der Vorgabe des nationalen Ethikrates, vorrangig die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Die gegenwärtig ruhige Situation könnte sich hier im Herbst und Winter jedoch wegen der erwartbar steigenden Inzidenzzahlen rasch verschärfen. Erschwerend könnte dabei hinzukommen, dass die Leute nach ihrem Sommerurlaub möglicherweise mit neuen und gefährlicheren Virusvarianten als bisher zurückkehren.
Darum ist es wichtig, dass die Bundesregierung möglichst bald dafür sorgt, dass die derzeit bis zum 23. September gültigen gesetzlichen Rahmenbedingungen verlängert werden, damit die Länder sie individuell an ihre regionalen Situationen anpassen können. Darauf drängen eigentlich alle, die mit diesen Dingen fachlich vertraut sind und wissen, was da auf uns zukommen könnte.
Wahrscheinlich entwickeln dann auch noch mehr Menschen Long Covid. Viele fühlen sich damit nicht ernst genommen. Könnte man da mehr machen?
ist Jahrgang 1954, sein Fachgebiet ist die Psychosomatische Medizin mit dem Schwerpunkt Rehabilitation. Seit einigen Jahren ist er geschäftsführender Vorstand des „Institut für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung“ an der Hochschule Nordhausen und seit 2021 auch Sprecher und Koordinator des Expertenrats „Long-COVID“ am niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft.
Das ist sehr komplex, bisher wissen wir noch nicht genauer, wie hoch die Quote von Long Covid bei Omikron ist. Aber die wichtigste Anlaufstelle für Betroffene, und darüber sind sich alle einig, sollte der Hausarzt sein, der hier eine wichtige Art Lotsen-Funktion übernimmt. Dieser kann bei Fachärzten kurzfristige Termine bekommen, um dort spezielle diagnostische Fragen weiter abzuklären. Das Problem, was im Augenblick fachlich besteht, ist, dass es wahrscheinlich unterschiedliche Ursachen gibt und sich Symptome, die man von verschiedenen Krankheiten kennt, stark überlappen.
Manche dieser Beschwerden kann man diagnostisch nicht einfach, sagen wir mal, eindeutigen körperlichen Ursachen zuordnen. Da besteht dann die Gefahr, dass man das dann nicht so ernst nimmt. Zudem haben die Betroffenen einen hohen Gesprächs- und Aufklärungsbedarf, den viele Ärzt*innen aufgrund ihrer terminlichen Möglichkeiten einfach nicht leisten können.
Die Behandlung braucht also viel Zeit?
Genau. Wichtig ist, dass die Leute schnellstmöglich eine Untersuchung bekommen und wenn Ärzte diagnostisch unsicher sind, dass sie dann möglichst rasch in eine Long Covid-Spezialambulanz überweisen können, von denen es gegenwärtig in der Bundesrepublik schon über 80 gibt. Speziell in Niedersachsen ist das so: Wir haben drei universitäre Standorte und speziell an einem sind ist beispielgebend eine gut vernetzte Spezialambulanz eingerichtet worden. Und es gibt bezüglich der Versorgungsangebote für Long Covid-Patient*innen schon eine ganze Reihe von Empfehlungen, zum Beispiel vom Expertenrat der Bundesregierung. Aber die Zuständigkeiten im Gesundheitssystem sind sehr stark föderal ausgerichtet und so muss jedes Bundesland sehr eigenständig handeln. Die Bundesregierung könnte aber flankierend was tun.
Für Betroffene wie auch Ärzt*innen ist die schlechte Studienlage zu Long Covid ein Problem. Könnte die Forschung schneller Ergebnisse liefern, wenn Bund und Länder mehr Geld zur Verfügung stellen würden als bisher?
Ich bin der Meinung: Ja, es lohnt sich, dass wir hier mehr Gelder investieren, bisher ist es zu wenig. Aber, es ist immer zu wenig Geld da, wenn Sie im Gesundheitswesen Wünsche realisieren wollen. Letztlich ist es eine politische und durchaus auch gesellschaftliche Frage, die man in den Ländern und auf Bundesebene klären muss.
In Niedersachsen beispielsweise hat der Landtag nach Anhörung von Expert*innen beantragt: Wir wünschen, dass die Landesregierung mehr Gelder für Forschung bezüglich Long Covid investiert. Im Zusammenhang damit entstand das Corona Forschungsnetzwerk (COFONI) in Niedersachsen und insgesamt wurden jetzt dafür seitens der Landesregierung 10 Millionen Euro freigegeben.
Nun überlegen sich der Long-Covid-Expertenrat und das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, welche Forschungsprojekte brauchen wir, damit wir möglichst bald qualitativ verlässliche und insbesondere versorgungsrelevante Ergebnisse bekommen?
Wie viel ist bisher über Long Covid bekannt?
Wir wissen einfach noch zu wenig über die zugrundeliegenden Ursachen. Es gibt bei Long Covid vermutlich unterschiedliche Ursachen, die jeweils speziell darauf zugeschnittene Behandlungen brauchen. Wir wissen bereits, dass viele Patient*innen mit schwereren Verläufen, die ambulant vom Hausarzt nicht ausreichend betreut werden können, von bereits verfügbaren Reha-Maßnahmen gut profitieren.
Diese kann man je nach Bedarf um spezielle leistungsfördernde Maßnahmen ergänzen, beispielsweise um Trainingsprogramme für geminderte Hirnleistung – etwa bezüglich Konzentration und Gedächtnis, worüber übrigens viele Long Covid-Patient*innen klagen. Bei einigen von ihnen bleibt aber der Erfolg trotz all dieser Möglichkeiten aus. Bei diesen Menschen kann es dann zu langfristiger oder gar endgültiger Erwerbsunfähigkeit kommen. Und das ist ein großes sozialmedizinisches Problem, was auch gerade für die Rentenversicherung von wesentlicher Bedeutung ist.
Ein Fachkollege, der hauptsächlich Begutachtungen im Auftrag der Unfallversicherungen durchführt, berichtete mir vor kurzem, dass bereits mehr als 150.000 Berufstätige Anträge auf Erwerbsminderung oder gar Berufsunfähigkeit aufgrund von Long Covid gestellt haben – was wirklich eine erkleckliche Zahl ist.
Und die können gar nicht mehr arbeiten?
Es gibt sicher nicht wenige Menschen, die nach einer durchgemachten Corona-Infektion nicht so schwer beeinträchtigt sind, dass sie nicht wieder ihre berufliche Tätigkeit aufnehmen können – aber häufig dann für einige Zeit erst mal nicht voll leistungsfähig. Hier sollte der Arbeitgeber unbedingt dafür sorgen, dass diese Menschen zunächst nur mit solchen Tätigkeiten an ihrem Arbeitsplatz betraut werden, die ihren Fähigkeiten und aktuellen Belastbarkeit auch entsprechen.
Für die Betroffenen ist das sehr wichtig – gelingende Teilhabe und Wiedereingliederung in den Beruf schafft Selbstvertrauen und fördert letztlich damit auch die Gesundung. Hier geht es also entscheidend um die Frage: Wie geht man am Arbeitsplatz mit Kolleg*innen um, die an Long Covid-Symptomen leiden? Werden die Beschwerden anerkannt und angemessen berücksichtigt? Hier ist insbesondere auch die Unternehmerseite sehr gefragt. Diese sollte unbedingt mit ins Boot und die vielfältigen Informationsmöglichkeiten zu Long Covid am Arbeitsplatz intensiv nutzen.
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