Experte über Lärm: „Das nervt Sie, das nervt mich“

Lautstärke ist gar nicht das Entscheidende, sagt der Hamburger Lärmforscher Christian Popp. Ein Gespräch über Dauerstress und Dezibel.

Motorräder fahren im Konvoi

Höllernlärm: Biker bei der Rückfahrt vom Hamburger Motorradgottesdienst Foto: Angelika Warmuth/dpa

taz: Herr Popp, was ist Lärm?

Christian Popp: Kurz gesagt: unerwünschter Schall. Jedes Geräusch, das ich nicht mag, durch das ich gestört bin, das der Gesundheit schadet.

Lärm hat gar nichts mit Lautstärke zu tun?

Doch. Aber schon, wenn am Nebentisch zufällig Ihr Name fällt, müssen Sie unwillkürlich zuhören. Ihre Kommunikation ist unterbrochen, Sie sind gestört. Der Schallpegel selbst macht nur etwa 20 Prozent der Lärmbelästigung aus.

Was bedingt den Rest?

Zum Beispiel Ihre persönliche Befindlichkeit, Ihr Gesundheitszustand, Ihr Verhältnis zum Verursacher. Die Einschätzung, ob das Geräusch vermeidbar ist. Die Geräuschqualität.

Wenn Kreide über eine Tafel quietscht, ist das unangenehmer als ein rauschender Bach.

Besonders lästig finde ich eine schnelle Bandsäge, die einen hohen Pfeifton erzeugt. Wir sagen, das Geräusch ist „tonhaltig“. Hochfrequente Geräusche gehen gut ins Hirn. Das nervt Sie, das nervt mich. Deshalb wird Geräuschen mit einer solchen Tonhaltigkeit in Lärmgutachten ein Malus zugeschlagen.

Wofür sonst gibt es so einen Zuschlag?

Für „Impulshaltigkeit“. Wenn ein Geräusch ganz schnell ansteigt und wieder abschwillt, zum Beispiel beim Knall einer Pistole. So was kostet uns Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit an der falschen Stelle ist das Problem.

Wenn sich Menschen im Büro über ein Thema unterhalten, das mich interessiert, kann ich mich schlechter auf meine Arbeit konzentrieren.

Genau. Deshalb gibt es bei Geräuschen auch für „Informationshaltigkeit“ einen Zuschlag. Wenn ihr Name am Nebentisch fällt, oder wenn sich die Kollegen unterhalten, registriert Ihr Hirn Informationen, die es für wichtig hält. Das muss nicht nur Sprache sein. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Autowerkstatt und haben gelernt, Fahrzeugtypen am Geräusch zu unterscheiden. Jedes Auto das vorbeikommt, wird sie ablenken.

65, ist Diplom-Ingenieur. Seine Hamburger „Lärmkontor GmbH“ berät deutsche und EU-Behörden, sowie Privatunternehmen zum Thema Lärmschutz.

Wie berechnen Sie die Zuschläge?

Natürlich ist das subjektiv. Das machen Gutachter aus Erfahrung. Aber es sind ja nur Zuschläge. Wenn wir Lärm quantifizieren wollen, ist der objektive Schalldruckpegel schon das Erste, auf das wir schauen.

Da fällt dann immer ganz selbstverständlich der Begriff „Dezibel“. Was sagt der uns eigentlich?

Das ist die Einheit für den Schalldruck. Schalldruck ist das, was physikalisch auf unser Trommelfell wirkt.

Erklären Sie!

Den Bereich, in dem wir Geräusche wahrnehmen, begrenzen wir von oben und unten. Unten ist die Hörschwelle. Dort, wo Sie mit gesunden, jungen Ohren gerade so ein Geräusch wahrnehmen können. Oben ist die Schmerzschwelle, da ist der Schalldruck zehn Billionen mal größer als an der Hörschwelle, da tut es physisch weh.

Und wo kommen die Dezibel ins Spiel?

Wir können uns die zehn Billionen Schritte zwischen Hörschwelle und Schmerzschwelle ja gar nicht vorstellen. Deshalb hat man gesagt, wir schreiben die zehn Billionen als Zehnerpotenz: 10 hoch 13. Wir nehmen nur die Hochzahlen und nennen diese Einheit dann Bel. Die Skala die sich ergibt, ist natürlich logarithmisch.

Oje, Mathematik.

Einfacher gesagt: Wir zählen Nullen. Zehn Billionen – das ist eine Eins mit 13 Nullen. Fertig ist die Lärmskala: 0 Bel an der Hörschwelle, 13 Bel an der Schmerzgrenze. Der Lärmwirkungsforschung war das aber ein bisschen zu grob. Die hat dann gesagt, lass uns Zehntel-Bel nehmen. Sprich: Dezibel. Die Spanne in der wir uns akustisch bewegen geht also von 0 bis 130 Dezibel. Und eine Veränderung um 10 Dezibel bedeutet in etwa eine Verdoppelung der wahrgenommenen Lautstärke.

Neben der Einheit Dezibel sieht man auch immer wieder die Einheit dB(A). Was hat es damit auf sich?

Unser Gehör reagiert auf unterschiedliche Tonhöhen unterschiedlich empfindlich. Erinnern Sie sich an das Testbild im Fernsehen? Da gab es diesen Ton dazu. Der liegt genau in dem Frequenzbereich, in dem unser Ohr besonders sensibel ist. Dort, wo sich auch die menschlichen Stimmen bewegen. Damit wir sehr tiefe oder sehr hohe Frequenzen genauso deutlich wahrnehmen, braucht es höhere Schalldrücke. Das berücksichtigt die A-Bewertung der Dezibel-Skala.

Ab welcher Dezibel-Zahl sprechen Sie von Lärm?

Wenn Sie schlafen, sollte der mittlere Pegel etwa bei 30 Dezibel liegen – ohne größere Ausschläge. Dann ist die Situation ruhig. Wenn Sie sich beim Abendessen entspannt über den Tisch unterhalten, haben Sie einen Pegel von etwa 60, 65 Dezibel. Ein Geräusch, das circa 10 Dezibel darunter liegt, stört die Kommunikation noch nicht allzu sehr. Ein Kühlschranksummen oder die Spülmaschine. Wenn Sie mit dem Störgeräusch aber in die Nähe des Sprechpegels kommen, wird es anstrengend. Dann verstehen Sie nicht mehr alle Silben.

Bei 60 Dezibel fängt also Lärm an?

Wir sagen seit Langem: Es ist gesundheitsschädlich, wenn tagsüber permanent etwa 65 Dezibel von außen auf ein Wohngebäude wirken und nachts 55 Dezibel. Ich habe Angela Merkel betreut, als sie noch Umweltministerin war. Damals schon haben wir gesagt, wir brauchen diese Grenzwerte. Aber unsere Obergerichte setzen die bis heute fünf Dezibel höher an.

Hören die nicht auf Sachverständige?

Wenn Forscher eine Studie schreiben, dann steht halt hinten drin: Wir haben zwar dieses und jenes Ergebnis, aber es besteht weiter Forschungsbedarf. Klar, die leben ja auch von der Forschung.

„Ich habe Angela Merkel betreut, als sie noch Umweltministerin war. Damals schon haben wir gesagt, wir brauchen diese Grenzwerte“

Sie leben vom Lärmschutz.

Wir sind Gutachter, wir brauchen klare Limits. Die gibt es für Freizeitanlagen, Häfen, Baustellen, Industrie. Überall, wo man die Privatwirtschaft in die Pflicht nehmen kann. Aber beim Straßenverkehr ist, abgesehen von Neubaustrecken, alles unverbindlich. Das wäre ja eine hoheitliche Aufgabe, den leiser zu bekommen. Der Bund hat bei der Gesetzgebung schon geschaut, dass er sich selbst nicht zu hart rannimmt.

Kann man sich an Lärm gewöhnen?

Nein. Man kann aber Strategien entwickeln. Sie können Stoßlüften, statt das Fenster zu kippen. Manche können sich auch einfach sehr gut konzentrieren. Ich habe einen Informatiker in der Firma, der könnte mitten im Fußballstadion sitzen, das würde ihn nicht jucken. Das scheint dann zwar, als sei er immun gegen Lärm – aber spätestens nachts ist für uns alle Schluss. Da reagiert das autonome Nervensystem.

Was passiert da?

Stellen Sie sich vor, Sie wohnen an einer lauten Straße und haben nachts das Fenster gekippt. Vielleicht schlafen Sie durch, trotzdem fühlen Sie sich morgens wie gerädert. Das liegt daran, dass Sie nicht richtig in die Tiefschlafphasen gekommen sind. Sie waren permanent halb wach. Ein dauerhaft zu hoher Geräuschpegel hat die gleiche Wirkung wie zu viel Rotwein am Abend. Auf Dauer steigt ihr Blutdruck. Sie kriegen Stress. Ihr Herzinfarktrisko steigt.

Ist Lärm wirklich so schlimm?

Die WHO sagt: Lärm ist nach der Luftverschmutzung der zweitgrößte Umweltfaktor, wenn es um die Vergrößerung der Krankheitslast geht.

Mehr zur subjektiven Lärmbelastung lesen Sie in der taz am Wochenende oder hier.

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