Evangelische Islamkritik: Vom hohen Ross
Nikolaus Schneider vom Rat der evangelischen Kirche fordert eine Debatte über Gewalt und den Koran. Der Stammtisch wird ihm applaudieren.
In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt erklärt der scheidende Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, unter anderem seine Sicht auf den Islam. „Was von den [deutschen Islam-]Verbänden an Auseinandersetzung mit Ansatzpunkten für die Legitimierung von Gewalt im Koran und in der islamischen Tradition bisher kommt, ist mir zu wenig“, sagt Schneider da und passt sich nahtlos in einen populären Diskurs ein: Der Muslim habe Stellung zu nehmen zur Quelle der Gewalt, die gar blutig direkt aus dessen heiliger Schrift sprudelt.
„Wir müssen aber nüchtern feststellen, dass sich der IS auf den Islam beruft. Darüber haben wir zu debattieren.“ Der sozial engagierte, theologisch und politisch liberale Kirchenfunktionär Schneider, der sich seit Jahrzehnten für den jüdisch-christlichen Dialog einsetzt, tappt hier nicht aus Versehen in eine Falle, die ein geschickter Interviewer auslegt.
Seine Kritik am politischen Islam ist altbekannt und an vielen Stellen sogar nachvollziehbar. Dass sie aber umstandslos von einer islamophob verbrämten, inhärent rassistischen Perspektive der Überlegenheit der sogenannten abendländischen Kultur verstanden werden kann, darüber haben wir anscheinend nicht zu debattieren.
Mitten in der hitzigen Debatte um den Neubau einer Moschee in Köln-Ehrenfeld zum Beispiel ließ Schneider, damals noch Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, die Bauherrin, den Muslimverband Ditib, wissen, dass er sich die Moschee „zurückgenommener, nicht so imperial“ wünsche, und übte unter anderem Kritik an deren Minarette. Denn die sollten den Kirchturm einer nahe gelegenen evangelischen Kirche überragen. Für „Pro Köln“, jenen politischen Arm des deutschnationalen Stammtischs, war aber gerade die Höhe der Minarette nicht zufällig Kernaufreger der Kampagne gegen die Moschee.
Keine Diskussion
Diese Anschlussfähigkeit bei Berufung auf dieselben Werte und Symbole für verschiedene Strömungen der abendländischen Kultur, von liberalen Christen bis hin zu offen Rechtsradikalen, soll nun keine Diskussion wert sein, jene der verschiedenen Ausprägungen des Islam, vom messerwetzenden Dschihadisten bis zum netten Aleviten von nebenan aber, die „haben wir zu debattieren“?
Nikolaus Schneider ist natürlich ein differenziert denkender Theologe. Er ist sich selbst der gewalttätigen Geschichte seiner eigenen Kirche voll bewusst. Er stellt sich sogar noch der Tatsache, dass „ja auch die Bibel für Begründungen von Gewaltanwendungen nicht frei ist“.
Jedoch betont Schneider, dass, obwohl die christlichen Kirchen eine sehr „problematische Gewaltgeschichte haben“, sie sich mit ihr auseinandersetzten; wohl im Gegensatz zum Islam, dessen „rasche Verbreitung mit ’Feuer und Schwert‘ von Anfang an mit Kriegen“ im Zusammenhang gestanden habe.
„Wir sitzen nicht auf dem moralisch hohen Ross“, schränkt Schneider ein und fügt an: „Damit ermutige ich zur Auseinandersetzung über entsprechende Traditionen im Islam.“ Ein höheres Ross lässt sich kaum vorstellen: von der Kanzel herab denjenen Ratschläge erteilen, die nie darum gebeten haben. Der Stammtisch applaudiert zustimmend und denkt sich seinen Teil.
Im Interview kommt Schneider letztlich zu dem Schluss: „ … dass ich mich einigen peinlichen Fragen stellen muss, wenn ich dereinst Gott gegenüberstehe.“ Dem lässt sich ganz einfach vorgreifen: Man stellt sich die wirklich peinlichen Fragen gleich selber, und zwar schon in dieser Welt. Dann bleibt das hohe Ross im Stall und der Ratspräsident verbringt nicht mehr so viel Zeit damit, den Splitter im Auge des anderen zu suchen, sondern bemerkt den Balken im eigenen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott