Evakuierung aus Afghanistan: Platz schaffen auf rettenden Listen
In Afghanistan befinden sich noch immer viele Künstler*innen in Lebensgefahr. Ein Netzwerk setzt sich für ihre Evakuierung ein.
Die Chance zur Flucht währte nur wenige Tage: Im August letzten Jahres, während der Evakuierungsoperation des Westens aus Afghanistan, machte die Bundesregierung ein Kontingent auf. Auf die sogenannte Menschenrechtsliste setzte sie Afghan*innen, die von den Taliban besonders bedroht, aber nicht als Ortskräfte unmittelbar bei deutschen Organisationen beschäftigt waren. 2.600 Personen bekamen so eine Aufnahmezusage für die Bundesrepublik – bis die Meldefrist am 31. August überraschend endete.
Den Behörden gemeldet waren bis zu diesem Zeitpunkt auch 102 von 394 Namen einer Künstler*innen-Liste – erstellt durch ein Kollektiv um den Kabuler Kunstprofessor Rahraw Omarzad, den Begründer des Center for Contemporary Art Afghanistan. Die übrige Liste wurde am 1. September eingereicht, vergebens. Seitdem sucht das Team aus Künstler*innen und ihren Unterstützer*innen nach einer Lösung
Seit einer Weile machen sie sich wieder Hoffnung: Da einige der Künstler*innen mit deutscher Aufnahmezusage von anderen Ländern aufgenommen wurden, entstand die Idee, dass ebendiese Künstler*innen auf ihren Platz in Deutschland verzichten könnten. Eine schriftliche Erklärung gegenüber dem Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium soll dafür sorgen, dass erneut Listenplätze frei werden und Gefährdete nachrücken können. Die Erfolgsaussichten sind allerdings unklar.
„Ihr Leben ist in Gefahr“
Ahmad Imami ist Produzent, Regisseur und Kameramann. Der 29-Jährige studierte Film an der Universität Kabul, fing selbst an, als Schauspieler vor der Kamera zu stehen – teilweise in internationalen Produktionen wie dem deutschen Filmdrama „Zwischen Welten“. Später war er unter anderem Produktionsleiter des Herat International Women Film Festival. „In den Tagen, als die Taliban nach Kabul kamen, bat ich jeden, den ich kannte, um Evakuierung“, sagt er. Er fühlte sich, als sei die Zeit angehalten worden. „Fünf Tage lang konnte ich nicht nach draußen gehen: Ich bin ein bekannter Schauspieler. In Afghanistan erkennt mich jeder.“
Glücklicherweise sei er angerufen worden: „Ich wartete auf eine Evakuierung durch irgendwen. Frankreich war dann am schnellsten.“ Er wisse, dass Künstler*innen, die sich jetzt noch in Afghanistan aufhielten, sich mit Vorräten eingedeckt hätten und nicht nach draußen gingen: „Ihr Leben ist in Gefahr.“ Daher sei es für ihn selbstverständlich gewesen, als er von Frankreich eine Schutzzusage erhalten habe, seinen Platz in Deutschland für jemand anderen aufzugeben,.
Yama Rahimi gehört zu denen, die an der Umsetzung des Plans arbeiten. Er selbst stammt aus Afghanistan und lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Aktuell studiert er Kunst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Seit dem 15. August hat er die Hochschule nicht mehr von innen gesehen, nicht etwa wegen der Coronapandemie, sondern weil er Evakuierungen betreut. „Ich glaube, ich arbeite sogar im Schlaf weiter. Ich träume davon“, schildert er.
Tausende Nachrichten erreichten ihn täglich, er beantworte jede davon: „Ich weiß, wie die Menschen sich fühlen. Daher möchte ich für sie da sein, auch wenn sie manchmal mehrfach dieselbe Frage stellen, weil sie so unter Stress stehen.“ Erst vor sechs Jahren ist Rahimi selbst aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Die Menschen, deren Evakuierung er jetzt begleitet und denen er beratend zur Seite steht, kennt er alle persönlich. „Die ersten 102 Namen, die wir auf die Liste gesetzt haben, das waren alles Leute, die ich von meiner Mitarbeit am Center for Contemporary Art in Kabul kannte.“ Schnell seien es mehr geworden und dennoch sei kein Name darunter, hinter dem er nicht das Gesicht kenne.
Die Bundesregierung reagiert zurückhaltend
Die meisten von ihnen seien inzwischen in Sicherheit oder hätten zumindest eine Aufnahmezusage von Deutschland erhalten. Dafür ist er dankbar. Dennoch wünscht sich der Kunststudent, dass noch mehr Menschen in Sicherheit gebracht würden: „Es gibt mehr Menschen, die noch dort sind und sich in großer Gefahr befinden, gerade auch weitere Künstler.“ Eine Gruppe Kunststudent*innen habe durch ein neu geschaffenes Kontingent von Studienplätzen an seiner Hochschule evakuiert werden können. Doch das sei noch lange nicht genug.
Wie geht es jetzt weiter? Die Bundesregierung reagiert zurückhaltend. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, die Verzichtserklärungen seien eingegangen und durch das Bundesinnenministerium geprüft worden: „Mit der Verzichtserklärung ist die jeweilige Aufnahmezusage nach Paragraf 22 AufenthG erloschen und nicht mehr gültig. Die gewünschte konkrete Nachbesetzung ist jedoch nicht möglich, da nur Schutzersuchen berücksichtigt werden konnten, die der Bundesregierung bis 31.08.21 bekannt wurden.“ Außerdem sei das Auswärtige Amt mit dem Innenministerium und anderen Akteuren im Gespräch zu dem von der Ampelkoalition geplanten Aufnahmeprogramm.
Der Berliner Rechtsanwalt Michael Mai war Rechtsreferendar an der Akademie der Künste und ist nun an den Evakuierungsbemühungen beteiligt. Er hat auch die Verzichtserklärung entworfen. Die Antwort aus dem Außenministerium macht ihm zumindest etwas Hoffnung – für die wenigen unter den 102 Künstler*innen, die der Regierung am 31. August schon gemeldet worden waren.
Aber auch für alle anderen fordert Mai eine Lösung. „Es wäre wünschenswert, dass auf das Festhalten am Stichtag verzichtet wird und vielmehr anhand der aktuellen Gefährdungslage entschieden, wer hier nachrücken darf“, sagt der Anwalt. „Dabei sollte auch mit einbezogen werden, welche Verschärfung der Gefährdungslage sich für Familienmitglieder – also der erweiterten Kernfamilie – derer ergibt, die bereits evakuiert wurden und sich hier in Deutschland – endlich – frei und öffentlich äußern können.“
Infos zur Verzichtserklärung gibt es bei der Organisation Artists at Risk. Zuständig sind Marita Muukkonen (marita@perpetual-mobile.org) und Ivor Strodolsky (ivor@perpetualmobile.org).
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