Europas Grenzen in Afrika: Über den Zaun hinaus
Die EU baut Frontex zu einer Full-Service-Agentur um. Dabei arbeitet sie mit zwielichtigen Regierungen zusammen.
Eigentlich ist die „Siem Pilot“ als Versorger für Ölbohrinseln in der Nordsee unterwegs. Seit Juni 2015 ist sie Norwegens wichtigster Beitrag zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Die Regierung in Oslo charterte das Schiff und bezahlt die 15-köpfige Crew sowie elf norwegische Polizisten, zehn Soldaten und sechs Küstenwächter.
Zum vierten Mal ist Teigen hier, als Kommandant. „Das war heftiger als die ganzen Jahre bei der Polizei davor zusammen“, sagt er. „Manchmal kommen 2.000, dann 7.000, dazwischen ist es ruhig für einige Wochen.“ 28.598 Lebende und 91 Tote hat die „Siem Pilot“ im Frontex-Einsatz an Bord genommen und nach Italien gebracht. Die meisten hat sie von privaten NGOs übernommen, die vor der libyschen Küste kreuzen. Frontex tut das nicht.
Die „Siem Pilot“ rettet Menschen. Aber das ist nicht der Grund, weshalb sie hier ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Schiff von einem Polizisten befehligt wird. Flüchtlingsboote sind für sie Tatorte. Tatorte von Menschenschmuggel. Teigens eigentlicher Auftrag ist der Kampf gegen Schlepper. Polizeiarbeit.
Frontex geht den Flüchtlingen entgegen
Teigens Männer und Frauen sind auf der „Siem Pilot“, um unter Tausenden Flüchtlingen und Migranten jene zu finden, die die Überfahrten als kriminelles Geschäft betreiben. Auf den Fahrten Richtung Festland, zum sicheren Hafen, beobachten sie die Geretteten, fotografieren und befragen sie, werten Handys aus, untersuchen Leichen in einer abgetrennten forensischen Abteilung, nehmen DNA-Proben. 300 „Persons of Interest“, Verdächtige, haben sie bislang der italienischen Polizei übergeben.
Die Menschen an Bord sind der erste Punkt, an dem Teigens Leute ansetzen können. Jenseits des Meeres, dort, wo die Schlepper ihre Geschäfte einfädeln, haben sie keinen Zugriff, nicht einmal verlässlichen Kontakt zur Küstenwache. „Da funktioniert nichts. Wenn wir an Libyen rankommen, müssen wir mit Ferngläsern nach Gefahren Ausschau halten.“
Das entspricht nur zum Teil der Wahrheit. Tatsächlich hat die im September als Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache neu konstituierte Behörde längst ihre Fühler nach Afrika ausgestreckt. Schon jetzt ist sie nicht auf den Blick durch das Fernglas angewiesen, um zu erfahren, was dort vor sich geht.
Grenzschutz hat heute weniger damit zu tun, einen Zaun auf eigenem Territorium zu bewachen, dafür immer mehr damit, in weit entfernten Ländern aktiv zu sein. Frontex geht den Flüchtlingen entgegen.
Mit 18 Staaten auf der ganzen Welt hat Frontex Working Arrangements. Darunter Länder in Osteuropa, USA, Kanada, Kap Verde und Nigeria. Doch es laufen Verhandlungen für weitere Abkommen: mit Libyen, Marokko, dem Senegal, Mauretanien, Ägypten und Tunesien. „Nordafrika ist für neue Kooperationen unser wichtigster Schwerpunkt“, teilt Frontex mit.
Am Tisch mit afrikanischen Geheimdienstchefs
Auch auf informeller Ebene arbeitet Frontex längst mit einigen dieser Staaten zusammen, unter anderem mit Marokko, dem Senegal und Libyen. Ein Verbindungsbeamter soll bald nach Niger entsandt werden. Vor allem aber betreibt die Agentur vier sogenannte Risikoanalyse-Netzwerke mit Ländern außerhalb der EU. Zwei umfassen Staaten Osteuropas, eines den Balkan und die Türkei. Das größte aber ist der Geheimdienstbund Afrika-Frontex Intelligence Community (Afic).
Seit dessen Gründung 2010 lud Frontex bereits 20-mal die Geheimdienstchefs aus Afrika nach Warschau ein. Bei Afic sind 21 Staaten, von Marokko über Dschibuti bis nach Angola, dabei. Sieben Staaten, darunter die Hardcore-Diktaturen Eritrea und Sudan, haben „Beobachter“-Status, auch Äthiopien, Somalia und Tunesien sind „eingeladen“, mitzumachen. „Ein Rahmen für Intelligence Sharing im Bereich der Grenzsicherung“ sei das, heißt es bei Frontex. Und holt dafür jene an den Tisch, die für einen Teil der Fluchtursachen verantwortlich sind.
Inzwischen gibt es nicht nur Treffen, sondern auch eine Onlineplattform zum Datenaustausch. Seit Mai entstehen daraus monatliche Analysen. Das Ziel: Ein möglichst vollständiges Bild der Migration in ganz Afrika zu zeichnen.
Vor „dramatischer“ Migration aus Afrika warnt die deutsche Regierung, von einem „Marshallplan“ ist die Rede. Doch die Milliardensummen, die Europa in Afrika ausgeben will, dienen nicht nur dem Kampf gegen Armut. Erklärtes Ziel der neuen EU-Afrikapolitik ist es, Flüchtlinge und Migranten schon tief im Innern des Kontintents aufzuhalten. Die taz berichtet seit Mitte November in einem Rechercheschwerpunkt darüber, zu finden unter taz.de/migcontrol.
Die Recherche wurde gefördert von Fleiß und Mut e. V. (cja)
Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko glaubt, dass die Zusammenarbeit durch die neuen Hilfsangebote der EU an Afrika erzwungen wird: „Die Zusammenarbeit mit zwielichtigen Regierungen und Diktaturen dient einzig und allein dem Zweck, diese als Türsteher für die Festung Europa aufzubauen.“
44 „Agenturen“ für bestimmte Politikbereiche hat die EU. Keine ist so schnell gewachsen und üppig ausgestattet wie Frontex. Bei ihrer Gründung 2005 in Warschau verfügte sie gerade einmal über 45 Mitarbeiter und einen Jahresetat von 6,5 Millionen Euro. In diesem Jahr kann Frontex 254 Millionen Euro ausgeben, 2020 sollen es 320 Millionen sein.
Full-Service: Abschiebungen im Komplettpaket
Sicher ist, dass die EU Frontex noch weiter ausbauen will – am liebsten zu einer vollständigen Grenzpolizei. Erst im September bekam sie neue Kompetenzen: für Abschiebungen. Bislang organisierte Frontex Abschiebe-Charterflüge nur auf Bitten und Kosten der Mitgliedsländer. 2015 waren es sieben, in diesem Jahr bislang 13, es ging nach Georgien, Serbien und Albanien.
Künftig kann Frontex auf eigene Initiative und eigene Kosten Sammelabschiebungen durchführen. Sie hat nun ein eigenes Budget, aus dem sie Flugzeuge, Unterkunft von Begleitpersonen, Verpflegung, medizinisches Personal und Dolmetscher bezahlen kann. Sie beschafft Pässe für Abschiebungen und „freiwillige Ausreise“, alles Aufgaben, die bislang in der Hand der Mitgliedstaaten lagen. Frontex wird so zur Serviceagentur für Ausländerbehörden. 66,5 Millionen Euro stehen für „Return Support“ seit diesem Jahr im Haushalt.
Dafür wird auch ein Pool von sogenannten Escortoffizieren, das heißt Rückkehrbegleitern, in den jeweiligen Mitgliedstaaten aufgebaut. Parallel wird ein Pool von „Rückführungsspezialisten“ geschaffen, die flexibel in die Mitgliedstaaten entsandt werden können, um dort Abschiebungen zu organisieren.
Doch Frontex soll auch verhindern, dass überhaupt irreguläre Migranten Europa erreichen. Mitarbeiter der Agentur trainieren Grenzschützer von Nicht-EU-Staaten, etwa in der Erkennung gefälschter Pässe. Fast 500 solcher Trainings hat Frontex seit 2010 durchgeführt, die meisten in Osteuropa, einige in Marokko. In dieser Woche startet Frontex Trainings der libyschen Küstenwache – ihr Beitrag zu einer EU-Ausbildungsmission.
Mit den Aufgaben wächst die Zahl der Mitarbeiter. Zuletzt hatte Frontex mehr als 360 Beamte. Neuerdings kommt eine rund 1.200 Personen starke Soforteinsatztruppe für Krisensituationen hinzu, die beim Schutz der EU-Außengrenzen helfen soll, also in Bulgarien beispielsweise. Dort überwachen 163 Mitarbeiter die Grenzen zur Türkei und zu Serbien.
Kein Ansprechpartner für Widerspruch
Nur an einem wird gespart: an Überwachungs- und Beschwerdemechanismen. Wer von EU-Grenzschützern widerrechtlich zurückgewiesen oder abgeschoben wird, hat kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Das wird nicht nur von Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtlern beklagt, sondern auch vom Europaparlament: Frontex müsse mehr Personal und mehr Geld für den Schutz der Grundfreiheiten und für Beschwerden von Asylbewerbern bereitstellen, mahnt der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten an.
Mehr Ressourcen und mehr Personal sind keine Lösung, das zeigt Frontex selbst: In diesem Jahr, in dem der Agentur mehr Personal und mehr Geld als je zuvor zur Verfügung stand, ertranken vor Libyen über 4.700 Menschen – mehr als je zuvor. Menschen zu retten ist nicht der eigentliche Grund, weshalb Menschen wie der Polizist Pal Erik Teigen auf dem Mittelmeer unterwegs sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn