EuGH-Urteil betrifft auch Deutschland: Grenzkontrollen wohl rechtswidrig
Kontrollen an Österreichs Grenzen sind europarechtswidrig. Gleiches dürfte für Deutschland gelten. Verlängert wurden die Kontrollen hier trotzdem.
„Im vorliegenden Fall scheint Österreich (…) nicht nachgewiesen zu haben, dass eine neue Bedrohung vorliegt.“ Eine abschließende Entscheidung liegt jedoch beim zuständigen Gericht in Österreich (Rechtssachen C-368/20 und C-369/20).
Die deutsche Bundesregierung habe das Urteil zur Kenntnis genommen, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage mit. „Die Auswertung und Prüfung etwaiger Auswirkungen auf die von Deutschland angeordneten vorübergehenden Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Landgrenze dauert an.“
Eigentlich gibt es im Schengen-Raum, dem 26 europäische Länder angehören, keine stationären Personenkontrollen an den Grenzen. In den vergangenen Jahren hatten aber mehrere Staaten eine Ausnahmeregelung genutzt und wieder teilweise Grenzkontrollen eingeführt. Deutschland kontrolliert seit Herbst 2015 an der Grenze zu Österreich, nachdem sich Zehntausende Flüchtlinge und andere Migranten von Griechenland über die Balkan-Route auf den Weg nach Westeuropa gemacht hatten.
Bundesregierung verlängerte Kontrollen
„Seit letztem Jahr steigt der Migrationsdruck auf Deutschland deutlich an, daher wäre es fahrlässig, die Kontrollen auslaufen zu lassen“, sagte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU). Zudem finde in Bayern dieses Jahr der G7-Gipfel in Elmau statt.
Der Grünen-Innenpolitiker Marcel Emmerich sprach sich hingegen dafür aus, die Kontrollen, die ohne eine Verlängerung auslaufen würden, zu beenden. Der Bundestagsabgeordnete sagte: „Reflexhaft immer wieder neue Grenzkontrollen einzufordern und bestehende willkürlich zu verlängern, löst nicht nur keine Probleme, sondern verstößt auch gegen europäisches Recht.“
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums teilte mit, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) habe bereits am 14. April „die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Landgrenze zum 12. Mai 2022 für einen sechsmonatigen Zeitraum notifiziert“.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) begrüßte die Verlängerung der Grenzkontrollen am Mittwoch ausdrücklich. Diese seien aus migrations- und sicherheitspolitischen Gründen „zwingend notwendig“, sagte Herrmann, und bezeichnete den Schutz der EU-Außengrenzen als „noch nicht ausreichend“.
Nach Ansicht des Juristen und Abgeordneten der Grünen im bayerischen Landtag, Toni Schuberl, bricht die Bundesregierung mit der Verlängerung dagegen europäisches Recht. Schuberl klagt derzeit am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im wohl einzigen deutschen Prozess gegen die seit 2015 gängigen Kontrollen an der Grenze zu Österreich. „Die Kontrollen bestehen nun seit 2.416 Tagen, sie sind also seit 2.235 Tagen rechtswidrig und dürfen keinen Tag länger bestehen bleiben“, sagte Schuberl der Deutschen Presse-Agentur in München.
Das Verfahren von Schuberl ist seit Längerem an dem Verwaltungsgerichtshof anhängig. Wann hier mit einer Entscheidung zu rechnen ist, ist unklar. Schuberls Mandantin hatte gegen die Grenzkontrollen geklagt, nachdem sie seit 2018 bereits mindestens acht Mal bei Fahrten zwischen Deutschland und Österreich kontrolliert wurde. Ihrer Meinung nach sind die Kontrollen „rechtswidrige Akte der Polizei“, weil die Rechtsgrundlage gegen EU-Recht verstößt.
Hintergrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist ein Verfahren, bei dem sich ein Slowene nach Einführung der Kontrollen an der Grenze zu Österreich zweimal geweigert hatte, seinen Pass zu zeigen. Er erhielt dafür eine Geldstrafe von 36 Euro. Der Kläger war jedoch der Meinung, dass die Kontrollen gegen EU-Recht verstießen und klagte vor einem Gericht in Österreich.
In seinem Urteil weist der Gerichtshof nun darauf hin, dass der Schengenraum eine der größten Errungenschaften der EU sei. „Die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen muss daher eine Ausnahme bleiben und sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken