Essay zum Kriegsbeginn vor 80 Jahren: Weltkrieg? Fehlanzeige!
Die Bundesregierung ignoriert den Termin. Der Bundestag lädt zu keiner Veranstaltung ein. Der Krieg gegen Polen ist in Deutschland kein Thema.
Am 1. September jährt sich zum 80. Mal der deutsche Überfall auf Polen – und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es ist nicht so, dass das hierzulande groß bemerkt würde oder gar Anlass für Erinnerung wäre. Ganz im Gegenteil: Es gibt in Deutschland keine offizielle Veranstaltung von Bundestag oder Bundesregierung. Einzelne zivilgesellschaftliche Initiativen führen lokale Aktionen durch, es gibt vereinzelt Podiumsdiskussionen, und auch manche Gedenkstätte wird tätig. Mehr oder weniger ist damit allerdings die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kriegsbeginn abgehakt, denn tatsächlich findet hierzulande aus diesem Anlass keine einzige Konferenz statt. Der „Polenfeldzug“ ist sogar für deutsche Historiker*Innen kein Thema mehr.
Die Lügen der Nazis sind aufgeklärt. Jeder weiß, dass nicht „seit 5 Uhr 45 zurückgeschossen“ wurde, wie Hitler das in seiner Reichstagsrede an jenem 1. September behauptete, um den Überfall in einen Verteidigungskrieg umzudeuten. Offensichtlich ist, dass nicht polnische Soldaten den Sender Gleiwitz überfielen, wie das die deutsche Propaganda behauptete, sondern SS-Männer, die eine Rechtfertigung für den Angriff schaffen wollten.
Bekannt ist das Bild des Schulschiffs „Schleswig-Holstein“, das im Danziger Hafen die polnische Festung Westerplatte beschoss – und zwar vermutlich bereits um 4 Uhr 45, weshalb Hitler sogar bei der Uhrzeit gelogen hatte. Und das populärste Foto, um all dies zu illustrieren, sind wohl die deutschen Soldaten, die lachend einen Schlagbaum an der deutschen Grenze einreißen.
Aber damit sitzen wir Trugbildern eines harmlosen, schnellen Konflikts auf – im wahrsten Sinne des Wortes, denn bereits das Bild mit dem Schlagbaum ist ein nachträglich gestelltes Foto, für das sich Danziger Polizisten und Grenzer als Soldaten verkleideten. Den Krieg verklärten schon die Nazis im Nachhinein als „Feldzug der 18 Tage“, womit sie einerseits auf den raschen militärischen Erfolg anspielten und andererseits darauf, dass die Sowjetunion in Folge des Hitler-Stalin-Pakts am 17. September die polnische Ostgrenze überschritt und mit ihrem Angriff im Rücken der Polen endgültig deren Niederlage besiegelte. Zudem betonte die deutsche Propaganda damit, den Krieg eigentlich allein gewonnen zu haben, weil der Verbündete erst dann aktiv geworden sei, als man selbst bereits alle Schwierigkeiten beseitigt hatte.
ist Professor für Holocaust-Studien am Touro College Berlin. Von Svea Hammerle, Hans-Christian-Jasch und Stephan Lehnstaedt ist jüngst erschienen: 80 Jahre danach. Bilder und Tagebücher deutscher Soldaten vom Überfall auf Polen 1939, Metropol-Verlag: Berlin 2019.
Für viele Soldaten ein großes Abenteuer
Zeitgenössisch war der Krieg sowieso völlig unumstritten. Für den Kadetten Hans Buch, der auf der „Schleswig-Holstein“ seine Offiziersausbildung durchlief und ein reich illustriertes „Logbuch“ führte, war höchstens das „Feuer der Polen“ verbrecherisch, die sich auf der Westerplatte nicht ergeben wollten: „… von allen Seiten und von oben … die Baumschützen, das ist die größte Sauerei.“ 1939 war der Krieg für ihn eine Art Expedition, ein großes Abenteuer. Wie Touristen begaben sich die Seeleute des Schulschiffs der Kriegsmarine auf Landgang und fotografierten die Ruinen der Festung Westerplatte und die Zerstörungen, die die deutschen Geschütze angerichtet hatten. Am 10. Oktober 1939 nahm Buch Abschied von Danzig: „Lebe wohl, alte Stadt, die wir heimgeholt haben ins Reich, die wir befreit haben aus den Händen der polnischen Unterdrücker, um die wir gekämpft haben. Wir werden dich nie vergessen, du warst unser Erleben, das tiefste, das wir bisher in unserem Leben hatten.“
Doch das war nicht das Ende. Selbst wenn der Zweite Weltkrieg eine wirklich globale Dimension erst 1941 erreichte, mit dem Angriff Japans auf Pearl Harbor, war der „Polenfeldzug“ doch dessen Anfang – fünfeinhalb Jahre sollte ohne Unterbrechung gekämpft, gestorben und gemordet werden. Und keinesfalls waren diese ersten eineinhalb Monate des Kriegs harmlos. Selbst auf deutscher Seite gab es über 10.000 Tote und 30.000 Verletzte – doch das war nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der über Polen gekommen war. Den annähernd 70.000 toten Soldaten standen noch einmal so viele zivile Opfer gegenüber.
Die Massenmorde der „Intelligenzaktion“
Bereits 1939, und nicht erst zwei Jahre später in der Sowjetunion, zogen unmittelbar hinter den Wehrmachtseinheiten „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD“ in Polen ein, die Heinrich Himmler mit der „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente rückwärts der fechtenden Truppe“ sowie einer weitgehenden „Vernichtung“ der polnischen Intelligenz beauftragt hatte. Die Einsatzgruppen gingen deshalb zunächst weniger gegen polnische Juden als vielmehr gegen christliche Polen vor und mordeten unter dem Schlagwort „Intelligenzaktion“. Die Deutschen eliminierten gezielt die kirchlichen, politischen und intellektuellen Eliten Polens, weil sie das Land seiner Führungsschicht berauben und jeglichen Widerstand im Keim ersticken wollten.
Unter all diesen Toten waren selbstverständlich auch Juden, und darüber hinaus gab es zahlreiche antisemitische Ausschreitungen, aber in jenen ersten Tagen des Weltkriegs machten katholische Polen über 80 Prozent der Opfer aus. Die systematische Vernichtung der Juden begann erst 1941. Sie galten 1939 bereits als Feinde, aber die größere Bedrohung schien von den Polen auszugehen, die Berlin als potenzielle Träger des Widerstands ausgemacht hatte.
Dass quasi selbstverständlich Zerstörungen, Hunger, Elend, Flucht und Vertreibung bereits in den ersten Kriegstagen stattfinden und Zivilisten in jeder erdenklichen Form Opfer militärischer Gewalt wurden, kann angesichts dieser Mordpolitik kaum überraschen. Außerdem erlebte nicht nur Warschau bereits zu diesem Zeitpunkt alles Entsetzen des Bombenkriegs. Die Luftwaffe legte zahlreiche Kleinstädte in Schutt und Asche. So beispielsweise Wieluń, wo am Sonntag immerhin Bundespräsident Steinmeier der Opfer gedenkt: Schon um 4.37 Uhr an jenem 1. September hatten fast hundert deutsche Stukas den westpolnischen Ort angegriffen. Es war Terror aus der Luft: Schätzungsweise 1.200 Zivilisten starben, größtenteils im Schlaf überrascht. Von Wieluń, das ohne jegliche militärische Bedeutung war, blieben nur rauchende Trümmer.
Auftakt zum Vernichtungskrieg
Der Überfall auf Polen war der Auftakt zum Vernichtungskrieg. Schon am 17. Oktober 1939 verlangte Hitler von Heinrich Himmler ausdrücklich einen „Volkstumskampf, der keine gesetzlichen Bindungen“ mehr kennt. Es ging um die Vernichtung der polnischen Nation, selbst wenn das nicht bedeutete, alle Polen umbringen zu wollen. Tatsächlich wurden während des Kriegs keine Überlegungen in dieser Hinsicht angestellt. Allerdings war in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus völlig klar, dass eine slawische Bevölkerung höchstens die Rolle von Knechten für deutsche Siedler einnehmen durfte. Unter diesen Prämissen und für diese Überzeugungen kämpften die Deutschen im Weltkrieg.
Dass der Überfall auf Polen und seine mörderischen Konsequenzen für unsere Nachbarn bedeutsamer waren und sind als für uns, ist nicht wirklich überraschend, denn trotz allem war das für Deutschland nur einer von vielen Kriegsschauplätzen und nur einer von vielen Tatorten. Dennoch erstaunt hierzulande der Mangel an Beschäftigung mit diesen ersten sechs Kriegswochen. Nur die DDR hatte den 1. September zum „Antikriegstag“ erklärt. Schnell verkam das Datum in Ostdeutschland zum ritualisierten Gedenken an „den“ Zweiten Weltkrieg und zur allgemeinen Besinnlichkeit gegen Krieg und militärische Konflikte; das konkrete Ereignis und die damit verbundenen Verbrechen schafften es aber nicht ins Bewusstsein.
Bis heute gilt der Krieg gegen Polen in der Bundesrepublik Deutschland weithin als eine Art Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der 1941 in der Sowjetunion begann. Erst dort stiegen schließlich die eigenen Verlustzahlen, gab es nicht nur Blitzsiege, und erst in den folgenden Jahren wurde auch die deutsche Zivilbevölkerung vom Krieg getroffen. Der „Polenfeldzug“ scheint demgegenüber eine kleine Sache, nicht der Rede wert und kaum zu vergleichen mit den späteren Schrecken des „richtigen“ Weltkriegs: So war an Bord der „Schleswig-Holstein“ nach den Kämpfen um die Westerplatte, deren polnische Mannschaft sich am 7. September ergab, Entspannung angesagt. Hans Buch schrieb am 20. September in sein „Logbuch“: „Mit einem Indianergeheul tobten wir, die Kadetten, durch den gelben, weißen Dünensand, Dünengras … den Strand entlang. Muscheln knirschten unter unseren Füßen … Medizinbälle rollten … dann stürzten wir in die Brandung, ließen uns tragen von den brechenden Wellen und waren froh und glücklich.“
Die meisten Täter entkommen nach dem Krieg
Den Angriff auf Danzig hat Günter Grass in seiner „Blechtrommel“ künstlerisch verewigt, aber er blieb damit eine Ausnahme. Es ist bezeichnend, dass es auf Deutsch wohl mehr wissenschaftliche Untersuchungen zum „Bromberger Blutsonntag“ gibt – also den polnischen Morden an ungefähr 400 Volksdeutschen – als zu den Zehntausenden Morden der Deutschen selbst. Die meisten dieser Untersuchungen erschienen in den 1950er bis 1970er Jahren und hatten durchaus etwas Relativierendes an sich. Sie passten beispielsweise zum Prozess gegen Erich von Manstein, der 1939 Generalstabschef der Heeresgruppe Süd gewesen war; 1949 stand er vor Gericht und wurde wegen Kriegsverbrechen zu 18 Jahren Haft verurteilt, nicht allerdings für Vergehen in Polen – was die Legende vom sauberen Krieg zu bestätigen schien.
Immerhin in dieser Hinsicht ist ein Wandel zu beobachten, denn die deutschen Verbrechen und der mörderische Charakter bereits der ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs sind spätestens seit Jochen Böhlers grundlegender Studie „Auftakt zum Vernichtungskrieg“ von 2006 wissenschaftlich nicht mehr umstritten. Dennoch bleibt ein Bild weitgehenden Unwissens. Es gibt andere Prioritäten unseres Gedenkens, sowohl staatlicherseits, etwa in Schulbüchern, wie zivilgesellschaftlich, in Gedenkstätten und medial. Polemisch gesprochen war der „Polenfeldzug“ nicht verbrecherisch genug, es gab nicht genug Opfer, um mit anderen Massenmorden zu konkurrieren; und sensationslüsternen Exhibitionismus à la „Hitlers Frauen“ bedient er gleich gar nicht.
Medien, staatliches und zivilgesellschaftliches Desinteresse bedingen und verstärken sich also gegenseitig. Die Aufmerksamkeitsökonomien sind anders geartet. Die Folgen dieses Nichtwissens sind mangelndes Verständnis für unseren Nachbarn und europäischen Partner. Sie verhindern eine Aussöhnung und sie verhindern einen ernsthaften Dialog, der nicht zuletzt den Austausch darüber umfasst, warum der Angriff auf Polen für uns nicht so wichtig ist wie für unser Nachbarland.
So darf es nicht bleiben. Wir sollten uns tatsächlich mit Polen und der deutsch-polnischen Geschichte auseinandersetzen. Das Gespräch mit den Nachbarn suchen, und nicht nur mit dortigen Freunden, sondern auch mit unbequemen Partnern. Vor allem aber müssen wir lernen – und Unwissen und Stereotype überwinden. Vielleicht können wir dann endlich gemeinsam und friedlich das tun, was Hans Buch am 5. Oktober 1939 lediglich als siegreicher Krieger unternahm: „In der Abenddämmerung fahren wir unter den Klängen polnischer Schallplattenmusik zurück. Wir lachen.“
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