piwik no script img

Essay Die französische GesellschaftRisswerke im Glas

Demolierte Fenster in der Pariser Innenstadt erzählen von der Komplexität der Verhältnisse in Frankreich. Ein Versuch, sie besser zu verstehen.

Zerstörte Scheiben symbolisieren den französischen Machtkampf zwischen Ordnung und Wut Foto: dpa

Es gibt ja diese Geschichte, die immer wieder gern erzählt wird, die Geschichte vom Riss, der durch die Gesellschaft geht. Man kann sie sich so vorstellen: Das Blatt einmal gründlich falten, dann die Falzstelle an die Tischkante legen und das Papier sauber in zwei Hälften trennen. Auf die eine Seite kann man dann links, auf die andere rechts schreiben. Oder EliteVerlierer. Oder NationalistenKosmopoliten. Autoritäre – Liberale. Revolutionäre – Reaktionäre. Provinz – Metropole.

Komischerweise decken sich die Begriffe nicht besonders gut, oder wiederum zu gut, aber anders, als man das erwartet hätte. Die rechte Internationale. Die linken Nationalisten. Die revolutionären Reaktionäre. Die liberale, kosmopolitische Elite, die von rechts als zu links und von links als zu rechts verstanden wird. Dazwischen die Verlierer, die sich weder für rechts noch links interessieren, sondern für das Sonderangebot im Supermarkt, weil die Lebenshaltungskosten sie sonst umhauen.

Gesellschaften sind komplexer als ein leeres Blatt Papier, und die Geschichte mit dem Riss erzählt sich vermutlich nicht wie eine Bastelaufgabe für Kinder, vielleicht geht sie eher so: Den Fäden eines Spinnennetzes ähnlich, nur verwinkelter, unvorhersehbarer sprengen die Risse im Glas eines Waschsalon-Fensters von ihrem Mittelpunktweg, wo ein Stein, Stock oder eine Metallstrebe aufschlug.

Die Risse im Glas tauchen nicht nur an Luxusgeschäften, Banken und bourgeoisen Brasserien auf, sondern eben auch an Waschsalons, Supermarkttüren und gewöhnlichen Cafés. Sie vermehren sich in den Nachrichtenbildern, auf Videos im Netz, werden zu Symbolen einer ihrer inneren Sicherheit verlustig werdenden alten Welt, in der die Ordnung sich nicht mehr so recht zu helfen weiß gegen die Wut im eigenen Land.

Wenig Wärme, zu viel Kälte und Glätte

Sieht man die Rissstrukturen zum zehnten, zwanzigsten Mal, scheint es, als beschrieben die Frakturen Paris, Frankreich, Europa hier und jetzt, auch wenn die Fenster überall ein bisschen anders aussehen, in Berlin, in Budapest, in Rom, in der abgelegenen Kleinstadt irgendwo in der spanischen, polnischen Provinz.

Als ich in Paris zum ersten Mal davor stehe, staune ich, wie man in einem Museum über eines der Bilder staunt. Ich strecke meine Hand aus, kalt und glatt die Oberfläche. Und das ist jetzt echt? Oder doch eher Sinnbild für das, was diese Union kurz vor den europäischen Wahlen auszeichnet?

Die Institution Europa jedenfalls wirkt demoliert, man sieht eher die Risse als die Fläche drum herum, wenig Wärme, zu viel Kälte und Glätte. Damit gewinnt man selten eine Wahl oder gar die Herzen, was in der emotionalisierten Politik momentan wichtiger scheint, als die Köpfe zu erreichen oder sich daran zu erinnern, dass Verwaltungen nicht für Romantik, sondern für pragmatische Prozesse da sind.

Fraternité ist ein falsches Register, wenn es um Gesellschaft, nicht um Familie geht

Vom vollmundigen französischen Dreiklang der Liberté, Égalité, Fraternité ist nicht viel geblieben. Die Liberté wird seit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2015 stückweise zurückgebaut, die Egalité ist nur noch ein Witz, aber kein guter, und Fraternité schlägt allzu oft von einem inkludierenden in einen exkludierenden Begriff um, der nicht im Fremden den Bruder erkennt, sondern in der Verwandtschaft die Grenze des Mitgefühls. Vermutlich war Fraternité immer schon eine falsches, mindestens aber großzügig zu interpretierendes Register, wenn es um Gesellschaft und nicht um Familie geht. Mit dem Wort Solidarité käme man an dieser Stelle wohl weiter.

Europa scheint entweder unerreichbar oder unerheblich

An einem Samstag durch Paris laufen, um die Geschichte der Risse besser zu verstehen, an den verbarrikadierten Läden vorbei, den Graffiti, die von „Macron demission“ bis hin zu „Arbeit macht frei“ reichen, auf die abgesperrten Straßen zu, an deren Eingang zur Schlacht gerüstete Einsatzkräfte darum bitten, die Nebenstraße zu nutzen, nicht schräg über den Place Charles de Gaulle zu flanieren, am Triumphbogen entlang, dem größten Verkehrskreisel dieses um Verkehrskreisel gerade kämpfenden Staats.

Die Antwort darauf, wie und weshalb dieser Kampf seit Monaten stattfindet, variiert, je nachdem, wen meiner Pariser Bekannten ich frage. Ich höre von Leuten, denen die Werte, Vorzüge und Freiheiten der Nation und Europas zu abstrakt, zu fern geworden sind, manche würden sagen: zur Heuchelei, und ich höre von Leuten, denen Revolutionsdurst über eine innere Langeweile hinweghilft, die sich selbst bedeutsam fühlen wollen in einer öden Zerstörungswut, die mit schiefen historischen Analogien aufgeladen ist.

Etwa eine Armlänge ums Epizentrum reicht die typische Verästelung des Risswerks im Glas. Auch davon handelt die Geschichte: Europa scheint vielen entweder unerreichbar oder unerheblich, ein Hobby der Elite, ein Artefakt, ausgestellt in einer Vitrine. Man zieht sich lieber in einen engen Kreis, eine eingeschworene Fraternité zurück gegen die Kälte und die zu abstrakten Werte drum herum.

Hinter Glas sitzen die Cafégäste auf den wintergartenähnlichen Terrassen beim Gare Montparnasse und blicken auf den Zug der vorbeiziehenden Mai-Demonstranten, mit Taucherbrille gegen das Tränengas gerüstet, wahlweise ein Dosenbier oder eine Benalla-Maske dazu. An einen Bully gelehnt packt ein Polizist sein Sandwich aus. Eine Kellnerin wischt im Café einen der Tische ab, man schenkt sich Tee nach, faltet die Serviette und reißt sie gedankenverloren entlang der Falz entzwei.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Schön, dass der gut geschriebene und nett zu lesende Artikel wenigstens als Essay bezeichnet wird. Über die Frage der Komplexität der Verhältnisse in Frankreich erfährt man leider nichts. Und wenn man nur in Paris weilt und dort mit ein paar Bekannten parliert, kann man in die Komplexität wahrscheinlich auch nicht eintauchen. Wie ist denn die politische Einstellung der Menschen in Paris, am Straßenrand, und in der Provinz, die der Gelbwesten, wie stehen denn die politischen Parteien zur Kritik an ihrer Regierung, wer ist denn Europas überdrüssig und warum? Risse im Glas hat es in der Tat schon in vielen Städten gegeben. Gerne hätte man mehr darüber erfahren, was die Bekannten in Paris denken - aber auch, wer sie sind - und was die Bauern in der Normandie und der Bretagne denken, welche Steuerreform Macron vobereitet, wie hoch der Mindestlohn ist und warum so viele Arbeitslose nicht arbeiten gehen - obwohl alle meinen , es gäbe genügend Jobs und Macron solle doch nur mal ordentlich durchgreifen wie Schröder und eine vernünftige Hartz 4 - Reform durchsetzen. Was ist mit dem Rassismus bei den Geldwesten und den anderen Franzosen und der Angst vor den Chinesen? Wer lehnt Europa ab und warum - und warum wird Europa dann doch gelobt und gewollt?



    Der flanierende Spaziergang von Frau Bossong ist geprägt von einer bürgerlichen Einstellung, die in ihrer gewollten Literarizität abstoßend wirkt und nichts mit der Bevölkerung und den Zuständen in Frankreich zu tun hat. Denn dass ein Riss sich ausbreitet wie Fäden eines Spinnennetzes, dass Europa brüchig wird, all diese Metaphern sind wunderschön, aber was sagen sie aus über den fehlenden Mut zu einer Revolution, über das Sich-Klammern an Nationalismen, über zunehmende Fremdenfeindlichkeit, über die Schwierigkeiten, finanziell über die Runden zu kommen, über die Merkel-Bewunderung und die Ablehnung von konkreten linken Ideen? Nichts.

  • Ja mit Watebällchen kann man keine Kapitalsiten beeindrucken. Wer Menschen die Würde raubt, und sie zu auswechselbaren Sklaven machen will, sollte dann schon Gegengewalt akzeptieren lernen. Wer Menschen psychisch zu zerstören- ihnen also seelische Gewalt antun kann aufgrund seiner Macht- weiß genau daß diese mit realer Gewalt reagieren. Denn physisch sind die Mächtigen ja unantastbar. Das ist auch der Grund für die zunehmende Militarisierung der Sicherheitskräfte. Die Angst vor einer Revolution , und damit einem Machtverlust, sitzt tief- seit Anbeginn der kapitalistischen Geschichte. Aber immerhin wissen sie scheinbar, daß sie was falsch machen.....

    • @ophorus:

      Die durchaus richtig beobachtete Aufrüstung der französischen Polizei hat vermutlich viel eher etwas damit zu tun, das in dieser wundervollen Stadt in den vergangenen 4 Jahren Priester vorm Altar geköpft, alte jüdische Damen erst gefoltert und anschließend vom Balkon geworfen wurden, Polizisten in die Falle gelockt wurden mit der Absicht, sie bei lebendigem Leib zu verbrennen, oder eben hunderte Konzertbesucher abgeschlachtet wurden. Und das ist nur eine stark gekürzte Aufzählung.

  • "Komplexität der Verhältnisse in Frankreich"

    Die "Komplexität" gibt es auch durchaus hier. Da wird allerdings oft drüber ein dualer Polarisierungsfilm ausgeschüttet.