Eskalation in der Ukraine: „Krieg gegen das eigene Volk“
Nach einer blutigen Nacht in Kiew ist die Zahl der Toten auf mindestens 25 gestiegen. Ein Krisentreffen zwischen Janukowitsch und Klitschko blieb ohne Ergebnis.
KIEW ap/afp/dpa | Brennende Reifen, Tränengasschwaden und tödliche Schüsse: Bei den schwersten Ausschreitungen in der Ukraine seit Ende der Sowjetunion sind in Kiew jüngsten offiziellen Angaben zufolge mindestens 25 Menschen ums Leben gekommen. Die auf dem Platz verschanzten Demonstranten steckten Barrikaden in Brand und setzten sich mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Molotowcocktails zur Wehr. Wie das Gesundheitsministerium am Mittwochmorgen mitteilte, wurden außerdem 241 Menschen mit Verletzungen in Krankenhäuser gebracht.
Unter den Verletzten waren demnach auch 79 Polizisten und fünf Journalisten. Zuvor hatten die Behörden von mindestens 18 Toten gesprochen. Das medizinische Zentrum der Opposition erklärte, es habe etwa 20 Tote gegeben. Mehr als 400 Demonstranten seien verletzt worden. Tausende Polizisten stürmten am Dienstagabend ein Protestlager der Opposition auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. Rund 20.000 Regierungsgegner setzten sich mit Steinen, Knüppeln und Brandbomben zur Wehr und sangen dabei die Nationalhymne.
Zahlreiche Zelte auf dem Platz im Zentrum der Stadt gingen in Flammen auf, als die Polizei einschritt. Die Sicherheitskräfte kamen mit Wasserwerfern und Blendgranaten. „Hier sieht es aus wie in einem Krieg gegen das eigene Volk“, sagte Dmitro Schulko, einer der Demonstranten. Der 35-Jährige trug eine Brandbombe in den Händen, bereit, sie zu werfen. „Wir werden uns selbst verteidigen“, sagte er.
Oppositionsführer und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko trieb die Menschen auf dem Maidan zum Widerstand an. „Wir werden nirgendwo hingehen“, rief er. „Dies ist eine Insel der Freiheit und wir werden sie verteidigen.“
„Kriminelle, die vor Gericht gehören“
Präsident Wiktor Janukowitsch verteidigte den Einsatz von Gewalt. Die Opposition habe die „Grenzen überschritten“, als sie ihre Anhänger auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew „zu den Waffen gerufen“ hätte. Es handle sich um „Kriminelle, die vor Gericht gehören“.
Noch am Abend traf Klitschko Präsident Wiktor Janukowitsch zu einem Krisengespräch. Anschließend erklärte er, es sei zu keiner Verständigung gekommen, wie die Situation entschärft werden könne. Er habe Janukowitsch aufgefordert, die Räumung des Platzes zu stoppen, damit es nicht noch mehr Tote gebe. Der Präsident habe nur gesagt, die Demonstranten sollten nach Hause gehen und mit ihren Protesten aufhören. „Ich bin sehr unglücklich, weil es keine Diskussion gab“, sagte Klitschko. „Sie wollen nicht zuhören.“
Janukowitsch warf den Regierungsgegnern seinerseits den Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme vor. Sollten sich die Oppositionsführer nicht von radikalen Kräften distanzieren, werde er „andere Töne anschlagen“, drohte der Präsident.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich geschockt von der Eskalation und der „inakzeptablen Gewalt“. Er forderte, dass wieder unverzüglich Gespräche aufgenommen werden, um schnell zu greifbaren Ergebnissen zu kommen. Weitere Instabilität und weitere Unruhen zu verhindern habe jetzt absolut höchste Priorität, erklärte UN-Sprecher Martin Nesirky.
Sanktionen der EU?
US-Vizepräsident Joe Biden mahnte Janukowitsch in einem Telefonat zur Mäßigung. Zudem drückte er laut einer Mitteilung des Weißen Hauses seine tiefe Besorgnis über die schweren Ausschreitungen aus. Biden rief Janukowitsch dazu auf, die Sicherheitskräfte zurückzuziehen und „maximale Zurückhaltung zu üben“. Die Regierung habe eine besondere Verantwortung, die Situation zu deeskalieren.
Auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, die ukrainischen Sicherheitskräfte stünden besonders in der Pflicht, die Lage zu entschärfen. Angesichts des Blutvergießens schließt er mittlerweile Sanktionen der Europäischen Union gegen die Ukraine nicht mehr aus.
Die Proteste begannen, als Janukowitsch im Herbst ein unterschriftsreifes Abkommen mit der Europäischen Union auf Eis legte und sich stattdessen Russland zuwandte. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland sehen viele Ukrainer skeptisch. In den russischsprachigen östlichen und südlichen Regionen des Landes dagegen ist Janukowitsch weiter populär. Hier sind die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland stark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken