Ertrunkene Menschen mit Behinderung: Wie konnte das passieren?
Trotz aller Warnungen vor der Flut: In einem Sinziger Wohnheim ertranken zwölf Menschen mit Behinderung. Viele Details sind noch immer unklar.
Sie und ihr Mann Uli Martin wohnen in der Sinziger Pestalozzistraße. Hier steht ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung. Es heißt „Lebenshilfehaus“. Veronika Wiertz und Uli Martin mussten mitverfolgen, wie 12 der 36 Bewohnerinnen und Bewohner in der Flut der Ahr ertranken. Zwölf Menschen, die körperlich und geistig beeinträchtigt waren.
Am Mittwoch, dem 14. Juli 2021 geschah es. „Gegen 22.30 Uhr war ich noch mit dem Hund unterwegs. Als ich mich so um 23.30 Uhr ins Bett legte, war noch nichts zu sehen von der Flut.“ Aber etwas stimmte nicht. Wiertz und Martin erzählen, dass sie gegen Mitternacht aufwachten.
Wiertz trat vor die Tür. Das Wasser stand bereits bis zur Treppe. Sie hörten Hilfeschreie aus dem Lebenshilfehaus. Wiertz traute sich nicht mehr, über die Straße zu gehen. Zu tief war das Wasser im Garten des Wohnheims, aus dem die Schreie kamen, und zu stark die Strömung des reißenden Flusses. Martin versuchte die Feuerwehr zu erreichen: „Da schreit jemand drüben im Wohnheim um Hilfe.“
Wann kam das Signal zur Evakuierung?
Zwei junge Feuerwehrmänner tauchten unvermittelt in der Straße auf. Sie versuchten über die Straße zu dem Wohnheim zu kommen, aber Veronika warnte sie: „Da vorne geht es sehr tief runter. Das ist zu gefährlich.“
Zu dieser Zeit befanden sich 36 Menschen mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung im Wohnheim. Die Feuerwehr hatte nach Informationen des SWR die Nachtwache im Heim– bestehend aus einem einzigen Mitarbeiter – gewarnt und zur Evakuierung der Bewohner*innen aufgerufen. Doch das Wasser sei innerhalb von Minuten so hoch gestiegen, dass eine Rettung nicht mehr möglich war.
In der Nachbarschaft erzählt man, als das Wasser das Erdgeschoss überflutete, sei der Mitarbeiter gerade damit beschäftigt gewesen, Menschen aus einem anderen Gebäude herauszuhelfen. Der Bewohner, der sich am Lebenshaus ans Fenster klammerte, wurde nach etwa 30 Minuten von einem Rettungsboot der Feuerwehr aufgenommen und in Sicherheit gebracht. Zwölf der Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnheims starben in der Flut.
Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat das Todesermittlungsverfahren, wie das in diesen Fällen üblich ist, aufgenommen. Es wird außerdem geprüft, ob sich eine der beteiligten Personen strafbar gemacht hat. Kreisverwaltung und Lebenshilfe möchten zu dem genauen Ablauf noch keine Angaben machen. Deshalb lässt sich der genaue Hergang noch nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Unklar ist zum Beispiel, wann genau die Feuerwehr das Signal zur Evakuierung des Wohnheims gegeben hatte.
Acht Meter Flut
Grundsätzlich gab es frühzeitig Warnungen vor den schweren Unwettern. Die Europäische Flutwarnbehörde warnte schon vier Tage vor der Flut vor möglichen Überschwemmungen. Der Deutsche Wetterdienst hatte für die Region „extrem ausgiebigen Dauerregen“ und Hochwasser angekündigt. Die Konsequenzen dieser Warnungen sind allerdings Sache der Zuständigen vor Ort. Der Katastrophenschutz ist aus rechtlicher Sicht Sache der Kommunen und Kreise.
Am Dienstag, den 13. Juli wurden nach Angaben des Kreises Ahrweiler alle Feuerwehrleiter im Kreis über die Wetterprognose informiert. So auch der in Sinzig. Die Feuerwehr dort besteht ausschließlich aus Ehrenamtlichen, so wie 95 Prozent der Feuerwehren in ganz Deutschland.
„Für jede Art von Notfall gibt es klar vorgegebene Notfallmaßnahmen“, so Silvia Oestreicher, Pressesprecherin beim Deutschen Feuerwehrverband. „Aber die örtlichen Feuerwehren müssen selbst einschätzen, wie hoch die Gefahrenstufe vor Ort ist.“ Sie müssen die vorgegebenen Musterpläne entsprechend anpassen.
Und das ist nicht so leicht, denn „2016 war die bislang höchste Flut an der Ahr bei etwa 2,8 Metern“ erzählt der ehrenamtliche Feuerwehrmann, Alex Reich (50) aus Hönningen, einem anderen Ort an der Ahr. „Wir haben viele Lehren aus der damaligen Flut gezogen und Maßnahmenpläne aufgestellt. Ich habe mich also darauf eingestellt, etwa zehn Keller im Dorf leerpumpen zu müssen. Aber was dann kam, damit hat keiner von uns gerechnet.“ Die Flut war diesmal mehr als doppelt so hoch in Hönningen. In Sinzig war sie sogar acht Meter hoch.
Erste Warnungen am 13. Juli
Reichs Frau Beate ist selbst fast in den Fluten umgekommen. Sie wollte im Kindergarten Spatzennest, der am Ufer der Ahr liegt, Sandsäcke füllen und zum Schutz der Häuser ins Dorf bringen. Hier wurden sie und ihre beiden Kinder von der Flut überrascht. „Ich kam mir vor wie diese Frau aus dem Film ‚Titanic‘, die ihre beiden Kinder noch in den Schlaf singt, bevor sie alle drei mit dem Schiff im Wasser versinken“, sagt sie. Erst am nächsten Morgen konnten sie und ihre beiden Kinder lebend aus dem wasserumspülten Kindergarten geborgen werden.
„Wir bei der Feuerwehr können nicht einschätzen, welche konkreten Maßnahmen es braucht, um auf eine so abstrakte Prognose wie ‚50 Milliliter Niederschlag pro Quadratmeter‘ zu reagieren“, sagt Reich. „Dazu brauchen wir Experten, die erklären, was konkret zu tun ist.“
Die Stadt Sinzig hatte die Bevölkerung erstmals am 13. Juli gewarnt. Auf ihrer Facebook-Seite kündigte sie „heftigen Regen“ an und riet „insbesondere den Anliegern in Straßenzügen im unmittelbaren Einzugsbereich der Ahr, entsprechende Vorkehrungen zu treffen“. Am Abend des 14. Juli mahnte sie dann, den Uferbereich „unbedingt“ zu meiden.
Noch später am Abend wurde in Sinzig der Katastrophenschutzalarm ausgerufen. In dieser Situation können auch Einsatzkräfte aus umliegenden Kreisen und Kommunen herangezogen werden. Die Feuerwehr in Sinzig entschied sich dazu, alle Gebäude, die bis zu 50 Meter von der Ahr entfernt liegen, zu evakuieren.
„So viel Trauer, Verluste, Betroffenheit“
Das Gebäude der Lebenshilfe liegt aber mehr als 250 Meter vom Ufer entfernt. „Eine Hauswirtschaftskraft der Lebenshilfe wurde nachts um 2 Uhr von ihrer Tochter über das Hochwasser in Walporzheim Ahr-aufwärts informiert“, erzählt Kerstin Laubmann. Sie ist Pfarrerin der Evangelischen Gemeinde Remagen-Sinzig. „Sofort versuchten sie und ihr Mann, Kontakt aufzunehmen zu den Bewohnenden. Als das nicht klappte, versuchte ihr Mann, in die Pestalozzistraße zu fahren, um dort zu helfen. Aber er kam schon gar nicht mehr hin: Zwei Straßen oberhalb der Pestalozzistraße sah er im Dunkeln schon das Wasser schimmern.“
Als Pfarrerin bekommt Laubmann in den Tagen nach dem Hochwasser unmittelbar mit, wie die Menschen im Ort mit der Katastrophe umgehen. Die Anteilnahme in Sinzig sei groß. „So einen intensiven Gottesdienst wie diesen nach der Flut habe ich, glaube ich, noch nie gefeiert“, erzählt sie. „So viel Trauer, Verluste, Betroffenheit. Viele hat es so zerrissen. Ich habe noch nie erlebt, dass Menschen noch eine Stunde nach dem Gottesdienst zusammenstanden, um miteinander sprechen zu können. Und das in Anbetracht der schwierigen Umstände, die die Pandemie bereitet.“
Gleichzeitig sind viele Gemeindemitglieder aber noch ganz anders gefordert. Viele Häuser sind nach wie vor unbewohnbar. Die Aufräumarbeiten überlagern vieles. „Die Menschen sind noch nicht bereit für Seelsorge“, sagt Laubmann. „Jetzt arbeiten sie erst in ihren Häusern. Viele haben ihre Kinder zu Freunden und Verwandten gegeben, damit sie hier in Ruhe die Häuser wieder herrichten können.“ Erst wenn der Alltag zurückkomme, werde Zeit sein für intensive Gespräche und die Seelsorge.
Bei anderen hat die Aufarbeitung des Erlebten schon begonnen. Matthias Mandos ist Geschäftsführer der Lebenshilfe Rheinland-Pfalz. Er richtet den Blick auf die Zurückgebliebenen: „Die Mitarbeitenden der Lebenshilfe sind leicht bis schwer traumatisiert. Sie werden aktuell psychologisch betreut. Die Menschen hier vor Ort haben ganze Arbeit geleistet. Davor kann man nur den Hut ziehen“, sagt er.
Kurz nach der Katastrophe hat er sich mit dem Sozialminister, dem Opferbeauftragten und dem Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung getroffen. Gemeinsam haben sie beraten, was jetzt für die Menschen aus dem Wohnheim und deren Angehörige zu tun ist. Auf der Tagesordnung stand zunächst die Frage, wo sie zeitweilig untergebracht und betreut werden können. Bewohnbar ist ihr bisheriges Zuhause schließlich nicht mehr. Ein Teil der Bewohner*innen wohnt vorübergehend in einer Einrichtung im Westerwald.
Für konkrete Lehren aus dem Unglück ist es für die Verantwortlichen vor Ort noch zu früh. Fragen stellen sich zu Genüge: Was muss sich in Zukunft ändern? Wie können Warnungen schneller ankommen? Kann eine einzige Nachtwache überhaupt die ganze Einrichtung beschützen? Auf solche Fragen gibt es in Sinzig noch keine Antworten. In der Region ist man noch zu beschäftigt: mit Aufräumen, der Suche nach Vermissten und dem Bergen von Leichen.
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