Nach der Flut im Westen Deutschlands: Die ungewisse Zukunft
Eimerweise schaufeln die Menschen den Schlamm im Eifelstädtchen Gemünd beiseite, es wird repariert und neu angeschafft. Bis zur nächsten Katastrophe?
Eimerweise, berichtet Sozialpädagogin Gerlinde Steigerwald, 55, habe sie nachher den Schlamm weggeschaufelt vom kleinen Urnengrab ihres Mannes. Alfons Döhler, genannt Ali, war im Oktober 2020 gestorben. Seinen Grabstein hat Gerlinde Steigerwald auch wiedergefunden und aufgerichtet.
Jetzt stehen wir an Alis Grab, wie die meisten drum herum wieder frisch mit Blumen geschmückt. Steigerwald zeigt auf dem Smartphone Bilder von den Tagen danach: Wie ein Schlachtfeld, eine Wüste. Manche Angehörige mussten suchen, wo denn wer beerdigt ist.
Gerlinde Steigerwald schluchzt. Sie ist fast ein Jahr danach immer noch massiv vom Tod ihres Mannes angefasst, jetzt zusätzlich vom jähen Chaos. Neben dem Friedhofseingang warten noch Hunderte Kubikmeter Unrat auf die Entsorgung: verrottende Pfanzenreste, Paletten, steinerne Grabeinfassungen, Plastikmüll, das Interieur der gewesenen Friedhofsgärtnerei.
Zwei Ungeheuer in einem Städtchen
„Wo es schön ist.“ Da wolle er hin, hatte Ali kurz vor seinem Tod noch gesagt. Also, entschied Gerlinde Steigerwald, Alis Urne käme in seinen Heimatort Gemünd, auch wenn man 50 Kilometer entfernt in Hauset bei Aachen lebte. Ali hatte noch bis zu seiner schweren Krankheit engagiert im „Bildungswerk Aachen“ gearbeitet, als Geschäftsführer und Projektentwickler mit Dutzenden LehrerInnen zur Transformation von Schulen. Auch Sozialpädagogin Steigerwald arbeitet dort.
„Ali hatte im Sterben so eine Größe, obwohl er so klein war“, sagt Gerlinde Steigerwald plötzlich. Ein lustiger Satz, voller Würde, zum Heulen schön. Zweimal die Woche fährt sie hierher.
Gemünd, keine 4.000 EinwohnerInnen, Kneipp-Kurort, tief unten versteckt im nördlichen Irgendwo der Eifel. Der Name Gemünd kommt von Gemünde: Ort an einer Flussmündung. Mitten in diesem Gemünd mit viel Fachwerk, Ferienhäusern und lauschigen Ecken an den Flussufern mündet die Olef in die Urft. Damit hatte das Städtchen in der Flutnacht gleich zwei Ungeheuer.
Wenn man in diesen Tagen durch den Ort geht und jemandem im Vorbeigehen einer Gruppe Schuftender „Guten Tag“ wünscht, kommt als Antwort sofort „Auch guten Tag. Wollen Sie helfen?“
Wir sitzen bei Ali Döhlers ältester Schwester Monika Feld, 74, und ihrem Mann Reinhard, 81, in der halbwegs hergerichteten Hinterhofterrasse ihres einst schmucken Häuschens nahe der Urft. Drinnen: Leere, Rohbau, Holzböden raus. Der gelbe Lufttrockner TKK 600 saugt rund um die Uhr Feuchtigkeit aus dem Keller. Es tröpfelt im Flur oben in einen Eimer. „Jeden Morgen sind wieder zehn Liter drin“, sagt Reinhard Feld. In der Nacht strömte das Wasser gut einen Meter hoch durchs Erdgeschoss. Angst? „Als das Wasser die Beine hochstieg, sind wir nach oben.“ Im Ort ist ein Nachbar ertrunken und ein Feuerwehrmann, dessen Rucksack sich in einem Brückengeländer der tobenden Urft verfangen hatte.
Die Frage nach der Schuld
Noch immer drehen sich die Fragen um die Ursachen, vor allem aber um die Zukunft. Die kurzfristige Zukunft, die langfristige, für sich selbst, die vielen Verwandten im Ort – und die Klimaveränderungen. Monika Feld sagt: „Ich habe immer gedacht, wenn hier mal was Schlimmes passiert, kommt vielleicht der Berg runter.“ Sie zeigt den steilen Felsen hinter ihrem Haus nach oben. „Aber Wasser? Und so? Hier sind Baumstämme durchs Tal gedonnert.“
Mindestens einer krachte in Tobis Haus. Tobi, 48, eines der Kinder der Felds, ist zu Besuch, auch er wohnt in Gemünd. Kurz nach der Flut hat er seine Eltern für ein paar Tage zu Gerlinde Steigerwald nach Hauset evakuiert, „für eure psychische Gesundheit“. Die beiden nicken, Monika Feld sagt: „Gut, dass der gesagt hat: Haut ab hier!“ Die Döhler-Feld-Sippe hatte ohnehin ein kluges Entsorgungskonzept entwickelt: Als persönliche Habseligkeiten gerettet waren, hat jeder bei den anderen die Wohnung entrümpelt und die Container gefüllt. Da hält nicht jeder jedes kaputte Stück Vergangenheit noch mal in der Hand und überlegt, ob es nicht vielleicht doch gerettet werden sollte. Sondern: raus.
Fragen bleiben. Schuld? Überall gab es schwere Versäumnisse, Fehleinschätzungen, tödliches Falschmanagement der Talsperrenbetreiber in Belgien (wo die Staatsanwaltschaft ermittelt) wie in Deutschland, Flussbetten wie Betonröhren, Versiegelung allüberall. Oder skandalöse Bau-Grotesken wie die massive Erweiterung des RWE-Kieswerks in Erftstadt-Blessem, durchgepeitscht von CDU und FDP im Ort, direkt an einer Wohnsiedlung, die jetzt in der Kiesgrube schwimmt.
Tobi arbeitet für die Nachbargemeinde Kall im Bereich Klimaschutz. Er sagt, die Talsperren seien auch deshalb vor dem 14. Juli so voll gewesen, weil man nach den Glutsommern Reserven halten wollte. Statt Glut kam die Flut: „Ist das die neue Normalität? Eher wird es noch schlimmer.“ Er fragt sich und alle in der Runde: „Wofür machen wir das jetzt, bis zur nächsten, vielleicht noch schlimmeren Katastrophe?“ Die Frage bleibt rhetorisch, er baut wieder auf.
Reinhard Feld, Rentner
Tobi hat auch ein kurzfristiges Problem. Nächste Woche wird er heiraten. Aber wo feiern? Geplant war: in einer romantischen Mühle. Das Wort sagt schon alles: Mühlen stehen am Wasser. Die Feier-Mühle gibt es nicht mehr. Jetzt will er privat improvisieren in einem der Flutgärten der Geschwister.
Reinhard Feld sagt: „Wir werken überall, aber passen uns der Natur nicht an. ‚Survival of the fittest‘, hat Darwin doch gesagt. ‚Fittest‘ kann man mit ‚den Stärksten‘ übersetzen, aber auch mit ‚den Anpassungsfähigsten‘. Das sind wir Menschen wohl nicht.“ Seine Gattin Monika erzählt von einem Nachbarn: „Der hat, wohl mit viel Schmiermitteln, im Überflutungsgebiet bauen dürfen. Jetzt ist die Urft durch sein Haus hindurch.“
Bleiben, wegziehen? Monika und Reinhard sind nicht mehr im Alter für einen Neuanfang, sagen sie. Und die anderen im Ort? Erst, berichten alle, wollten viele spontan weg, allmählich denken viele um. Ob die komplett verwüstete Fußgängerzone reanimiert wird? Da hätten schon viele Geschäftsleute gesagt: Nein.
Reinhard Feld, überaus vital für seine 81 Jahre: „Wir missbrauchen die Welt, und dann kommt die Natur eben zu Besuch.“ Ohnmacht in der Nacht? „Nein, aber in den Tagen direkt danach, alle haben geschleppt, geschuftet, ich wollte mithelfen. Aber ich merkte, das geht nicht mehr so. Das war Ohnmacht.“
Und dann sagt er noch den Satz, über den sogar Gerlinde Steigerwald lachen kann, zumindest kurz: „Als Toter musst du hier in Gemünd jetzt ja Seepferdchen haben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier