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"Ästhetisch gewann [...] eine [...]Band, die unschlageresker nicht sein könnte[...]. „Zitti e buoni“ war die aggressiv anmutende Erklärung dieser Musiker, dass es in dieser Welt nicht darauf ankomme, lieb und brav zu sein, sondern, im Gegenteil, aufrührerisch, laut und vernehmlich. „Rock ‚n‘ Roll never dies“ [...] Der Aufstand endet nie!"
Die offensichtliche Widersprüchlichkeit die hier zu Tage tritt, möglicherweise repräsentativ für den ESC insgesamt, hat schon etwas faszinierendes. Da wird das wilde und authentische Leben besungen, aber dem vermuteten Kokainkonsum wird sofort mit kollektivem Drogentest begegnet. Was ist nur aus der alten Rockstarattitüde geworden die noch ungebremsten Konsum erlaubte ohne sich dabei für die moralischen Dünkel der breiten Öffentlichkeit auch nur zu interessieren? Man proklamiert, dass es "nicht darauf ankomme, lieb und brav zu sein, sondern, im Gegenteil, aufrührerisch", ausgerechnet aber bei einem Format dessen oberstes Gebot darin besteht auf gar keinen Fall irgendwem weh zu tun oder echte Konflikte zu eröffnen. Man ist also nicht brav, aber es gibt auch niemanden den*die das noch irgendwie stören würde, eine Revolte die nichts will als die Pose um ihrer selbst Willen.
Ebenso bleibt die ambivalente Rolle von Diversität und Queerness beim ESC-Spektakel unterbelichtet, die einerseits dankenswerterweise fraglos einen Beitrag zur Normalisierung leistet, gleichzeitig aber auch immer noch vom Publikum erwarteter Schauwert mit exotik Faktor ist, dessen Funktion nicht zuletzt darin besteht selling point in einem Multi-Milliardenmarkt zu sein.
Supi am Alt werden ist's, nicht mehr alles verstehen zu müssen. Beispielsweise, das für drei halbwegs akzeptable Songs, sowie 23 fachen musikalischen Durchfall, auch noch im Nachklapp Wind von hinten kommt. Der ARD bzw. NDR sollte mehr Demokratie wagen, und die Entscheidung darüber, wer mitträllert dem Votum der Zuschauer überlassen. Sonst bleibt der ESC eine Straftat.
Soll der Ukraine erlaubt werden, Ziele tief in Russland mit westlichen Raketen und Marschflugkörpern anzugreifen? Ein Pro und Contra.
Erster ESC nach Corona-Zwangspause: Die Antithese zum Krisengemurmel
Der ESC war schon immer zuerst Entertainment und Spaß. Auch in Rotterdam spiegelten die Künstler*innen divers und respektvoll das moderne Europa wider.
Erster ESC-Triumph für Italien seit 1990: die Rockband Måneskin nach der Rückkehr in Rom am Sonntag Foto: Alessandra Tarantino/ap
Der 65. Eurovision Song Contest, Samstag bis in die Nacht zum Sonntag aus Rotterdam übertragen, brachte einige Erkenntnisse. Etwa eine über die durch die Coronapandemie vermuteten Gefühle von Einkehr und Besinnung ob des durch die Lockdowns verlangsamten Alltags. Nichts von dieser Kulturkritik geht offenbar in Erfüllung, gefeiert wurden beim Eurovision-Festival wie alle Jahre Akte der Lebenslust, der Party, der Gemeinsamkeit, und zwar eine in Diversity und Respekt.
150 Millionen in 47 europäischen Ländern sowie Israel und Australien schauten live zu. Hätte es, wie sonst auch immer in Deutschland, öffentliche ESC-Partys geben können – sie wären gefeiert worden, zumal, aber nicht nur dort in queeren Communities. Die Künstler*innen des ESC in Rotterdam bildeten zusammen so etwas wie ein Bild des modernen Europa (plus Israel und Australien):
Nicht mehr besonders vermerkt werden muss, dass das eine oder andere Land nichtweiße Künstler*innen auf die Bühne delegiert – wie etwa 1966, als mit Milly Scott für die Niederlande die erste Sängerin mit nichtheller Hautfarbe, postkoloniale Einwanderin aus Surinam, zum ESC kam.
In Rotterdam war geschätzt knapp die Hälfte der Singenden in irgendeiner Weise „divers“ – People of Colour etwa, so wie der Schwede Tusse, als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus dem Kongo nach Schweden gekommen und dort nun eine Ikone, besonders bei den Jüngeren. Alles normal geworden, es ist kein exotisches Ding mehr.
Ästhetisch gewann mit „Måneskin“ eine italienische Drei-Mann-und-eine-Frau-Band, die unschlageresker nicht sein könnte, anders als die finnischen Heavy Metalists von Lordi 2007 aber ohne ironische Allüre. „Zitti e buoni“ war die aggressiv anmutende Erklärung dieser Musiker, dass es in dieser Welt nicht darauf ankomme, lieb und brav zu sein, sondern, im Gegenteil, aufrührerisch, laut und vernehmlich. „Rock ‚n‘ Roll never dies“ erklärte Sänger Damiano David danach lakonisch, übersetzt in etwa: Der Aufstand endet nie!
Italien bekam seine pfingstliche Ausschüttung des heilig europäischen Geistes über sich – und Premier Mario Draghi soll sich sehr gefreut haben. Für Deutschland war es einmal mehr eine künstlerische und (weil es beim ESC ja durch die Punkte auch immer um Punkte geht) sportliche Vollhavarie.
Jendriks intersektional angelegte Antidiskrihymne im Fröhlichkeitsrausch „I Don’t Feel Hate“ soff ab – das eurovisionäre Europa mochte im deutschen Act offenbar nur vormoderne Biederkeit erkennen: Gut gemeint – aber ohne Kraft und Belang. Der Künstler, ausgesucht vom NDR und der ARD, mag sein Talent haben. Deutscher Muff wurde in den Begleitshows vor und nach dem ESC in der ARD dokumentiert:
Sarah Connor, Jan Delay und all die anderen, die da etwas zu promoten hatten – sie erwiesen sich nach der Flut von exzellenten ESC-Peformances als belanglos und spaßbefreit, sich selbst genügend. Der ESC aus Rotterdam war vor allem dies: Eine Antithese zu allem Krisengemurmel in Brüssel, Europa lebt, einmal im Jahr an einem Samstag im Mai, nächstes Mal in Mailand oder Rom.
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Schwerpunkt Eurovision Song Contest
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Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
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