Erneute Parlamentswahl in Griechenland: Neue Wahl, neues Glück – oder Unglück
Manche Griechen freuen sich auf eine erneute Regierung Mitsotakis, andere fürchten sich. Viele sind sich sicher: Die Konservativen werden gewinnen.
Die anderen – das sind Chrysoula, Eleni und Maria. Kurze Begrüßung, man kennt sich. Jeder nimmt sich von einem Stapel Broschüren etwa zwanzig Stück herunter und beginnt sie vor der Bahnstation an Passanten zu verteilen. Das Verteilen geht schnell – Haris Stavratis hat ein gutes Auge, wie er sagt. „Ich erkenne das Hauspersonal, das in den Villen hier arbeitet. Sie haben Feierabend und nehmen die Bahn ins Zentrum. Die spreche ich gar nicht an. Das sind alles Ausländer. Die wählen nicht. Ich frage die anderen, ob sie eine Broschüre wollen.“
Viele wollen. Das reiche Kifissia ist eine Hochburg der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND). Bei der Parlamentswahl im Mai holte sie dort 62 Prozent der Stimmen, die radikallinke Partei Syriza kam auf mickrige 12 Prozent.
Stavratis und seine Begleiterinnen sind ND-Mitglieder. Sie haben sich freiwillig gemeldet, um im Endspurt vor den Parlamentswahlen am Sonntag das gedruckte ND-Programm an den Mann und die Frau zu bringen. Von der ND und vor allem Parteichef Kyriakos Mitsotakis schwärmt er und gibt sich kämpferisch: „Wir holen diesmal ganz sicher die Mehrheit der Mandate.“
Manche loben Mitsotakis für die restriktive Migrationspolitik
Die Wahl am kommenden Sonntag ist bereits die zweite innerhalb weniger Wochen. Zuletzt wählten die Griechen und Griechinnen Ende Mai. Die ND gewann zwar, verfehlte aber knapp die absolute Mehrheit der Mandate in der 300-köpfigen Boule der Hellenen.
Keine der fünf Parlamentsparteien – von der nationalkonservativen Griechischen Lösung ganz rechts über die ND, die sozialdemokratische Pasok, ferner Syriza bis hin zur Kommunistischen Partei ganz links – wollte miteinander koalieren. Die knapp zehn Millionen wahlberechtigten Griechen dürfen also abermals an die Urnen, die – bildlich gesprochen – nun wieder ganz neu gefüllt werden müssen.
Was eine neuerliche Regierung Mitsotakis in den nächsten vier Jahren tun soll? Stavratis und seine Begleiterinnen sind sich einig: „die Wirtschaft weiter stärken, die Digitalisierung der Staatsverwaltung vollenden, die restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik fortsetzen“.
Stavratis und seine drei Kolleginnen arbeiten allesamt in öffentlichen Krankenhäusern. Stavratis ist seit 35 Jahren in der Verwaltung einer Krebsklinik in Kifissia tätig, die Frauen sind Krankenpflegerinnen, alle sind Beamte des griechischen Staates. An der Syriza lässt Stavratis kein gutes Haar. „Das ist eine Chaos-Truppe“, sagt er in einem fast überheblich klingenden Ton. Die anderen nicken.
„Ganz Griechenland wird blau sein“, jubelt Mitsotakis
Nicht nur in Athen stehen die Zeichen auf einen Sieg Mitsotakis’: 500 Kilometer weiter nördlich ist die neu gebaute Uferpromenade der Hafenmetropole Thessaloniki in ein blaues Fahnenmeer getaucht – die Parteifarbe der ND.
Der ehemalige – und vielleicht bald wieder neue – Premier Mitsotakis trägt ein blütenweißes Hemd und keine Krawatte. Er steht vor dem Denkmal des makedonischen Welteroberers Alexander des Großen und bläut durch ein Mikrofon mit erhobenem Zeigefinger seinen Anhängern und Anhängerinnen immer und immer wieder ein: In Athen will er weiter alleine regieren. „Am Sonntag wählen die Griechen ihre Regierung, am Montag krempeln wir die Ärmel hoch“, ruft Mitsotakis, voll Zuversicht. „Ganz Griechenland wird blau sein“, ruft er. Die Menge jubelt.
Die Chancen dafür stehen gut. Die ND-Parteistrategen streben etwa 160 Mandate an. Das wäre eine „stabile Mehrheit“, um bis 2027 „noch viele Dinge zu tun“, wie Mitsotakis betont. Die Betonung liegt auf „stabile“, nicht „überwältigende“. Die Wähler sollen bloß nicht verschreckt werden.
Ein Grund für Mitsotakis’ schier grenzenlosen Elan: Am Sonntag erhält die erstplatzierte Partei – ob eines jüngst veränderten Wahlrechts – bis zu 50 Bonusmandate.
Syriza warnt vor Allmacht der Nea Dimokratia
Einer Umfrage des Forschungsinstituts MRB zufolge könnte die ND ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Mai um 2 Prozentpunkte auf 43,5 Prozent ausbauen. Syriza, unter Ex-Premier Alexis Tsipras, würde laut Umfrage bei 20 Prozent verharren.
Die arg geschrumpfte Syriza regierte von Anfang 2015 bis Juli 2019 in Athen – und warnt nun von einer Allmacht der ND. Nur eine wiedererstarkte Syriza könne Mitsotakis wirklich bremsen, so der Tenor. Die Schere von 20 Prozent zur ND müsse sich, so weit es geht, schließen. Das sei, so Parteioberhaupt Tsipras, „eine Sache der Demokratie“. Sonst bewege sich Griechenland innerhalb der Europäischen Union auf Länder wie Ungarn und Polen zu, in denen jeweils eine Partei im Land durchregierte, fürchtet Tsipras.
Eine Wiederwahl von Mitsotakis schürt in Teilen der hiesigen Politik und Gesellschaft wachsende Ängste. Diese sind begründet: In Griechenland blühen Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption, ein gewaltiger Abhörskandal erschütterte unter Mitsotakis das Land – und trug dazu bei, dass Griechenland um 42 Plätze auf Rang 107 der globalen Rangliste der Pressefreiheit abstürzte, nun das abgeschlagene Schlusslicht der EU.
Dazu kommen eine schwarze Coronabilanz mit 37.000 Toten und wiederholten Lockdown-Brüchen von Mitsotakis, die massive Inflation, sinkende Reallöhne, verheerende Waldbrände, eine Zugtragödie mit 57 Toten oder die jüngste Havarie eines Flüchtlingbootes mit wohl über 600 Ertrunkenen – doch der Popularität von Mitsotakis und seiner ND scheint das nicht geschadet zu haben.
Die bisher Unentschlossenen entscheiden die Wahl
Der sich abzeichnenden Dominanz der ND sieht nicht nur der bei der Wahl im Mai tief gedemütigte Tsipras mit Sorge entgegen. Der Autor und Analyst Georgios Romanos stochert in einem Lokal im gutbürgerlichen Athener Vorort Holargos eher lustlos in einem griechischen Bauernsalat herum.
Für die kommende Wahl hat er eine Vision: Romanos spricht sich unverhohlen für „einen legalen Umsturz“ aus. „Es müssten sechs, sieben, acht oder neun Parteien im neuen Parlament sitzen. Je mehr, desto besser ist das für die Demokratie“, erklärt er. Zuletzt saßen im Parlament fünf Parteien. Der drohenden Allmacht einer ND-Einparteienregierung schöbe das einen Riegel vor, so Romanos’ Lesart. “Es ist gefährlich, wenn Mitsotakis tun kann, was er will.“
Romanos’ Wunsch ist keine Utopie. Laut Umfragen könnten am Sonntag zusätzlich vier Parteien den Sprung über die in Griechenland für den Einzug ins Parlament geltende Dreiprozenthürde schaffen: die ultrarechte Neugründung Spartaner, die ultrareligiöse Niki (der Sieg), die linksnationale Pflefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) sowie die linke, transnationale Mera25 unter Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis.
Entscheiden werden dies bei einer erwarteten Wahlbeteiligung von erneut nur etwa 60 Prozent der Bevölkerung maßgeblich die vielen Unentschlossenen, so Experten. Geben sie letztlich dem haushohen Favoriten ND ihre Stimme oder womöglich einer kleineren Partei?
„Griechenland verfällt. Schon seit Jahren“
Was sie diesmal wählen wird, weiß auch Alexandra Motsiou, 29, noch nicht. Kräuter, Nüsse, Marmelade, Säfte, Bohnen, Kosmetik – die quirlige Griechin packt gerade eine neue Lieferung aus. Vom vornehmen Kifissia weit entfernt am anderen Ende des Molochs Athen betreibt sie im dichtbesiedelten Arbeitervorort Nikäa seit bald drei Jahren einen Bioladen. Schon mal zwölf Stunden und mehr am Tag müssten sie und ihr Mann schuften, um mit ihrem kleinen Sohn über die Runden zu kommen, klagt sie.
„Politisch stehe ich links“, sagt sie. Nach der letzten Wahl habe sie sich jedoch gefragt: „Hey, was macht das für einen Sinn, was ich wähle?“ Mit ihrer Situation im heutigen Hellas sei sie gar nicht zufrieden, so wie das Gros ihrer Kunden, erzählt sie. „Griechenland verfällt. Schon seit zehn, fünfzehn Jahren. Die regierenden Politiker tun alles, um uns aus unserem Land zu vertreiben.“ Als sie noch ein Kind war, sei das Leben noch viel besser gewesen, ist sie sich sicher.
Zweifel daran, dass Mitsotakis am Sonntag der strahlende Wahlsieger sein wird, hat sie nicht. Das gefalle ihr nicht, sagt sie. Vielen Griechen und Griechinnen geht das anders.
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