Erinnerung in Neukölln: Zehn Jahre ist das heute her

Alke Wierth erinnert sich an einen jungen Berliner, den sie nie kennenlernen konnte. Und dann ruft plötzlich seine Mutter Majda an.

Auch Jusefs Mutter war eine der Neuköllner Stadtteilmütter Foto: dpa

Mittwochabend hat mich Majda angerufen. Sie ist meine Freundin geworden, nachdem ich über den Tod ihres Sohnes berichtet hatte. Am 4. März 2012 war Jusef in Neukölln mit Messerstichen schwer verletzt worden und kurz darauf in einem Krankenhaus verstorben. Vorangegangen war dem ein Streit, an dem der damals 18-Jährige gar nicht beteiligt war. Jusef war ausgebildeter Peer-Mediator und im Neuköllner Jugendbeirat. Er war zum Schlichten an den Ort gefahren.

Der Täter, ein damals 34 Jahre alter Herkunftsdeutscher, hatte sich nach der Tat gestellt und kam wenig später frei: Er habe aus Notwehr gehandelt, so die Ermittlungsbehörden. Weitere Ermittlungen, gar ein Gerichtsverfahren gegen ihn gab es nicht.

Majda hat damals aus Medien, nicht von den Behörden, erfahren, dass der Mann, der ihren Sohn getötet hat, wieder auf freiem Fuß ist.

Kurz darauf antwortete Majda mir in einem Interview auf meine Frage, ob sie nun daran denke, Deutschland zu verlassen: „Ich hatte nie das Gefühl, dass wir hier als Ausländer betrachtet werden.“ Majda kam als Kind nach Deutschland, in ihrem Neuköllner Kiez war sie später Stadtteilmutter. „Manchmal spielt man mit dem Gedanken. Aber wir sind Palästinenser. Wo sollen wir denn hin?“ Sie fühle sich hier zu Hause, sagt sie auch heute am Telefon wieder – es ist ihr wichtig.

Jusefs Tod ist an diesem Freitag, dem 4. März 2020, zehn Jahre her. Majdas ältester Sohn, der große Bruder ihrer drei jüngeren Kinder, wäre jetzt 28 Jahre alt. Ich denke seit Monaten an diesen Jahrestag. Denn mich hat dieses Ereignis nie verlassen.

Etwas hat sich verändert

Der Tod dieses jungen Berliners, den ich nicht gekannt habe, hat meine Arbeit als Journalistin, mein Leben verändert. Dazu beigetragen haben viele Menschen, die ich bei meinen Recherchen damals kennengelernt habe: Majda selbst und ihre Familie, Jusefs Freunde, So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen der Jugendeinrichtung, wo die Jungen verkehrten.

„Alke“, sagt Majda am Telefon, „ich möchte an diesem Freitag etwas machen. Ich möchte mich mal bei allen bedanken, die mir so geholfen haben.“ Seit Jusef getötet wurde, haben seine Freunde alljährlich an seinem Todestag vor ihrem Neuköllner Jugendtreff Essen an Pas­san­t*in­nen verteilt zum Gedenken an ihren Freund und Majdas Sohn. „Diesmal möchte ich mich bei Ihnen und auch bei den Sozialarbeitern bedanken“, sagt Majda am Telefon.

Und ich hatte mich nicht getraut, sie vor Jusefs Todestag anzurufen. Ich wollte keine Erinnerungen aufwühlen, keine Trauer wachrufen.

„Alke, ich erinnere mich gerne an Jusef!“, sagt Majda am Telefon. „Natürlich tut das weh. Aber es tut auch weh, wenn man ihn vergisst.“

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