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Erdoğans MigrationspolitikNicht mit der Türkei verhandeln

Erdoğan steckt Kritiker ins Gefängnis, baut Mauern und zieht Demokratiegegner groß. Statt mit ihm zu verhandeln, sollte er auf die Anklagebank.

Eingang zum türkischen Hochsicherheitsgefängnis Silivri Foto: Stefania Mizara/imago images

Z eig mir deine Gefangenen, und ich sag dir, wer du bist. Die Türkei ist im Wandel, Wirtschaft und Infrastruktur blühen: Mauern bauen, Demokratiegegner großziehen, Nationalismus mit Islamismus paaren. Der Strukturwandel hat gut geklappt!

Der Aufschwung der Wirtschaft liegt in der Türkei auch an einem verordneten Bauboom. Und Bauprojekte gibt es viele – auch von Gefängnissen. 2008 wurde die Strafvollzugsanstalten Silivri eröffnet. Das Hochsicherheitsgefängnis ist das größte Gefängnis Europas: bis zu 13.000 Gefangenen kann es aufnehmen. Ahmet Altan, Adil Demirci, Can Dündar, Deniz Yücel, alles ehemalige Insassen. Immer noch gefangen: viel zu viele.

Auch die oppositionelle kurdische HDP hat den Gefängnisboom miterlebt: Mehr als 3.000 HDP-Mitglieder sind inhaftiert. Über 11.000 Mitglieder waren schon einmal in Polizeigewahrsam. Seit November 2016 sitzt der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş im Hochsicherheitsgefängnis in Edirne. Figen Yüksekdağ, ehemalige Co-Vorsitzende der HDP: Gefängnis. Gültan Kışanak (HDP): Gefängnis. Selçuk Mızraklı (HDP): Gefängnis. Die Anklageschrift ist copy and paste: HDP=PKK=Kurde=Terror. Um die Namen aller inhaftierten HDP-Mitglieder aufzuzählen, würden sechs Monate Kolumne nicht ausreichen.

59 deutsche Staatsbürger sitzen laut Auswärtigem Amt in türkischen Gefängnissen (Beispiel: die Sängerin Hozan Canê und ihre Tochter Dilan Örs aus Köln). 74 weitere deutsche Staatsbürger werden mit Ausreisesperren im Land festgehalten. Da es so gut mit der Demokratie in der Türkei läuft, sind die Gefängnisse überfüllt. Der Nachschub lässt auch nicht lange auf sich warten: Wer gegen Krieg ist – zack, Gefängnis. Als Journalist*in sauber gearbeitet – zack, Gefängnis. Der Klassiker: Kurde sein – zack, Gefängnis.

In der Türkei gilt: größer, höher, stärker

Aber auch an den türkischen Außengrenzen wird die Wirtschaft angekurbelt. Größer, höher, weiter- die Türkei kann stolz sein. Sie ist jetzt im Besitz der drittlängsten befestigten Grenzanlage der Welt: an der syrischen Grenze, direkt durch Nord- und Westkurdistan. Die EU finanziert mal wieder großzügig mit: Panzer hier, Grenzschutzpanzer da.

Laut UNHCR sollen sich 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei befinden. Gemessen an der Größe des Landes, haben der Libanon (über 1 Million) und Jordanien (über 1,3 Millionen) weit mehr Flüchtlinge als die Türkei aufgenommen.

Zeig mir deine Außengrenzen, und ich zeig dir, wer du bist. Anstatt tagelang über mickrige Zahlen zu diskutieren (5.000 Geflüchtete aufnehmen: Kinder, Frauen, schwerst traumatisierte, unbegleitete Minderjährige – voll nett, Europa!), sollte Europa seine Grenze öffnen und endlich Verantwortung für seine Versager-Politik im Nahen Ost übernehmen. Deutschland muss aufhören, mit dem Kriegsverbrecher und Gefängnisarchitekten Erdoğan über “Flüchtingsdeals“ zu verhandeln. Erdoğan und seine Türkei gehören nicht an den Verhandlungstisch, nicht in die Nato oder in die EU, sondern auf die Anklagebank in Den Haag.

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Ronya Othmann
Kolumnistin
Kolumnistin, Autorin, Lyrikerin und Journalistin. Schreibt zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress
Cemile Sahin
Künstlerin
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3 Kommentare

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  • "Erdoğan steckt Kritiker ins Gefängnis, baut Mauern und zieht Demokratiegegner groß. Statt mit ihm zu verhandeln, sollte er auf die Anklagebank."

    Sehr richtig!

    den Titel fände ich allerdings so besser.

    "Nicht mit Erdogans Türkei verhandeln"

  • Wenn wir alle die Kriegsverbrechen begangen haben oder zu Kriegsverbrechen angestiftet oder Beihilfe geleistet haben, auf die Anklagebank in Den Haag setzen und sie anschließend wegsperren, dann bräuchten wir wahrscheinlich ein viel größeres Gefängnis, als das in der Türkei.

    Ich halte von Erdogan-Bashing nichts. Dieser Präsident der Türken hat maßgeblich dafür gesorgt, dass 3,6 Mio. Menschen die vor Krieg und Vertreibung auf der Flucht waren, in der Türkei Zuflucht gefunden haben. Nicht auszudenken, wenn Präsident Erdogan nur halb so kaltherzig an der türkisch-syrischen Grenze agiert hätte, wie aktuell der griechische Premier Premier Kyriakos Mitsotakis:



    - der den Beschuss angeordnet hat, auf schutzbedürftige Menschen mit Tränengasgranaten zu schießen



    - der angeordnet hat, dass die griechische Marine zur Abschreckung Maschinengewehrsalven auf Flüchtlingsboote abzufeuern hat



    - der angeordnet hat, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und das EU-Flüchtlingsrecht über Bord geworfen wird.

    Was wäre mit den 3,6 Mio. schutzbedürftigen in der Türkei passiert, wenn Erdogan so verfahren wäre, wie der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis?????

    Ich plädiere dafür, dass die Türkei, aber auch Jordanien und der Libanon so viel Geldmittel bekommen, dass die Versorgung der Flüchtlinge menschenwürdig erfolgt. 9,00 EURO die die EU der Türkei für einen Flüchtling und Monat bezahlte, reicht hier definitiv nicht aus. Europa muss nun einen Teil der Gewinne das mit Waffenhandel erzielt wurde, zurück zahlen.

  • Dem ist nichts hinzuzufügen. Danke für so viel Mut, die Dinge beim Namen zu nennen.