Entwicklungspolitik und Kolonialismus: „Das Problem liegt eigentlich im Norden“
Entwicklungspolitik steht unter Druck – doch sie im Kapitalismus abzuschaffen, entfernt nur das Trostpflaster, sagt Entwicklungsforscher Aram Ziai.

taz: Herr Ziai, AfD und FDP fordern, die Entwicklungspolitik abzuschaffen. US-Präsident Donald Trump wickelt sie gerade in den USA ab. Ist das eine progressive Forderung, die die Rechten gekapert haben?
Aram Ziai: Nein. Die Forderung, Entwicklungspolitik abzuschaffen, gibt es von neoliberaler Seite schon seit den 50er Jahren. Die Abschaffung der Entwicklungspolitik ist nur dann progressiv, wenn sie nicht von einem weltwirtschaftlichen Kontext losgelöst ist. Wenn man Entwicklungspolitik abschafft, während der globale Kapitalismus bleibt, wie er ist, dann wäre nur das Trostpflaster weg, aber die anderen Ungleichheiten blieben bestehen. Jedes Jahr fließen 1.500 Milliarden US-Dollar von den armen in die reichen Länder. Wenn man dann das Politikfeld abschafft, wo zumindest in Teilen auch Geld sinnvoll im Globalen Süden eingesetzt wird, dann ist das nicht progressiv.
taz: Es gibt aber auch eher linke Denker*innen im Globalen Süden, die sagen, dass die Entwicklungspolitik gerade den globalen Kapitalismus zementiert und Ungleichheiten fortschreibt.
Ziai: Es gibt gute Gründe, dieses Politikfeld problematisch zu finden, auch jenseits außenwirtschaftlich orientierter Projekte. Denn die Entwicklungspolitik tut so, als ob sich die Länder des Globalen Südens ändern müssten. Wenn wir auf die Weltwirtschaft gucken, müssen wir aber zum Schluss kommen, das Problem liegt eigentlich im Norden.
taz: Warum?
Ziai: Da werden die Welthandelsregeln, das Schuldenregime so gezimmert, dass es zu einer Vertiefung dieser globalen Ungleichheit kommt. Gleichzeitig wird ein Gesellschaftsmodell als entwickelt vorgestellt, das den Planeten in den ökologischen Kollaps treibt und nur so erfolgreich Reichtum produzieren konnte, weil es auf über fünf Jahrhunderten Ausbeutung anderer Weltregionen beruht. Klar, die eine oder andere ehemalige Kolonie ist später wirtschaftsstark wie Südkorea geworden. Aber die Vorstellung, dass das für alle klappen könnte, wenn sie nur hart genug an sich arbeiten, ist Ideologie. Sie wurde den unabhängig werdenden Ländern am Ende des Kolonialismus nur versprochen, um sie davon abzuhalten, ins kommunistische Lager überzulaufen. Dieses Versprechen wird quasi alle paar Jahre erneuert: von den Millennium-Entwicklungszielen bis zu den nachhaltigen Entwicklungszielen, den SDGs.
taz: Bei den SDGs, den insgesammt 17 Zielen der Vereinten Nationen, geht es zum Beispiel darum, weltweit Armut und Hunger zu beenden, oder nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Sie wurden immerhin von fast allen Ländern der Welt beschlossen und gelten auch für den globalen Norden.
Ziai: Auf dem Papier gelten die SDGs für alle, aber de facto passiert im Norden nicht viel. Es gibt keine Begrenzung des CO2-Ausstoßes etwa. Ohne Rechenschaftspflicht, ohne Verbindlichkeit sind die Ziele ein schönes Mäntelchen für eine massiv ungleiche Weltwirtschaft. Ehrliche SDGs müssten globale Steuern für Milliardäre und multinationale Unternehmen auf den Weg bringen. Die Rücküberweisungen von Migrantinnen machen heute die dreifache Summe der gesamten Entwicklungsgelder aus. Wenn es tatsächlich um Armutsbekämpfung und globale Umverteilung ginge, müsste legale Arbeitsmigration ausgeweitet werden.
taz: Die Gruppe der afrikanischen Länder und einige aus Südamerika haben das Thema Steuer auf die globale Bühne in die UN gebracht. Auch über unfaire Kreditkonditionen und Ratingagenturen wird jetzt gesprochen.
Ziai: Aber es wird bis jetzt nur darüber geredet.
taz: Wie sollte Entwicklungszusammenarbeit denn in dieser ungleichen Welt aussehen?
Ziai: Es ist wichtig, Partner nicht nur bei der Umsetzung einzubeziehen, sondern schon vorher bei der Problemdefinition und Projektplanung. Und es muss darum gehen, marginalisierte Gruppen in dieser entsprechenden Gesellschaft einzubinden. Bei der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ist das in der Regel nicht so. Oft wird von „den Menschen“ in Peru oder Burkina Faso ausgegangen – ohne anzuerkennen, dass es natürlich Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft gibt. Ein grundlegender Ansatz tiefergehender Partizipation wäre, zu schauen, wie diese Machtverhältnisse aussehen, welche Selbstorganisation es beispielsweise von indigenen Bewegungen gibt und wie die unterstützt werden können.
taz: Hat die letzte Bundesregierung das nicht versucht?
Ziai: In Ansätzen wird das bisweilen praktiziert. Dann gibt es aber Projekte des Entwicklungsministeriums, etwa die Unterstützung von Windkraftanlagen in Mexiko oder das Wasserstoffprojekt in Namibia, wo das nicht der Fall ist. Hier spielen außenwirtschaftliche Erwägungen eine Rolle und nicht marginalisierte Gruppen.
taz: Im Moment steht das deutsche Interesse im Vordergrund, Entwicklungspolitik soll zeigen, was Deutschland davon hat?
Ziai: Es ist das einzige Politikfeld, das nicht nur auf die Durchsetzung deutscher Interessen ausgerichtet ist, und steht gerade deshalb immer wieder unter Druck und muss immer wieder zeigen, wie wirksam und effizient es ist – und dass es durchaus etwas für die Menschen in Deutschland tut. Seit den 70er Jahren haben progressivere Sozialdemokraten im Entwicklungsministerium versucht, eine Politik zu fahren, die nicht nur einseitig an den Interessen der deutschen Unternehmen und der deutschen Landwirtschaft orientiert ist. Die mussten sich aber unheimlich verbiegen und haben etwa argumentiert, dass wir in einer globalisierten Welt natürlich auch negativ betroffen sind durch Krisen und Hunger und massiver Ungleichheit anderswo, zum Beispiel durch Migration oder Terrorismus.
taz: Ist das nicht so?
Ziai: Dieses gedankliche Konstrukt ist brüchig. Denn letzten Endes kann man argumentieren, vor Krisen und Terrorismus können wir uns auch schützen, indem wir die Grenzen dichtmachen oder beschließen, dass Asylanträge nur in Nordafrika gestellt werden können. Stattdessen müsste ehrlich gesagt werden, dass wir nicht zu einer global gerechten Welt kommen, wenn die deutsche Politik nur deutsche Interessen vertritt.
taz: Auch Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) hatte große Ziele, spricht von Systemveränderung und Anerkennung unseres kolonialen Erbes. Wie nehmen Sie ihre Politik wahr?
Ziai: Svenja Schulze kann sich zu Recht auf die Fahnen schreiben, dass sie das Thema Dekolonialisierung auf staatlicher Ebene in die deutsche Entwicklungspolitik eingebracht hat. Das haben zivilgesellschaftliche Initiativen lange gefordert, aber jetzt ist es quasi angekommen. Es gab Workshops, Konferenzen, Ausschreibungen von kleinen Forschungsprojekten zu diesem Thema. Allerdings wird eine Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit verengt gedacht, ohne den weltwirtschaftlichen Kontext zu sehen. Man ist bereit, zu sagen, in der Erinnerungspolitik müssen wir uns dekolonisieren oder bei den Museen. Aber das sind eigentlich Nebenschauplätze in einer neokolonial strukturierten Weltwirtschaft.
taz: Was ist der Hauptschauplatz?
Ziai: Die Kontrolle von Multinationalen Konzernen, die viel im Globalen Süden investieren, aber noch viel mehr Gewinne wieder abziehen. Der auf Freihandel ausgerichtete Welthandel. Dabei setzen sich die wettbewerbsstärksten Unternehmen durch, und das sind hauptsächlich große Konzerne aus dem globalen Norden und mittlerweile auch aus China. Damit haben Kleinbauern aus dem Globalen Süden das Nachsehen. Es braucht einen Schuldenerlass und, noch wichtiger, eine Reform des Schuldenregimes, letztlich sogar des konkurrenzorientierten Wirtschaftssystems. Und in Bezug auf Klimagerechtigkeit eine Abkehr von der imperialen Lebensweise, die auf billigen Rohstoffen und Arbeitskräften in anderen Regionen beruht.
taz: Wie schätzen Sie die Forderung der Union ein, das Entwicklungsministerium ins Auswärtige Amt einzugliedern?
Ziai: Die Frage ist dann, macht sich das Außenministerium entwicklungspolitische Ziele zu eigen oder werden diese den außenwirtschaftlichen und geopolitischen untergeordnet?
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