Entwicklung unserer Persönlichkeit: Eine Zeitreise ins Ich
Bleiben wir immer die, die wir einmal waren? Verläuft unser Leben kontinuierlich oder episodisch – oder beides? Ein Essay.
I ch habe nur wenige Erinnerungen an mein Leben als Vierjähriger – das finde ich jetzt, als Vater eines Kindes im gleichen Alter, beunruhigend. Mein Sohn und ich haben eine Menge Spaß zusammen. Zuletzt haben wir mit Legosteinen uns vertraute Orte nachgebaut, das Café oder das Badezimmer, und den „Flipperoo“ perfektioniert, eine Bewegung, bei der ich seine Hände halte, während er rückwärts einen Salto von meinen Schultern auf den Boden macht. Aber an wie viel von unserem fröhlichen Leben wird er sich später wohl erinnern?
Empfohlener externer Inhalt
Was ich von meinem vierten Lebensjahr in Erinnerung habe, sind die rot lackierten Nägel einer fiesen Babysitterin, die silberne Stereoanlage in der Wohnung meiner Eltern, dieser eine Flur mit orangefarbenem Teppich, ein paar Zimmerpflanzen in der Sonne und das flüchtige Bild des Gesichts meines Vaters, das sich vielleicht von einem Foto in mein Gedächtnis geschmuggelt hat.
Diese Bilder sind unzusammenhängend, sie fügen sich nicht zu einem Bild von einem Leben zusammen. Sie beleuchten auch kein Innenleben. Ich habe keine Erinnerungen an meine Gefühle, Gedanken oder meine Persönlichkeit. Man sagt mir, ich sei ein fröhliches, redseliges Kind gewesen, das gerne lange Tischreden hielt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, so gewesen zu sein. Mit meinem Sohn, der fröhlich und wortgewandt ist, macht es so viel Spaß zusammenzusein, dass ich manchmal in seinem Namen bedauere, dass er sich in Zukunft nicht mehr an sich selbst erinnern wird.
Wenn wir unser kindliches Selbst klarer sehen könnten, hätten wir vielleicht ein besseres Gefühl für den Verlauf und den Charakter unseres Lebens. Sind wir mit vier Jahren dieselben Menschen, die wir mit vierundzwanzig, vierundvierzig oder vierundsiebzig Jahren sein werden? Oder werden wir uns im Laufe der Zeit wesentlich verändern? Steht das Schicksal schon fest oder wird unsere Geschichte überraschende Wendungen nehmen?
Manche Menschen haben das Gefühl, dass sie sich im Laufe der Jahre tiefgreifend verändert haben, und die Vergangenheit erscheint ihnen wie ein fremdes Land, das sich durch besondere Bräuche, Werte und Vorlieben auszeichnet. Diese Freunde! Diese Musik! Diese Kleidung! Andere wiederum fühlen sich stark mit ihrem jüngeren Ich verbunden, und für sie bleibt die Vergangenheit ein Zuhause. Meine Schwiegermutter, die nicht weit von ihrem Elternhaus entfernt in derselben Stadt lebt, in der sie aufgewachsen ist, besteht darauf, dass sie dieselbe ist, die sie immer war, und erinnert sich mit der Empörung eines Kindes an ihren sechsten Geburtstag, an dem ihr ein Pony versprochen wurde, das sie aber nicht bekam.
Ihr Bruder vertritt die gegenteilige Ansicht: Er blickt auf mehrere verschiedene Epochen in seinem Leben zurück, jede mit eigenen Einstellungen, Umständen und Freunden. „Ich bin durch viele Türen gegangen“, sagte er zu mir. Mir geht es genauso, obwohl die meisten Menschen, die mich gut kennen, sagen, dass ich immer derselbe Mensch gewesen bin.
Versuchen Sie, sich an das Leben zu erinnern, wie Sie es vor vielen Jahren an einem typischen Herbsttag erlebt haben. Damals lagen Ihnen bestimmte Dinge sehr am Herzen. Eine Freundin? Depeche Mode? Andere Dinge waren Ihnen hingegen völlig egal. Ihr politisches Engagement? Ihre Kinder? Bestimmte Schlüsselereignisse – Studium? Krieg? Ehe? Anonyme Alkoholiker? – hatten noch nicht stattgefunden. Fühlt sich das Ich, an das Sie sich erinnern, wie Sie selbst oder wie ein Fremder an? Haben Sie den Eindruck, sich an etwas Gestriges zu erinnern oder einen Roman über eine fiktive Figur zu lesen?
Wenn Sie das Gefühl haben, noch immer dieselbe Person zu sein wie damals, sind Sie wahrscheinlich vom Typ „Fortsetzer“; wenn es sich so anfühlt, als wäre die Person in Ihrer Erinnerung jemand anderes, sind Sie wahrscheinlich ein „Trenner“. Vielleicht wären Sie lieber das eine als das andere, aber es fällt Ihnen schwer, die Perspektive zu wechseln. Bei Klassentreffen gelingt uns das manchmal. Wir besuchen sie, um uns wie in der Vergangenheit zu fühlen – wir knüpfen an alte Freundschaften an, alte Witze tauchen wieder auf, Schwärmereien von einst werden neu entfacht. Aber die Zeitreise hört auf, wenn man aus der Turnhalle tritt. Es stellt sich heraus, dass man sich doch verändert hat.
Es gibt aber auch jene unter uns, die die Verbindung zu ihrem früheren Selbst lösen wollen. Belastet von dem, was wir einmal waren, oder gefangen in dem, was wir sind, wünschen wir uns ein mehrteiliges Leben. In seinem autobiografischen Romanzyklus stellt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, ein Mann mittleren Alters – der hofft, heute ein besserer Mensch zu sein als in seiner Jugend –, die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, ein Leben lang denselben Namen zu verwenden. Wenn er ein Foto von sich selbst als Säugling betrachtet, fragt er sich, was dieser kleine Mensch mit „ausgebreiteten Armen und Beinen und einem zum Schrei verzerrten Gesicht“ wirklich mit dem vierzigjährigen Vater und Schriftsteller zu tun hat, der er heute ist, oder mit „dem grauen, gebeugten Greis, der in vierzig Jahren vielleicht sabbernd und zitternd in einem Altersheim sitzt“.
Er schlägt vor, dass es besser wäre, eine Reihe von Namen anzunehmen: „Der Fötus könnte zum Beispiel Jens Ove heißen, der Säugling Nils Ove, der zehn- bis zwölfjährige Geir Ove, der zwölf- bis siebzehnjährige Kurt Ove, der dreiundzwanzig- bis zweiunddreißigjährige Tor Ove […] und so weiter.“ Nach einem solchen Schema würde „der erste Name die Besonderheit der Altersspanne darstellen, der mittlere Name die Kontinuität und der letzte die Familienzugehörigkeit“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Mein Sohn heißt Peter. Der Gedanke, dass er eines Tages so anders werden könnte, dass er einen neuen Namen braucht, macht mir Angst. Aber er lernt und wächst jeden Tag, wie könnte er da nicht immer wieder zu jemandem Neuen werden? Ich habe einen herausfordernden Wunsch für ihn: Wachse weiter, bleibe du selbst. Doch wer weiß, wie er sich selbst sehen wird? Der britische Philosoph Galen Strawson ist der Meinung, dass manche Menschen einfach „episodischer“ sind als andere; sie können gut von Tag zu Tag leben, ohne auf den größeren Handlungsbogen zu achten. „Ich befinde mich irgendwo am episodischen Ende dieses Spektrums“, schreibt Strawson in einem Essay mit dem Titel „The Sense of the Self“: „Ich habe kein Gefühl dafür, dass mein Leben eine Erzählung mit eigener Form ist, und wenig Interesse an meiner eigenen Vergangenheit.“
Vielleicht wird Peter zu einem episodischen Menschen heranwachsen, der im Augenblick lebt und sich nicht darum kümmert, ob sein Leben etwas Ganzes oder eine Ansammlung von Teilen ist. Trotzdem wird er den Widersprüchen der eigenen Veränderlichkeit nicht entkommen, die sich in unser Leben einweben. Wenn wir an etwas Vergangenes denken, das uns beschämt, sagen wir uns: „Ich habe mich verändert!“ Aber haben wir das? Wenn wir von einer Freundin gelangweilt sind, die von einem längst vergangenen Ereignis besessen ist, sagen wir: „Das war ein anderes Leben – du bist jetzt ein anderer Mensch!“ Aber ist sie das? Wenn wir mit unseren Freunden, Ehepartnern, Eltern und Kindern zusammenleben, fragen wir uns, ob sie dieselben Menschen sind, die wir immer gekannt haben, oder ob sie Veränderungen durchgemacht haben, die wir oder sie nicht sehen können.
Selbst wenn wir unermüdlich daran arbeiten, uns zu verbessern, stellen wir fest, dass wir, wohin wir auch gehen, immer noch dieselben sind. „Was ist dann der Sinn des Ganzen?“, fragen wir uns. Und doch erinnern wir uns manchmal mit einem Gefühl der Verwunderung an unser früheres Selbst, als ob wir uns an ein früheres Leben erinnern. Das Leben ist lang und schwer zu entziffern. Was lernen wir überhaupt daraus, wenn wir uns fragen, ob wir schon immer so waren, wie wir sind?
Die Frage nach unserer Stetigkeit kann empirisch und wissenschaftlich beantwortet werden. In den 70ern führten der Psychologe Phil Silva und sein Team an der Universität von Otago in Neuseeland eine Studie mit 1.037 Kindern durch. Die Probanden – alle aus der Stadt Dunedin und Umgebung – wurden im Alter von 3 Jahren und dann noch einmal im Alter von 5, 7, 9, 11, 13, 15, 18, 21, 26, 32, 38 und 45 Jahren von Forschern untersucht, die häufig nicht nur die Probanden selbst, sondern auch deren Familie und Freunde befragten.
Im Jahr 2020 fassten Psychologen die bisherigen Erkenntnisse in einem Buch mit dem Titel „The Origins of You: How Childhood Shapes Later Life“ zusammen. Dabei schlossen sie die Ergebnisse einiger verwandter Studien aus den USA und Großbritannien mit ein und beschrieben so, wie sich etwa 4.000 Menschen im Laufe der Jahrzehnte verändert haben.
Der britische Philosoph John Stuart Mill schrieb einmal, ein junger Mensch sei wie „ein Baum, der nach allen Seiten hin wachsen und sich entwickeln muss, entsprechend der Tendenz der inneren Kräfte, die ihn zu einem lebendigen Wesen machen“. Das Bild vom Baum suggeriert ein allgemeines Ausbreiten und Aufwärtsstreben, das zwangsläufig von Boden und Klima beeinflusst wird und durch ein wenig kluges Beschneiden hier und da unterstützt werden könnte.
Die Autoren von „The Origins of You“ haben eine chaotischere Metapher gewählt. Der Mensch, so schlagen sie vor, ist wie ein Sturm. Jeder Sturm hat seine Merkmale und seine Dynamik, während seine Zukunft von zahlreichen Elementen der Atmosphäre und der Landschaft abhängt. Das Schicksal von „Harvey“, „Allison“, „Ike“ oder „Katrina“ kann durch den Luftdruck an einem anderen Ort oder durch die Zeit, die der Hurrikan auf See verbringt, um Feuchtigkeit aufzunehmen, bevor er an Land geht, bestimmt werden. Donald Trump sagte 2014 zu einem Biografen, er sei in seinen Sechzigern derselbe Mensch wie als Erstklässler. In seinem Fall, so schreiben die Forscher, sei das nicht so schwer zu glauben. Stürme werden zwar von der Welt und von anderen Stürmen geformt, aber ein egomanisches Wettersystem glaubt an seine absolute und unveränderliche Individualität.
Versuche, das menschliche Wetter zu verstehen – zum Beispiel zu zeigen, dass Kinder, die missbraucht werden, als Erwachsene die Spuren dieses Missbrauchs tragen –, sind vorhersehbar ungenau. Ein Problem ist, dass viele Entwicklungsstudien „retrospektiv“ sind: Die Forscher beginnen damit, wie es den Menschen heute geht, und schauen dann in die Vergangenheit, um herauszufinden, wie es dazu kam. Aber viele Dinge erschweren so ein Vorhaben. Da ist zum einen die Fehlbarkeit des Gedächtnisses: Menschen haben oft Schwierigkeiten, sich an das zu erinnern, was sie Jahrzehnte zuvor erlebt haben. Viele Eltern können sich etwa nicht genau daran erinnern, ob bei ihrem Kind ADHS diagnostiziert wurde; manche haben sogar Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, ob ihre Eltern gemein oder nett waren.
Zudem gibt es das Problem der Verzerrung bei der Auswahl der Studienteilnehmer. Eine retrospektive Studie über ängstliche Erwachsene könnte ergeben, dass viele von ihnen mit geschiedenen Eltern aufgewachsen sind – aber was ist mit den Scheidungskindern, die keine Ängste entwickelt haben und daher nie in die Studie aufgenommen wurden? In einer retrospektiven Studie ist es schwer, die wahre Bedeutung eines einzelnen Faktors zu ermitteln. Der Wert des Dunedin-Projekts ergibt sich daher nicht nur aus seiner langen Dauer, sondern auch aus der Tatsache, dass es „prospektiv“ ist. Die Studie startete mit tausend zufällig ausgewählten Kindern und ermittelte erst später die auftretenden Veränderungen.
Die Forscher in Dunedin teilten zu Beginn die dreijährigen Kinder in Kategorien ein. Sie setzten sich dazu mit ihnen jeweils neunzig Minuten zusammen und bewerteten anhand von 22 Kriterien ihre Persönlichkeit – anhand von Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Unruhe, Impulsivität, Eigensinn, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Kommunikationsfähigkeit und so weiter. Daraufhin wurden sie in fünf Kindertypen einsortiert.
40 Prozent der Kinder wurden als „gut angepasst“ eingestuft, mit der üblichen Mischung aus kindlichen Persönlichkeitsmerkmalen. Ein weiteres Viertel wurde als „selbstbewusst“ eingestuft, das heißt, sie galten als überdurchschnittlich schnell mit Fremden und neuen Situationen vertraut. 15 Prozent waren anfangs „reserviert“ oder zurückhaltend. Etwa jedes zehnte Kind erwies sich als „gehemmt“; der gleiche Anteil wurde als „aufbrausend“ eingestuft. Die gehemmten Kinder waren besonders schüchtern und wurden nur sehr langsam mit den Forschern warm, die aufbrausenden Kinder waren impulsiv und störrisch. Diese Feststellungen zur Persönlichkeit, die nach kurzen Begegnungen und von Fremden getroffen wurden, bildeten die Grundlage für ein halbes Jahrhundert zukünftiger Forschungsarbeit.
Im Alter von achtzehn Jahren erkannten die Forscher bestimmte Muster bei den nun erwachsenen Kindern. Die selbstbewussten, zurückhaltenden und ausgeglichenen waren zwar weiterhin so, aber diese Merkmale waren nun weniger ausgeprägt. Im Gegensatz dazu waren die Kinder, die als gehemmt oder aufbrausend eingestuft worden waren, sich selbst treuer geblieben. Im Alter von achtzehn Jahren waren die ehemals gehemmten Kinder immer noch ein wenig distanziert und „deutlich weniger energisch und entschlossen als alle anderen Kinder“. Die unbeherrschten Kinder hingegen „beschrieben sich selbst als Gefahren suchend und impulsiv“ und waren „von allen jungen Erwachsenen am wenigsten geneigt, schädliche, aufregende und gefährliche Situationen zu vermeiden oder sich auf reflektierte, vorsichtige, sorgfältige oder überlegte Weise zu verhalten“. Die Teenager dieser letzten Gruppe neigten dazu, häufiger wütend zu werden und sich selbst als „misshandelt und zum Opfer gemacht“ zu sehen.
Die Forscher schärften nun ihre Kategorien. Sie fassten die große Gruppe der Teenager zusammen, die sich nicht auf einem bestimmten Weg zu befinden schienen. Dann konzentrierten sie sich auf zwei kleinere Gruppen, die hervorstachen. Die eine Gruppe „zog sich aus der Welt zurück“ und führte einen Lebensstil, der zwar durchaus bereichernd sein konnte, aber auch unauffällig und umsichtig war. Und eine andere, ähnlich große Gruppe bewegte sich „gegen die Welt“. In den darauffolgenden Jahren stellten die Forscher fest, dass Menschen aus der letztgenannten Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit ihren Job verloren und Glücksspielprobleme hatten. Ihre Veranlagung war dauerhaft.
Diese Beständigkeit ist zum Teil auf die soziale Macht des Temperaments zurückzuführen, das, wie die Autoren schreiben, „eine Maschine ist, die eine andere Maschine entwirft, die wiederum die Entwicklung beeinflusst“. Diese zweite Maschine ist das soziale Umfeld einer Person. Jemand, der sich gegen die Welt auflehnt, wird andere von sich wegstoßen, und er wird dazu neigen, die Handlungen selbst wohlmeinender anderer als Zurücksetzen zu interpretieren. Dieses negative soziale Feedback wird seine abwehrende Haltung noch verstärken. Unterdessen wird er sich auf das einlassen, was Psychologen als „niche picking“, „Nischenwahl“, bezeichnen – das Bevorzugen sozialer Situationen, die die eigene Veranlagung verstärken.
Eine „gut angepasste“ Fünftklässlerin würde sich womöglich „auf den Übergang zur Oberschule freuen“; sie würde sich vielleicht sogar einigen Gruppen anschließen. Ihre Freundin, die sich von der Welt abwendet, zieht es vielleicht vor, in der Mittagspause zu lesen. Und dem Bruder, der sich gegen die Welt stellt – diese Gruppe ist eher männlich –, werden gefährliche Situationen am vertrautesten sein.
Durch diese Art der Selbstentwicklung, so schreiben die Autoren, gestalten wir ein Leben, das uns selbst immer ähnlicher werden lässt. Aber es gibt Möglichkeiten, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Eine Möglichkeit, den Kurs zu ändern, liegt in den intimen Beziehungen der Menschen. Die Dunedin-Studie legt nahe, dass jemand, der dazu neigt, sich gegen die Welt zu stellen, beginnen könnte, sich in eine positivere Richtung zu bewegen, wenn er die richtige Person heiratet oder den richtigen Mentor findet. Auch wenn ein Großteil der Geschichte schon geschrieben ist, kann sie immer noch umgeschrieben werden.
Die Dunedin-Studie sagt viel darüber aus, wie unterschiedlich sich Kinder im Laufe der Zeit entwickeln. Aber wie viel kann sie darüber aussagen, wie flexibel und veränderbar wir im Laufe unseres Lebens sind? Das hängt davon ab, was wir meinen, wenn wir danach fragen, was uns ausmacht. Schließlich sind wir mehr als nur unsere Veranlagungen. Jeder von uns passt in eine oder mehrere Kategorien, aber diese Kategorien umfassen unsere Identität nicht vollständig.
Wer man ist, wird letztlich nicht dadurch bestimmt, wie man ist, sondern durch das, was man tut. Stellen Sie sich zwei Brüder vor, die in einem gemeinsamen Zimmer aufwachsen und ähnliche Persönlichkeiten haben – intelligent, fordernd, souverän und ehrgeizig. Der eine wird Senator und Universitätspräsident, der andere ein Mafiaboss. Machen ihre ähnlichen Temperamente sie auch zu ähnlichen Menschen?
Diejenigen, die die Geschichte von William Bulger und James (Whitey) Bulger – den Bostoner Brüdern, die den Senat von Massachusetts respektive die Unterwelt leiteten – verfolgt haben, mögen annehmen, dass sie einander eher ähneln, als sich voneinander zu unterscheiden. „Sie sind beide in ihren jeweiligen Bereichen sehr zäh“, bemerkte ein Biograf. Aber es ist richtig, wenn wir einer solchen Sichtweise skeptisch gegenüberstehen, denn sie setzt voraus, dass man die sehr unterschiedlichen Lebensumstände der Brüder außer Acht lässt. An der Himmelspforte jedenfalls wird sie niemand verwechseln.
Selbst scheinbar unwichtige oder triviale Details bestimmen mit, wer wir sind. Im Spätsommer 2022 nahm ich mit meinem Vater und meinem Onkel an einer Familienfeier teil. Als wir an einem Tisch im Freien saßen und uns unterhielten, kam unser Gespräch auf „Star Trek“, die 1966 erstmals ausgestrahlte Science-Fiction-Fernsehserie. Mein Vater und mein Onkel haben beide seit ihrer Kindheit verschiedene Versionen der Serie gesehen, und vor allem mein Vater ist ein echter Fan. Während die Party um uns herum weiterging, rezitierten wir alle aus dem Gedächtnis den Eröffnungsmonolog der Originalversion: „Der Weltraum, unendliche Weiten, dies sind die Reisen des Raumschiff Enterprise …“ – und applaudierten uns selbst. „Star Trek“ ist ein roter Faden im Leben meines Vaters. Wir neigen dazu, solche Eigenarten als Marotten herunterzuspielen, aber sie sind wichtig für das, was uns ausmacht.
Als Leopold Bloom, der Protagonist von James Joyce’ „Ulysses“, über einen Dubliner Friedhof wandert, ist er von den allgemeinen Inschriften auf den Grabsteinen unbeeindruckt und findet, dass sie spezifischer sein sollten. „So und So, Wagenbauer“, stellt sich Bloom vor oder, auf einem Stein mit einem Kochtopf eingraviert: „Ich kochte guten irischen Eintopf“. Wenn man uns bittet, uns selbst zu beschreiben, neigen wir vielleicht dazu, in allgemeinen Begriffen zu sprechen, weil wir die Details unseres Lebens irgendwie peinlich finden. Aber ein Freund, der eine Grabrede hält, würde gut daran tun, zu erwähnen, dass wir Gitarre spielten, antike Telefone sammelten und Agatha Christie liebten. Jede Ansammlung von Details ist wie ein Fingerabdruck. Einige von uns haben ihr ganzes Leben lang dieselben Fingerabdrücke, andere haben ein paar verschiedene.
Ich kenne zwei Tims, und sie haben gegensätzliche Intuitionen über ihre eigene Stetigkeit. Der erste Tim, mein Schwiegervater, ist sich sicher, dass er von zwei Jahren bis zu seinem zweiundsiebzigsten Lebensjahr die gleiche fröhliche Persönlichkeit hatte. Er hat auch fast sein ganzes Leben lang dieselben Interessen gehabt – Lesen, der Zweite Weltkrieg, Irland, der Wilde Westen, die Yankees. Er ist einer der konsequentesten Menschen, die ich kenne. Der zweite Tim, mein Highschool-Freund, sieht sein Leben als radikal diskontinuierlich an, und das zu Recht. Als ich ihn zum ersten Mal traf, war er so dünn, dass er wegen Untergewichts von einer Blutspendeaktion ausgeschlossen wurde; er wurde von größeren Kindern schikaniert und herumgeschubst. Doch nach der Highschool verwandelte sich Tim plötzlich in einen hochgewachsenen Mann mit dem Körperbau eines Action-Helden. Auf dem College studierte er Physik und Philosophie und arbeitete dann in einem neurowissenschaftlichen Labor, bevor er Offizier bei den Marines wurde und in den Irak ging; danach ging er ins Finanzwesen, um später doch Informatik zu studieren.
„Ich habe mich mehr verändert als die meisten Menschen, die ich kenne“, sagte Tim mir. Er erinnerte sich lebhaft an ein Gespräch, das er mit seiner Mutter führte, während sie im Auto vor einer Autowerkstatt saßen: „Ich war dreizehn, und wir sprachen darüber, wie sich Menschen verändern. Und meine Mutter, die Psychiaterin ist, sagte mir, dass sich die Menschen nicht mehr so stark verändern, wenn sie in die Dreißiger kommen. Sie beginnen zu akzeptieren, wer sie sind, und mit sich selbst zu leben, wie sie sind. Und vielleicht, weil ich damals ein unglücklicher und wütender Mensch war, fühlte ich mich von dieser Vorstellung angegriffen. Und ich habe mir damals geschworen, dass ich nie aufhören würde, mich zu verändern. Und ich habe nicht aufgehört.“
Haben die beiden Tims das ganze Bild im Kopf? Ich kenne meinen Schwiegervater erst seit zwanzig von seinen zweiundsiebzig Jahren, aber selbst in dieser Zeit hat er sich ziemlich verändert, ist geduldiger und mitfühlender geworden; allem Anschein nach hatte das Leben, das er führte, bevor ich ihn kennenlernte, auch ein paar eigene Kapitel. Während sich mein Highschool-Freund nicht grundlegend verändert hat. Solange ich ihn kenne, wollte er anders werden. Für ihn würde echte Veränderung bedeuten, sich niederzulassen; in der endlosen Veränderung besteht also seine Beständigkeit.
Der Philosoph Galen Strawson stellt fest, es gebe eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie Menschen mit der Zeit in ihrem Leben umgingen. Manche Menschen leben als eine Form von „spiritueller Disziplin“ episodisch, während andere „einfach ziellos“ sind. Gegenwartsbezogenheit kann „eine Reaktion auf wirtschaftliche Not, einen verheerenden Mangel an Möglichkeiten oder auf großen Reichtum sein“. Und weiter: „Manche Menschen sind kreativ, obwohl es ihnen an Ehrgeiz oder langfristigen Zielen mangelt, und gehen von einer kleinen Sache zur nächsten oder schaffen große Werke, ohne es zu planen, durch Zufall oder durch Anhäufung. Manche Menschen sind sehr beständig in ihrem Charakter, ob sie es wissen oder nicht. Andere sind beständig in ihrer Inkonsequenz und empfinden sich selbst als rätselhaft und fragmentiert.“
Die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, inwiefern wir uns verändert haben, sind zwangsläufig einfacher als die schwer fassbare Wirklichkeit. Das heißt aber nicht, dass sie langweilig sind. Die Erzählung meines Freundes Tim, in der er schwört, sich für immer zu verändern, zeigt, wie wertvoll solche Geschichten sein können. Ob man Stillstand oder Segmentierung wahrnimmt, ist fast eine ideologische Frage. Veränderlich zu sein bedeutet, unvorhersehbar und frei zu sein; es bedeutet, nicht nur der Protagonist der eigenen Lebensgeschichte zu sein, sondern auch der Autor ihrer Handlung. In manchen Fällen bedeutet es, sich auf ein Drama der Verwundbarkeit, der Entscheidung und der Verwandlung einzulassen; es kann auch bedeuten, dass man sich weigert, die Endlichkeit zu akzeptieren, die die Kehrseite der Individualität ist.
Die alternative Perspektive – dass man schon immer so war, wie man ist – birgt ebenfalls Werte. In dieser Sichtweise ist das Leben voll und variabel, und wir alle erleben Abenteuer, die uns verändern können. Aber was am meisten zählt, ist, dass wir es gelebt haben. Das gleiche Ich, wie auch immer es sich verändert hat, hat alles in sich aufgenommen und alles getan. Diese Sichtweise beinhaltet auch eine Unabhängigkeitserklärung – Unabhängigkeit nicht von der eigenen Vergangenheit und den Umständen, sondern von der Macht der Umstände und den Entscheidungen, die wir treffen, um unserem Leben einen Sinn zu geben.
Die Teiler erzählen, wie sie ihre Häuser renoviert haben und dabei zu Architekten geworden sind. Die Fortsetzer erzählen die Geschichte eines erhabenen Anwesens, das unabhängig davon, was gebaut wird, sich selbst erhalten bleibt. So unterschiedlich diese beiden Ansichten auch klingen, sie haben viel gemeinsam. Unter anderem helfen sie uns bei unserer Selbstentfaltung. Indem er sich für ein Leben der Veränderung entschied, hat mein Freund Tim diese vielleicht beschleunigt. Indem er sich auf seine charakterliche Beständigkeit konzentrierte, hat mein Schwiegervater vielleicht sein bestes Selbst genährt und verfeinert.
Das Festhalten an einer einzigen Spielart der eigenen Wandlungsfähigkeit kann wiederum einschränkend sein. Die Geschichten, die wir einst erzählt haben, können für unsere aktuellen Bedürfnisse zu eng werden. In seinem Buch „Das Leben ist hart“ argumentiert der Philosoph Kieran Setiya, dass bestimmte Herausforderungen – Einsamkeit, Versagen, Krankheit, Trauer – im Grunde unvermeidlich sind; wir neigen jedoch dazu, in einer weitgehend erlösenden Tradition erzogen zu werden, die uns dazu drängt, uns stets auf das Beste im Leben zu konzentrieren.
Einer der Vorteile der Behauptung, dass wir schon immer so waren, wie wir sind, besteht darin, dass sie uns hilft, die störenden Entwicklungen, die unser Leben umgeworfen haben, zu überspielen. Aber das Buch zeigt, dass es gut ist, harte Erfahrungen anzuerkennen und sich zu fragen, wie sie uns geholfen haben, resilienter, freundlicher und weiser zu werden. Allgemeiner ausgedrückt: Wenn Sie die Frage nach der Stetigkeit in Ihrem Leben lange Zeit immer gleich beantwortet haben, könnten Sie versuchen, sie anders zu beantworten. Betrachten Sie sich zur Abwechslung einmal entsprechend als beständiger Typ oder eben weniger beständig, als Sie bisher angenommen haben. Finden Sie heraus, was diese neue Perspektive offenbart.
Die Selbsterzählung hat eine rekursive Funktion: Ich erzähle mir eine Geschichte über mich selbst, um mich mit der Geschichte, die ich erzähle, abzugleichen; dann revidiere ich die Geschichte zwangsläufig, wenn ich mich verändere. Die lange Arbeit des Überarbeitens könnte selbst eine Quelle der Kontinuität in unserem Leben sein. Einer der Teilnehmer der „Up“-Serie, die verschiedene Menschen biografisch begleitet, sagte mal zu Regisseur Michael Apted: „Ich habe fast sechzig Jahre gebraucht, um zu verstehen, wer ich bin.“ Martin Heidegger, der oft undurchschaubare Philosoph, vertrat die Ansicht, dass das, was uns Menschen auszeichnet, unsere Fähigkeit ist, zu dem, was und wer wir sind, „Stellung zu beziehen“; tatsächlich haben wir keine andere Wahl, als uns unaufhörlich Fragen darüber zu stellen, was es bedeutet zu existieren und worauf das alles hinausläuft. Das Fragen und Ausprobieren von Antworten ist für unsere Persönlichkeit so grundlegend wie das Wachsen für einen Baum.
In jüngster Zeit hat mein Sohn begonnen zu verstehen, dass er sich verändert. Er hat bemerkt, dass er nicht mehr in sein Lieblingshemd passt, und er hat mir gezeigt, wie er in seinem Kinderbett etwas schräg schläft. Neulich wurde er dabei erwischt, wie er mit einer Schere durch das Haus lief. „Ich bin jetzt ein großes Kind und kann die benutzen“, sagte er. Als wir an unserem Lieblingsplatz am Strand vorbeikamen, fragte er: „Weißt du noch, wie wir hier früher mit den Lastwagen gespielt haben? Ich habe diese Zeit geliebt.“ Mittlerweile hat er auch schon ein paar verschiedene Namen bekommen: Nach seiner Geburt nannten wir ihn „Kleiner Mann“, und jetzt nenne ich ihn „Mr. Man“. Das Verständnis für sein eigenes Wachstum ist ein Schritt innerhalb seines Wachstums, und er wird zunehmend zu einem zweifachen Wesen – ein Baum und eine Rebe.
Während der Baum wächst, windet sich die Rebe und findet neuen Halt an der Form, die sie trägt. Ein Prozess, der sein ganzes Leben lang andauern wird. Wir verändern uns, und wir verändern unsere Sichtweise auf diese Veränderung, solange wir leben.
Übersetzung aus dem Englischen: Nora Belghaus
Eine Langversion dieses Textes ist zuerst im „New Yorker“ vom 10. Oktober 2022 erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren