Entscheidung über Gespräche mit Union: Die SPD mit Ruhrort-Blues
Soll der SPD-Parteitag Martin Schulz Gespräche mit der Union erlauben? In Duisburg-Ruhrort sind die Genossen mehr als skeptisch.
Das ist lange her. Heute ist die Binnenschifffahrt durchgetaktet, Hafenliegezeiten sind Kostenfresser. Die „Taverne“ aber wirkt, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Tische sind aus dunklem Holz geschreinert, die Wände mit Fachwerk verblendet. Auf der Speisekarte stehen Schnitzel, Cordon bleu und Rumpsteak – und natürlich das „gepflegte Pils“.
Am Donnerstagabend trifft sich hier der SPD-Ortsverein. Drei Genossinnen und fünf Genossen haben den Weg in die Fabrikstraße 27 gefunden. „Das sind ja richtig viele“, freut sich Vizevorsitzende Heike Krause. Die 61-Jährige wirkt mit hellblauen Longsleeve-Shirt und ihrem blonden Bob jünger. Seit 28 Jahren ist sie SPD-Mitglied, in den Neunzigern war sie einmal im Stadtrat. Nach Verlust ihres Mandats nahm sie 1999 eine politische Auszeit.
Doch ohne Politik kann Krause nicht. Zu der Frage einer wie auch immer gearteten Beteiligung ihrer SPD an einer neuen Bundesregierung hat sie einen dezidierten Standpunkt. Am Tresen stehend sagt Krause: „Ich bin für eine Minderheitsregierung.“ Ein „spannendes Projekt“ wäre das. „Dann würden die Debatten nicht mehr in Hinterzimmern laufen – und die Leute würden sehen, welche Partei im Bund für was verantwortlich ist.“
Die Basis soll eine Carte blanche geben
Berlin, Anfang dieser Woche. „Ich habe keine Ahnung, ob es der SPD mit einer Groko, einer Merkel-Minderheitsregierung oder Neuwahlen schlechter gehen wird“, sagt ein führendes SPD-Mitglied. Gerade hat Parteichef Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus den neuen Kurs verkündet. Die SPD wird mit Angela Merkel und Horst Seehofer ergebnisoffen darüber reden, wie es weitergehen soll. Der Zeitplan steht schon. Der Parteitag ab diesem Donnerstag soll Schulz ein Mandat für diese Verhandlungen geben, bei denen alles möglich ist – von der Großen Koalition bis zur Neuwahl. Schon in der nächsten Woche, so ist es geplant, trifft sich Schulz mit der Unionsspitze. Am Freitag, den 15., soll der Parteivorstand Sondierungen absegnen, die Anfang Januar beginnen können. Dann kann es schnell gehen.
Wohin die Mehrheit der SPD-Spitze will, ist ein offenes Geheimnis. Sie möchte weiter mit Merkel regieren, vorausgesetzt, die Union ist bei den Inhalten flexibel. Man beteuert zwar treuherzig, alles sei offen und auch eine Minderheitsregierung im Topf. Doch manche Spitzensozis sind ganz froh, das Merkel da wohl ablehnen wird. Gedanklich sind manche schon in der nächsten Groko angekommen. Man blättert in den letzten Jamaika-Verhandlungspapieren und schaut, wo die Union – von Kohle bis Landwirtschaft und Europa – Zugeständnisse gemacht hat. „Dahinter können die nicht zurück“, so ein SPD-Mann. Als hätte der Koalitionsdeal schon begonnen.
Manfred Klinkert, SPD-Genosse
Doch dass die SPD unversehrt aus den Gegensätzen zwischen vollmundigen Ankündigungen und kleinmütigen Rückzügen herauskommt, glaubt kaum jemand. Es geht darum, den Schaden zu begrenzen, der aus einer Abfolge von Fehleinschätzungen entstanden ist.
Die Chronik des Versagens der SPD-Spitze
Die Chronik des Versagens beginnt am 24. September kurz nach 18 Uhr. Wahlverlierer Martin Schulz verkündet im Willy-Brandt-Haus, dass die SPD in die Opposition geht. Keine Gespräche mit Merkel, so die rigorose Devise. So ähnlich tönen in den nächsten Wochen viele SPD-Leute. Jamaika werde schon funktionieren, die Grünen seien bereit, sich zu verraten, die FDP sei machtfixiert, die Merkel-CDU inhaltsleer. Doch diese Ansprache kann kaum verdecken, dass einer Partei ganz besonders daran gelegen war, dass Jamaika gelingt: die SPD.
Fehler Nummer zwei: Als Jamaika Sonntagnacht vor zwei Wochen scheitert, trifft das die SPD-Spitze wie ein Blitzschlag. „Wir sind“, so Martin Schulz, „überrumpelt worden“. Die SPD-Führung wirkt am darauf folgenden Montag intellektuell und strategisch überfordert. Das Meinungsbild im Präsidium ist eindeutig: Wir bleiben bei unserer Linie. So verkündet Schulz es im Willy-Brandt-Haus: „Ich rede mit Merkel nicht über eine Große Koalition.“ Auch eine Minderheitsregierung schließt der SPD-Chef faktisch aus. Es werde Neuwahlen geben.
Was die SPD-Spitze am Montagmorgen wissen muss, ist, dass die nicht einfach so kommen. Im Grundgesetz Artikel 63 ist der Weg zu Neuwahlen dornig gestaltet. Mehr als naheliegend wäre es gewesen, einmal nachzufragen, was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Neuwahlen so hält. Doch auf diese Idee kommt offenbar niemand. Schulz schwant am Nachmittag desselben Tages, dass seine markigen Neuwahlsprüche zum Bumerang werden könnten. In der SPD-Fraktion rebellieren Dutzende Abgeordnete, die die Aussicht auf Neuwahlen wenig vergnüglich finden. Als Schulz bedeutet wird, dass er nicht noch einmal als Kanzlerkandidat gesetzt sei, kippt die Stimmung.
Heike Krause, SPD-Genossin
Von Neuwahlen redet heute niemand mehr. Dafür fehlt der Partei alles: Sie hat keinen Spitzenkandidaten, kein Geld, keine motivierten Mitglieder. Und keine Machtaussicht. Denn eine Ampel oder Rot-Rot-Grün sind fern wie nie.
Der Fauxpas war nicht die verständliche Absage an die Groko am 24. September, sondern das Ultimative: keine Gespräche mit Merkel. Das sollte stark und stolz wirken. Aber es übertünchte nur die Verunsicherung.
Die Basis in Duisburg will keine Groko
In Duisburg-Ruhrort sind die Genossen inzwischen ins Hinterzimmer mit einem großen hölzernen Schiffssteuerrad an der Wand umgezogen. „In der Opposition könnten wir unser Profil erneuern“, sagt Heike Krause und spielt nachdenklich an ihrer silbernen Halskette.
Für die Aversion gegen die Groko im Bund gibt es in Duisburg gute Gründe. Die Wahl 2017 war so etwas wie ein letzter Warnschuss. Zwar gewann die Duisburger SPD mit gut 35 Prozent die beiden Direktmandate. Aber die Kurve zeigt steil nach unten. 2005 waren noch knapp 60 Prozent normal. Wenn das so weitergeht, wird die SPD selbst in ihrer Hochburg bald dort sein, wo Frankreichs Sozialisten heute schon sind – am Rand.
Das liegt, sagt der 23-jährige Alexander Fennen an der langen Tafel in der Taverne, „noch immer an der Agenda 2010“. Fennen weiß, wovon er spricht. Als sein Vater nach Jahrzehnten seinen Job verlor, drohte der soziale Absturz. „Er hat als Betriebswirt nach zwei Jahren Gott sei Dank wieder Arbeit gefunden“, erzählt der Juso leise. „Deshalb haben wir unser Haus noch.“ Doch viele mit weniger guter Ausbildung können sich nicht retten. Fast 40.000 sind in Duisburg auf Jobsuche, in Arbeitsmarktmaßnahmen geparkt oder auf Hartz IV abgestürzt. Offene Stellen in Duisburg: 4.492.
Die SPD-Basis in Ruhrort kennt die Wut der Abgehängten, auch aus dem letzten Wahlkampf. „Unsere Erfolge wie den Mindestlohn sehen viele nicht“, klagt nicht nur der Parteilinke Fennen. Am Wahlkampfstand bekommen die SPDler zu hören: „Ihr steckt uns in Hartz IV, ihr habt Deutschland versaut.“ In Teilen des Vororts Marxloh liegt die SPD nur noch knapp vor der AfD. Fennen ahnt, woran das liegt. „Wir waren nicht da. Es ist keiner mehr rausgegangen“, sagt er. „Wir werden da doch angespuckt.“
Jusos fürchten die Konkurrenz der Linkspartei
Auch Fennen will bloß nicht wieder eine Groko in Berlin. Das würde die Partei ins Mark treffen. Die Linkspartei „schickt uns Jusos schon Einladungen zum Parteiwechsel“, sagt er lächelnd. Bei den Jusos in Duisburg sei die Linkspartei „durchaus Thema“. In Dortmund haben manche schon ihren Parteiaustritt angekündigt, falls die Groko kommt.
Szenenwechsel. Im Kulturzentrum KuKS in Bielefeld beraten 158 Sozialdemokraten den Kurs. Der Unterbezirk Bielefeld ist traditionell links. Die frisch gewählte Bundestagsabgeordnete Wiebke Esdar, eine 33-jährige Psychologin, votiert gegen eine Koalition mit Merkel. „Wenn wir im Parlament mit wechselnden Mehrheiten kontroverse Entscheidungen nach hitzigen Debatten treffen, würde damit vor allem der AfD gründlich Wind aus den Segeln genommen“, sagt sie. Damit trifft sie die Stimmung. Am Ende heben 90 Prozent der Bielefelder GenossInnen ihre roten Stimmkarten gegen die Groko.
Ähnlich ist die Stimmung in Essen, Recklinghausen und Bochum. „Auf einem Treffen mit 32 Ortsvereinsvorsitzenden gab es ein einstimmiges Votum gegen die Groko“, sagt Essens SPD-Chef Thomas Kutschaty. Allerdings gibt es auch in NRW, der Bastion der Groko-Skeptiker, andere Meinungen. Der Bochumer SPD- Chef Karsten Rudolph fragt skeptisch, „was wir machen, wenn eine Merkel-Minderheitsregierung eine Kindergelderhöhung oder ein Investitionsprogramm für Schulen beschließen will“. Die SPD werde natürlich zustimmen. „Aber die Bänder der Eröffnungsfeiern werden andere durchschneiden.“
So ist das Bild undeutlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Die Stimmung in der SPD zwischen Rhein und Ruhr ist „diffus“, sagt Nordrhein-Westfalens SPD-Chef Michael Groschek. Der Sozialdemokrat aus Oberhausen ist kein Freund einer Neuauflage der Regierung mit der Union – will Parteichef Schulz aber auch keine Handschellen für die Gespräche mit Merkel und Seehofer anlegen oder, wie die Jusos, eine Koalition ausschließen.
Groschek setzt auf Inhalte. Zusammen mit seiner Generalsekretärin Svenja Schulze hat er Ende November einen Brief an Schulz und Andrea Nahles geschickt – und Bürgerversicherung, armutsfeste Rente und gleichen Lohn für LeiharbeiterInnen eingefordert. Hohe Hürden, scheinbar.
Vieles erinnert an das Jahr 2013, als die letzte Regierung aus Union und SPD gebildet wurde. Auch damals murrte die Basis in NRW. Doch dann schrumpfte das Nein zu „Aber nur mit diesen Bedingungen“ und mündete in einem zerknirschten „Ja“. Der Widerstand fiel zusammen wie ein Soufflé im Eiswind.
Berlin am Dienstag. „Wir haben keine Ahnung, wie wir die negative Stimmung in der Partei drehen können“, sagt ein Spitzengenosse. „Das werde „eine kleine Koalition der schlechten Laune“, ätzt ein anderer, der die Groko-Lethargie der letzten Monate noch vor Augen hat.
In der sich ausbreitenden diffusen Ratlosigkeit in der SPD greift nun die übliche Machtmechanik. Die Minister bilden das Zentrum, die Fraktion den zweiten Ring darum. Am Horizont dräut die Partei, die nun wie ein quengelndes Kind mit dem Notwendigen vertraut gemacht werden muss.
Die Befürworter einer Regierung mit Merkel haben Argumente. Eine Minderheitsregierung wäre nicht stabil genug. Außerdem würde die SPD damit das Geschäft der CDU-Rechten betreiben, die Merkel loswerden wollen. Bei einer Neuwahl 2019, etwa zusammen mit der Europawahl, würde Merkel kaum noch mal antreten. „Wir lassen uns so vor den Karren von Jens Spahn spannen“, fürchtet ein Spitzensozi.
Miersch will gleichzeitig regieren und opponieren
Matthias Miersch sitzt in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus unweit des Reichstags. Er ist erkältet, aber das zählt nicht. Es gibt Wichtigeres. Der 48-Jährige ist Jurist aus Niedersachsen. Das sind schon mal zwei Merkmale, um, wie die niedersächsischen Juristen Steinmeier, Schröder und Oppermann, in der Partei Karriere zu machen. Allerdings ist Miersch Chef der „Parlamentarischen Linken“. Das bremst auf dem Weg nach oben.
Miersch war zuletzt viel an der Basis, in Saarbrücken, Frankfurt und Hannover. „Die Debatten haben immer mindestens drei Stunden gedauert, sagt er. Seine Erkenntnis nach dem Basiskontakt: „Wir müssen alle mitnehmen. Die Groko-Anhänger und die, die auf keinen Fall eine Groko wollen und eine Minderheitsregrierung vorziehen.“
Ein Drittel an der Basis, so die Schätzungen der Parteispitze in Berlin, sind auf dem Juso-Ticket unterwegs, ein Drittel will regieren. Der Rest liegt irgendwo dazwischen.
„Wir sind die Einzigen, die sich über Alternativen Gedanken machen“, sagt Miersch. „Auf der Straße sagen viele: SPD, Union, ihr seid doch alle gleich.“ Er tüftelt an einem Kooperationsmodell, das Jusos und Minister zufrieden stellen soll. In den Kernbereichen Innen- und Außenpolitik, so die Idee, regieren Union und SPD zusammen – doch über andere Themen werde frei im Parlament verhandelt. Miersch schwebt „ein Einwanderungsgesetz von SPD, Grünen, FDP und Linkspartei“ vor. „Ich sehe keine Basis für eine Große Koalition“, sagt der SPD-Linke.
Sein Modell wäre eine Art Groko light, mit einer ordentlichen Regierung, SPD-Ministern und trotzdem Beinfreiheit für die Abgeordneten. Historische Vorbilder? Miersch schüttelt den Kopf. Nein, er kenne keine.
Ist dieses Kooperationsmodell der Königsweg? Oder Ausdruck der totalen Ratlosigkeit, der bloßen Illusion, zu regieren und trotzdem irgendwie halbe Opposition bleiben zu können?
Europa als Rettungsanker für Martin Schulz
Am Montagnachmittag scheint Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus aufzublühen. Er ist endlich in seinem Element. Die EU brauche eine „Solidarität der Tat“, fordert er und schwärmt von der Finanztransaktionsteuer, mit der man einen EU-Haushalt mitfinanzieren könne.
Dass sich die SPD fürs Vaterland oder das Spiegelstrich-Gewitter im Wahlprogramm opfern soll, sehen viele Genossen 2017 nicht ein. Bei Europa ist das anders.
Dass Emmanuel Macron und Alexis Tsipras die SPD in der Regierung sehen wollen, ist für die Parteispitze ein Geschenk. Europa ist eine sinnstiftende Erzählung. Genau das braucht die Partei, wenn sie sich ins Unabänderliche fügen soll.
Und es stimmt ja. Merkel blockiert in Brüssel derzeit viele Reformen. Dabei steht viel an. Ein EU-Finanzminister mit eigenem Budget ist überfällig, die Verwandlung des ESM von einem undurchsichtigen Herrschaftsinstrument in einen EU-Währungsfonds unter Parlamentskontrolle, mehr Transparenz im Europäischen Rat – die Liste ist lang. Der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold hofft auf Berlin, sagt aber auch: „Schulz ist in Europa nie auf Konfrontation zu Merkel gegangen.“
Im Wahlkampf hat Schulz Europa meist versteckt. Wenn er einmal etwas dazu sagte, klang es kaum anders als bei Schäuble. Jetzt will Schulz Europa retten. Auf jeden Fall aber soll Europa Schulz retten.
In der Duisburger „Taverne“ bleibt Manfred Klinkert skeptisch. Der mit 88 Jahren älteste Genosse Ruhrorts, Sozialdemokrat seit 1960, braucht weder Stock noch Rollator und geht immer noch arbeiten. „In den Regierungen Merkels gehen die Koalitionspartner unter“, warnt er: „Ich will nicht, dass sich die SPD schon wieder opfert.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Vorschläge für bessere Schulen
Mehr Führerschein wagen