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Entscheide zum RadverkehrLerneffekte im Reallabor

Über 50 Radentscheide für getrennte und sichere Fahrradwege gibt es in Deutschland. Aber eine müde Verwaltung lähmt die Umsetzung.

Ak­ti­vis­t*In­nen auf dem autofreien Templergraben in Aachen Foto: Uni.Urban.Mobil e.V.

Aachen taz | Am Templergraben in Aachen, im Zentrum des alten Univiertels, läuft seit zwei Wochen ein Reallabor. Die 260 Meter lange Straße ist gut vier Monate lang für den Autodurchgangsverkehr gesperrt. Geöffnet bleibt sie als lebendiger Ort der Begegnung, für Theater und Musik, mit Wanderbaumallee – vor allem im Interesse der Sicherheit von Radelnden und Fußgänger*Innen. Die Stadt will erforschen, was die kleine Sperrung für das Gesamtsystem Innenstadtverkehr bedeutet.

Die Realität im Labor sieht so aus: Autos umkurven die unübersehbaren großen Sperrschilder und fahren durch, wochentags im Minutentakt, mindestens. Manche sind auf Ansprache einsichtig („ach, gar nicht gesehen …“) und drehen um. Andere nutzen die Strecke motordröhnend zum Posen, um es diesen Radknilchen mal richtig zu zeigen. Polizei ist nur selten da.

Reallabor: Mit solchen Verkehrsversuchen wird in Aachen seit einem Jahr Radpolitik zu machen versucht. Aachen hat das deutschlandweit erfolgreichste Bürgerbegehren Radentscheid hingelegt: 38.185 Unterschriften entsprachen 19,8 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahre. Im November 2019 hatte der Stadtrat fast einstimmig zugestimmt, mit Ausnahme der AFD und FDP.

Der Radentscheid für eine bessere Infrastruktur war damit rechtsverbindlich beschlossen, aber umgesetzt ist nach bald zwei Jahren fast nichts: 160 Meter abgetrennter Radweg bislang – ein Witz. Rechnerisch hätten es schon 5 Kilometer sein müssen. Drei umgebaute Kreuzungen pro Jahr sind beschlossen, die erste ist jetzt in Planung, für 2023. Der Gesamtplan fehlt und fehlt.

Die Umsetzung stockt überall erheblich

In gut 50 Städten von Rosenheim bis Rostock wurden Radentscheide durchgeführt oder laufen derzeit. Sie heißen „Verkehrswende Brandenburg Jetzt“ oder „Platz Da! Bremen“. Überall ist von Nachhaltigkeit die Rede, von einer lebenswerten Stadt mit reduziertem Blech und dem massiven Ausbau sicherer Radwege. Aber die Umsetzung stockt überall erheblich – wegen ausbremsender Vorschriften, einer trägen Verwaltung, dem giftigen Widerstand der Hubraumwelt.

Die Radentscheide in Darmstadt und Bielefeld scheiterten zunächst aus formalen Gründen, in Schwerin intervenierte im Frühjahr sogar das CDU-geführte Innenministerium nach dem positiven Ratsbeschluss zum örtlichen Radentscheid – ein politisches Novum. Nach heftigem Medienecho und Klage vor dem Verwaltungsgericht nahm der Minister seinen Widerspruch kürzlich zurück.

Die Autowelt höhnte

Auch am vielbefahrenen Aachener Adalbertsteinweg, selbst für Radroutiniers eine Horrorstrecke, gab es Ende 2020 ein sechswöchiges Reallabor samt Pop-up-Radweg über 800 Meter. Eine Autospur fiel weg. Unpassenderweise in den Lockdownwochen, ohne Studierende in der Stadt. Es gab nur wenig mehr Radverkehr und gelegentliche Staus. Die Autowelt höhnte über ein Desaster, die Stadt ruderte zurück. Die Schwierigkeiten stellen sich überall anders dar.

Reallabore sind Teil der Aachener Strategie: versuchen, testen, schauen, auswerten, entscheiden. Immer neue Veranstaltungen mit Anwohnenden („Bürger*Innen-Dialog“) kommen dazu, immer neu verworfene und verwässerte Vorschläge der Verwaltung, eitle und ängstliche Einwürfe von Politiker*Innen. Pop-up-Radwege einfach so – nein, sagt die Politik. Wenn, dann lieber richtig.

Pädagogikmaßnahme

Den In­itia­to­r*In­nen des Rad­ent­scheids geht das zu langsam. Seufzend gehen die Blicke nach München, Darmstadt und vor allem nach Berlin mit seinen kilometerlangen Pop-up-Strecken und der für Autos teilgesperrten Friedrichstraße. Beste Argumente und Zukunftsvisionen gibt es genug. Wer Maastricht nebenan besucht, bekommt feuchte Augen.

Aachens Grünen-nahe Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen (parteilos), selbst passionierte Radlerin, ist über jeden Zweifel erhaben, die Dinge absichtlich schleifen zu lassen. Aber sie will die Bür­ge­r*In­nen mitnehmen, Maßnahmen verständlich machen, alles im Gespräch. Rad- und Klimapolitik als Pädagogikmaßnahme. Statt Argumenten bekommt Keupen Schimpfkanonaden zurück, Shitstorms, gequirlten Unsinn.

Anwohnende für Parkplätze

Geschäftsleute sehen sich ohne vorfahrende Kun­d*In­nen unmittelbar vor der Pleite. Und wehe, bei einem geplanten Radweg müssten einzelne Bäume gefällt werden (mit mehrfacher Ausgleichspflanzung widerstandsfähigerer Arten) – schon geben sich Anwohnende als Na­tur­schüt­ze­r*In­nen und nehmen Bäume argumentativ als Geiseln, obwohl sie Parkplätze meinen. Sie wollen auch Parkreihen zwischen Fußweg und Straße unbedingt behalten, als Sicherheitsargument, wegen der Kinder. Blech als Schutzwall gegen Blech.

Auch in Bamberg, mit einem der ersten Radentscheide, gibt es nach dreieinhalb Jahren erst ein paar hundert Meter entscheidkonformen Radweg. Gegenwind kommt von der AutofahrerI*nnen-Initiative „gemeinsam mobil“. Die wiegelt Menschen mit der falschen Behauptung auf, es drohe die City-Sperrung für Autos. Ein Ableger ist neuerdings auch in Aachen aktiv, angeleiert von einem Immobilienbüro – mit einer Umfrage, die an „möglichst ganz viele vernünftige Personen“ weitergeleitet werden soll. Darin Fragen, die sich gar nicht stellen: „Fahrrad und ÖPNV können in absehbarer Zeit das Auto nicht komplett ersetzen. Richtig oder falsch?“

Freie Fahrt bei illegaler Fahrt

Zuletzt wurden in Aachen im Wochentakt Rad­fah­re­r*In­nen schuldlos umgenietet und landeten schwer verletzt im Krankenhaus. Gleichzeitig schneiden sich am Reallabor Templergraben die durchbrausenden PS-Freund*Innen ins eigene Fleisch: Denn so vermeiden sie Zusatzverkehr auf Nebenstraßen und sorgen für insgesamt geringere Auswirkungen. Das ist das erhoffte Ergebnis des Tests.

Auch bei Radlern sorgt das Reallabor für Lerneffekte. Ein Aktivist des Radentscheids begegnete vorige Woche einem besonders rabiaten Autofahrer. Der ignorierte die freundlichen Hinweise, gab Vollgas und fuhr ihm über den Fuß. Folge: Anzeige wegen Körperverletzung. Der Radler bekam zur schmerzenden Verletzung von der Polizei auch eine Anzeige obendrauf: wegen Nötigung. Man darf Autos, auch auf verbotenen Wegen, in Deutschland nicht versuchen aufzuhalten. Freie Fahrt auch bei illegaler Fahrt.

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9 Kommentare

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  • Kommerz



    Die Verkehrswende wird seitens der Fahrradlobby als Werbung für den Absatz missbraucht.

    Das klingt etwa so: „Wenn ich Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit vom Auto auf den Sattel drängen will, dann muss ich ihnen schnelle eBikes schenken und riesig breite, schnurgerade, asphaltierte Radschnellwege in den allerschönsten Landschaftsschutzgebieten bauen, und dafür bereit sein, alle 80 Meter die schattigsten Baumveteranen aus dem Weg zu räumen - selbst wenn es die schönsten, gesündesten, bewohntesten oder gar die letzten Bäume im Landschaftsschutzgebiet oder Park sind!“



    Und das wäre gut so und fair, solange sich niemand daran stört und solange irgendwelche Steuerzahlende das bezahlen!

    Aber es ist nicht zukunftsorientiert, für den Radverkehr Flächen zu versiegeln, Bäume zu fällen, Maximaltempo anzustreben, Fußgänger:innen zu verdrängen und Parks und Wälder den Temporadlern auszuliefern.

    Die Gewinner am Ende werden weder die Natur noch das Klima sein.



    Es wollen die Hersteller, Vermieter, Werkstätten und Verkäufer von Fahrrädern, Anhängern, Lasten- und Elektrorädern und eScootern sowie die Stromlieferanten und Ladestationshersteller und -vertreiber höchste Profite machen - der ADFC macht sich bundesweit dafür zum Steigbügelhalter.



    Fußgänger und beschaulich Radelnde werden dann in den nächsten Jahren den Beschleunigungsfans auf breiten, baumlosen Pisten weichen müssen.

  • Ich sehe ein sehr großes Problem darin, dass die "Radentscheide" keine Bewegung, schon gar keine Basiswegung, repräsentieren, sondern eine Art Astroturf-Bewegung sind.



    Die Forderungen nach mehr oder "besseren" Radwegen sind bei sehr vielen erfahrenen und überzeugten Radler*innen umstritten.

    • @Wagenbär:

      Wieso sind die umstritten? Und wer sollen diese "erfahrenen und überzeugten Radler" denn sein, was macht sie aus?



      Sie das diejenigen die glauben auf der Straße in der 30er Zone Autos waghalsig zu überholen um zu zeigen, hey wir sind schneller?

    • 1G
      164 (Profil gelöscht)
      @Wagenbär:

      Wenn man mehr Leute aufs Rad bringen will, kann man halt nicht nur für "erfahrene und überzeugte" Radler planen. Ich vermute die meisten Leute ziehen ordentliche Radwege dem gleichberechtigten Fahren auf der Straße vor. Das Beispiel Holland zeigt ja eigentlich auch, dass sinnvoll getrennte Infrastruktur etwas ist was ganz gut funktioniert.

      • @164 (Profil gelöscht):

        Die Sache ist aber die, dass die größere Gefährdung bzw die Scheinsicherheit auf Radwegen wissenschaftlich und statistisch eindeutig belegbar ist.



        Radwege gehören zum Konzept der



        !Auto!-Gerechten Städte.

        • 1G
          164 (Profil gelöscht)
          @Wagenbär:

          Ja, wie gesagt... die Niederlande machen es vor: www.youtube.com/watch?v=c1l75QqRR48

  • Fazit: So, das schöne Radkonzept hätten wir. Jetzt fehlen nur noch die Radler.

    • @Adam Weishaupt:

      Ähm Sie haben den Text nicht vollständig gelesen oder?

      • @Daniel Drogan:

        Zitat: "Es gab nur wenig mehr Radverkehr und gelegentliche Staus. Die Autowelt höhnte über ein Desaster, die Stadt ruderte zurück. Die Schwierigkeiten stellen sich überall anders dar."