Energierechnungen verweigern: Das Mütchen wärmen
Gegen die auf Unterschichten abgewälzten Teuerungen gibt's in Großbritannien die Initiative „Don’t pay, UK“. Im Schuldturm wäre es wenigstens warm.
Wer kennt ihn nicht, den wohl ältesten Traum der Menschheit, und wir reden nicht vom Fliegen. Das haben wir schließlich längst zufriedenstellend gelöst, im Paket mit Speedy Boarding und zusätzlicher Beinfreiheit. Nein, die Rede ist vielmehr von einer derart verlockenden und alles verändernden Utopie, dass im Vergleich die von den Gläubigen herbeigebarmte Ankunft des Heilands auf Erden nur ein Postbote ist, der ein Paket mit Hundefutterdosen für die Nachbarn bringt: einfach unsere Rechnungen nicht zu bezahlen.
In Großbritannien rückt der Traum nun näher. Wegen der allgemein steigenden Lebenshaltungskosten hat sich dort die Initiative „Don’t pay, UK“ gegründet, die dazu aufruft, ab dem ersten Oktober die Strom- und Gasrechnungen nicht mehr zu bezahlen, sollten Regierung und Energieunternehmen bis dahin nicht für erschwingliche Energiepreise gesorgt haben. Dabei haben die dort noch nicht mal eine Gasumlage.
Apropos, wie sähe das denn hierzulande aus: Wenn eine deutsche Initiative beispielsweise unter dem Namen „Nicht latzen, ihr Bratzen!“ zur Zahlungsverweigerung aufriefe, was dann? Womöglich würde die Stimmung hier noch stärker kippen als in Großbritannien, allein aufgrund unserer jüngsten, erschreckend schönen Erfahrungen mit dem Nicht- beziehungsweise Kaumbezahlen.
Da hat Finanzminister Christian Lindner nämlich völlig recht. Unsere Zahlungsmoral hat ohnehin schon gefährliche Schlagseite erhalten – zu viele haben sich bereits ans von Mami Staat großzügig dargereichte Zuckerbrot gewöhnt. Man hat uns verhätschelt wie dicke kleine Kinder. Neid, Gier und Gratismentalität haben unsere Seelen zerfressen. Wir haben jetzt drei Monate lang die Welt gesehen, vom Bodensee bis zur Uckermark, ohne zu bezahlen, und werden wohl niemals wieder auf diese bedingungslose, naive Gefügigkeit zurückfallen, wie sie uns Untertanen in der Vorstellung der Mächtigen am besten zu Gesicht steht. Wir sind sehend geworden; die aus zahllosen Umstiegen von einer überfüllten Regiobahn in die andere gewonnene Erfahrung, Reife und bürgerliche Mündigkeit können sie uns nie mehr wegnehmen.
Mahnungen, Säumnisaufschläge, Gefängnis
Doch gegen den Zahlungsboykott spräche wohl noch immer die German Angst. Die Einzelne kann schwer dagegen anstinken. Wie oft hab ich laut geschrien, „das seh ich nicht ein, ich zahl das nicht“, und hab in meiner Ohnmacht am Ende immer brav geblecht. Dazu kommt, dass der vormals positiv besetzte zivile Ungehorsam in den letzten Jahren zunehmend vom Ruch des spinnerten, pauschalisierenden und destruktiven Antidemokraten zugestänkert wurde.
Aber das ist Deutschland. Den britischen Initiatoren möchte man die Daumen drücken, und sehen, was passiert. Im Normalfall dies: Es gibt Mahnungen, Säumnisaufschläge, Schulden werden eingefordert, weiter nicht bezahlt, Leistungen eingestellt, Urteile ergehen, Zwangsgelder können nicht eingetrieben werden, und am Ende werden die Hartnäckigsten eingesperrt. Vielleicht haben sie es dann wenigstens warm.
Doch was ist, wenn sich so viele Menschen daran beteiligen, dass der reiche Rest komplett als Gefängnispersonal herhalten muss? Die hätten womöglich gar keinen Bock drauf, 24/7 Zahlungsverweigerer zum Hofgang durchzuschließen, anstatt schön im Golfklub Hugo zu trinken. Wie viele Leute kann man also einsperren – in den USA läuft dazu schon lang ein Feldversuch –, ehe das System kollabiert, weil mehr Menschen drinnen als draußen sind? Allerdings müsste es Vorreiter geben, die es darauf ankommen lassen. Und entgegen der Redensart beißen die Hunde immer die Ersten. Es braucht also viel Mut. Aber woher soll der kommen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden