Energieexperte Halver über Gasstopp: „Politisch lange sehr blauäugig“
Der Energieexperte Robert Halver warnt vor langfristigen Schäden für die Industrie. Es könne zum Exodus deutscher Firmen kommen.
taz: Herr Halver, wem dreht die Bundesnetzagentur zuerst den Gashahn zu?
Robert Halver: Es gibt ja schon einen groben Plan: Die Haushalte bekommen zuerst Gas, die sozialen Einrichtungen auch, und die Industrie weniger. Wenn man sich vor Augen führt, wie viel Gas gerade die Chemieunternehmen in Deutschland als Vorprodukt brauchen, auch im landwirtschaftlichen Bereich – Dünger basiert ja de facto auf Erdgas –, ist das natürlich ein herber Schlag. Wir haben zwar eine warme Bude, müssen uns aber fürchten, dass einige Arbeitsplätze nicht zu halten sind.
Lässt sich absehen, um wie viele Arbeitsplätze es geht?
Das kann man nicht sagen. Wenn es hart auf hart kommt, wird Kurzarbeitergeld eingeführt. Aber klar, längerfristig wäre das ein Problem. Jetzt zeigt sich eben, dass wir politisch lange sehr blauäugig gesagt haben, „das wird schon gut gehen“.
Welche Industrieunternehmen werden zuerst kein Gas mehr bekommen?
Unternehmen, die keine Grundbedürfnisse erfüllen, zum Beispiel die Luxusindustrie. Aber alles, wo es sehr hohe Beschäftigungszahlen gibt, wird zunächst noch Gas bekommen. Die Autoindustrie ist ein großer Arbeitgeber. Das stützt man natürlich. Die wichtigen Industriezweige in Deutschland, Automobil, Maschinenbau, Elektro, Chemie, sollen möglichst lange an der Gasversorgung gelassen werden, andere Güter auch, zum Beispiel im Bereich Lebensmittelproduktion. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man die Fleischproduktion einschränkt. Einfach, weil es weniger Energie, Fläche und Dünger braucht, Weizen hochzuziehen und damit zu backen, als wenn man den Weizen ziehen muss, um damit Schweine zu füttern.
Jahrgang 1963, ist Energieexperte und Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank in Frankfurt.
Der Chemiekonzern BASF stellt Vorprodukte für die Medizin- und Lebensmittelprodukte her, aber eben auch für vielleicht weniger wichtige Bereiche. Lässt sich denn BASF nur in Teilen das Gas abdrehen?
Große Konzerne wie BASF haben verschiedene Standorte, die diverse Schwerpunkte haben. Da kann man sicher differenzieren. Bei kleineren Unternehmen, wo es nicht so festgestellt werden kann, wird es schwieriger.
Gibt es irgendwo einen echten Gashahn, der dann geschlossen wird?
Da wird die Produktion einfach heruntergefahren. Das ordnet der Staat an. Er fährt aber nicht eine Firma komplett herunter, sondern erst die unwichtigeren Bereiche, auf die man verzichten kann.
Einige Industrien, besonders in der Chemie, lassen sich nicht schnell wieder hochfahren, wenn sie einmal abgeschaltet sind.
Das ist wie beim Sport. Wenn Sie nur rumsitzen, erschlaffen Ihre Muskeln. Man fährt eine Firma nur dann herunter, wenn man nachhaltig keine Renditemöglichkeit sieht. Und wenn man die Produktion einstellt, ist man gedanklich schon im Ausland. Man wird das möglichst lange herauszögern, auch von der Politik aus. Aber es ist doch klar: Wenn eine Firma komplett runtergefahren ist, ist sie weg. Gleichzeitig ist das Abwandern ein längerer Prozess. Längerfristig wäre es ein Problem, wenn wir keine Versorgungssicherheit mit Energie haben. Wenn die nicht verfügbar ist, ist der Exodus der deutschen Firmen ins Ausland eingeleitet.
Geht es dabei um alle Unternehmen, die Erdgas als Rohstoff benötigen?
Wenn ab morgen in Rubel gezahlt werden müsste, ist es nicht so, dass ab übermorgen kein Gas mehr da ist. Ich könnte mir vorstellen, dass wir relativ mühelos bis Herbst kommen. Aber „mühelos bis Herbst“ ist für Unternehmen nicht ausreichend. Sie brauchen langfristige Perspektiven, denn die weltweite Standortkonkurrenz ist hart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen