Eltern und Kinder: Lasst uns keine Freunde bleiben
Eltern werden immer älter, 80, 90, 100 und entdecken plötzlich ein Leben nach der Familie. Was das für ihre Kinder bedeutet.
Vergangenen Herbst wurde meine Mutter 80. Als ich leicht verspätet zu dem Lokal kam, wo die Feier stattfand, blieb ich erst mal in der Tür stehen. War ich hier richtig? Außer den engeren Familienmitgliedern war unter den Gästen niemand, den ich besser als vom Sehen kannte. Offensichtlich hatte das Umfeld meiner Eltern radikale Wandlungen erfahren, die mir entgangen waren. Aber seit wann eigentlich?
15 Jahre zuvor, beim 70. Geburtstag meines Vaters, waren sie doch alle noch da gewesen, die Freundinnen und Kollegen meiner Eltern, mit denen ich aufgewachsen war. Es war ein rundes Jubiläum, aber auch ein Fest zum Ende des aktiven Berufslebens der Älteren – eines, das die Kindheit von uns Jüngeren endgültig abschloss, eine Art Stabübergabe: Ab jetzt waren wir die Bestimmenden, die Verantwortlichen. Jenes Fest war ein Anfang, aber auch ein Ende, ihre Saison war vorbei, die neue konnte beginnen, mit einer Verlängerung hatte ich nicht gerechnet. Oder spielten meine Eltern jetzt in einer ganz anderen Liga?
15 Jahre später stand ich jedenfalls beim Fest für meine Mutter ohne organische Bindung an die fröhlich gemeinsame Erlebnisse besprechende Gemeinde. Niemand der „Neuen“ hatte meine Mutter als junge Frau erlebt, niemand mich oder meine Geschwister als Kinder; niemand kannte die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Tragödien und Freuden gehörten hier nicht her. Meine Mutter forderte mich auf, ihre neuen Freunde kennenzulernen, ich wollte das auch, aber ich kam nicht in Stimmung. Ich blieb gehemmt, ich spürte ein Ziehen in der Brust, ich war erleichtert, als das Essen zu Ende ging und ich mich ins Nachtleben absetzen konnte. Aber das Gefühl, dass hier etwas nicht mehr stimmte, ließ sich nicht durch ein paar Bier vertreiben.
Die letzten 2.000 Jahre war die Sache klar: Siebzig Jahre leben wir – wenn's hoch kommt, werden es achtzig. So steht es in den Psalmen der Bibel. Heute hat meine 1938 geborene Mutter statistisch gute Chancen, 90 Jahre alt zu werden. Und wenn sie dieses unbiblische Alter erreicht haben wird, dann können wir beide – ich bin gerade 50 geworden – auf sechs gemeinsame Jahrzehnte zurückblicken: So viel Zeit wie heute hatten Eltern und Kinder noch nie miteinander – bei den Lebenserwartungschampions in der Schweiz kommen jeden Tag sechs Stunden hinzu. Und wie immer, wenn Menschen mehr Zeit haben, stellt sich ihnen die Frage, was sie mit ihr eigentlich anfangen wollen.
Die Alltäglichkeit der Begegnung
Die TV-Moderatorin und Autorin Charlotte Roche hat wie so oft die Nase vorn. Sie sieht die „hohe Lebenserwartung“ als Problem für Eltern und Kinder. „In den Zeiten der Pest“, schreibt Roche für das SZ-Magazin, „konnte man schon um 20 rum ein echter Erwachsener sein, weil Eltern so um die 40 gestorben sind. Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man keine Eltern mehr hat. Wenn sie noch leben, bleibt man immer irgendwie Kind. Wenn heutzutage alle 90, 100, 120 Jahre alt werden und wenn zum Pech noch Unglück dazu kommt, überleben sie einen, und man stirbt ohne je selbst in den Genuss zu kommen, wie es sich anfühlt, ein echter eigener, freier, selbstständiger Erwachsener zu sein.“ Roche schrieb, sie habe sich von ihren Eltern getrennt.
So radikal war ich nicht – oder doch? Ich hatte mich auf dem 80. meiner Mutter einfach nur überflüssig gefühlt, bei den Menschen, von denen ich gedacht hatte, dass sie mir am nächsten stünden, dass ich für sie am wichtigsten wäre, weil sie doch den Kern meiner Familie bildeten.
Charlotte Roche
In den letzten Jahren hatte ich mich oft danach gesehnt, meinen Eltern näher zu sein. Wir wohnen weit voneinander entfernt, wir telefonieren oft. Aber was mir fehlte, hatte ich gemerkt, war die Alltäglichkeit der Begegnung, eine beiläufig-zärtliche Berührung, eine Hilfestellung im Alltag, ein gemeinsames Erlebnis. Aber nun war ich da gewesen und hatte festgestellt: Die hier feierten, waren sozusagen eine andere Mutter und ein anderer Vater. Und wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die neuen Freunde, Nachbarn vor allem, die – so sagte es einer meiner Brüder in seiner Rede sehr treffend, sehr radikal eben – die waren nun „Familie“.
Herrschaftsform in der Antike
Wenn das so war – was sollte das überhaupt noch, dieses Konzept Familie in Zeiten einer immer längeren Lebenserwartung mit immer neuen, noch nie da gewesenen Lebenskapiteln? Was bedeutet Familie?
Es waren die alten Römer, die neben vielen anderen praktischen Dingen auch die „Familie“ erfunden haben. Sie verstanden darunter die „Gesamtheit der Dienerschaft“ (famulus bedeutet Diener, Sklave). In dieser römischen Veranstaltung familia hatte der Vater, der pater, die absolute Macht über Leben und Tod. Er durfte straflos alle Familienangehörigen töten, die gegen seine Regeln verstießen.
So, als Herrschaftsform, trat die Familie aus der privaten in die öffentliche Sphäre. Und als solche hat sie sich über die Jahrtausende gegen alle Versuche, sie zu schwächen oder durch ein antiautoritäres Modell abzulösen, mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit behauptet. Wenn wir gar nicht anders können, als uns nach den Riten und dem Mief der Familie zu verzehren, dann auch deswegen, weil Familie die berühmte Keimzelle des Staates ist, der seinerseits nichts anderes darstellt als die institutionalisierte Form der „Gesamtheit der Dienerschaft“. Als Unfreie werden wir geboren, und unfrei sollen und wollen wir in unserer Familienhysterie bleiben.
Und ich, als Jüngster von drei Söhnen, fiel mir küchenpsychologisch ein, hatte vielleicht einfach nicht genug mitbekommen von unserer ehemaligen Großfamilie mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Verwandten. Während sich meine Brüder und Eltern dankend von der traditionellen Familienidee verabschiedet hatten, hinkte ich – nicht zum ersten Mal, fiel mir ein – sentimental hinterher, so wie früher, als ich der Einzige war, der noch aufgeregt mitkommen wollte, um die Oma vom Bahnhof abzuholen, während meine Brüder sich noch tiefer in ihre Legokonstruktionen versenkten.
Kam daher dieses Ziehen in der Brust? Konnte ich mich deswegen nicht zu einem nüchternen Bild von Familie durchringen? Wollte ich vielleicht gar kein „echter Erwachsener“ sein, wie Roche es formuliert?
Von meinem Vorher weiß ich nichts
Meine Erinnerung setzt mit ungefähr drei Jahren ein, mit einem Besuch bei den Urgroßeltern, im Frühjahr 1972. Von diesem Besuch ist mir ein vager Geschmack von Erdbeer-Eis geblieben, ein Geruch von Flieder, ein hinter Schleierfetzen durchblitzendes erstes Bild von mir selbst vor Teppichstangen. Es war das erste Mal, dass ich mich von außen sah, dass ich mir meiner Existenz bewusst wurde.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Von einem Vorher, meinem Vorher, weiß ich nichts. Ich war bewusstlos, wehrlos, ein Mensch im Ausnahmezustand, wie der Philosoph Giorgio Agamben das sagt – vollkommen der Gewalt anderer ausgeliefert. Es war die Entscheidung meiner Eltern, ob sie mich liebten oder vernachlässigten, ob sie mich wiegten oder tot schüttelten, ob sie mich missbrauchten oder beschützten.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber: Mir läuft es jetzt, da ich das schreibe, kalt den Rücken herunter. Würde sich irgendwer von uns freiwillig in eine solche Lage begeben? Zudem mit Leuten, die man gar nicht kennt?
Das ist nicht nur ein Witz: Denn die Familie – meine, unsere, Ihre – ähnelt auch darin der „Gesamtheit der Dienerschaft“, als die Kinder ja sozusagen zugekauft werden. Sie haben kein Mitspracherecht über ihre Entstehung und ihren Status und ihren Preis, was ziemlich relevant ist für die derzeitige Diskussion über globale Menschenrechte: Denn warum soll das Leben eines zufälligen Deutschen, der auf die Idee kommt, Steine auf ein zufällig als Flüchtling in Libyen geborenes Kind zu werfen, mehr wert sein als eben das dieses Kindes – dem man ja nun nicht schön neoliberal vorwerfen kann, es habe halt nichts aus seinem Leben gemacht (dem Deutschen schon eher)?
Aber ich will nicht abschweifen, nicht zu weltläufig werden. Ich bleibe hier noch ein vielleicht letztes Mal in der warmen Grießbrei-mit-Haut-Welt des westdeutschen Mittelstands. Doch auch da ist irgendwann für jede und jeden Frühjahr 1972. Irgendwann setzt Bewusstsein ein, das sich ein Leben lang als Erinnerung abrufen lässt. Von nun an beginnen wir, uns zu merken, welche Erfahrungen wir machen, welche Ideen und Werte in uns eingespeist werden, in dieser Familie, mit unseren Geschwistern, mit unseren Eltern. Diese Jahre, bis sich unser Interessengebiet in der Pubertät in andere Welten verschiebt, diese Jahre sind der bewusste Teil unseres Verhältnisses zu den Eltern, darauf beziehen wir uns ein Leben lang.
Bei mir war in diesen Jahren meine Mutter der geliebte Fixpunkt, um den ich kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen Ängsten. Und mein Vater war der Spaß und Überraschung in die Sache hineinbringende Gelegenheitsgast. Aber auch diejenigen, deren bewusste Kindheit unglücklich war, wollen immer ein bisschen dorthin zurück, wollen herausfinden, was warum genau schiefgelaufen ist – und ob nicht noch Heilung und Versöhnung möglich wären.
Die elterliche Macht über Leben und Tod
Die Idee, unsere Eltern sollten irgendwann ganz normale Menschen werden, die uns zu ganz normalen Partys mit uns völlig Fremden einladen, ist in diesem Licht besehen vielleicht gerade noch nett. Aber sie ist zum einen willkürlich, denn wenn wir fremde Menschen kennenlernen wollen, warum dann ausgerechnet solche, die unsere Eltern aussuchen anstatt Sympathie und gemeinsame Interessen entscheiden zu lassen? Viel mehr noch aber ist diese Idee eine Lüge: Denn der Zustand des kindlichen, vorbewussten Ausgeliefertseins beziehungsweise der elterlichen Macht über Leben und Tod hat sich tief in Eltern und Kindern festgesetzt. Wir werden keine Freunde mehr, selbst wenn wir uns das vollkommen ehrlich wünschen. Selbst wenn wir unsere Eltern sehr lieben – und sie uns.
Was uns mit unseren Eltern verbindet – und sie mit uns und uns mit unseren Kindern – ist, wieder mit Agamben gesprochen, der Ausnahmezustand. Sie haben über Jahre die Entscheidung, jedenfalls aber – wenn wir das Schicksal hier mal außen vorlassen – die Sorge über Leben und Tod getragen. Wir Kinder wissen das auch. Und jedes Mal, wenn wir mit unseren Eltern zusammen sind, kommt, so heiter und entspannt wir uns auch geben mögen, der Ausnahmezustand wieder hoch.
Und deswegen sollten wir uns nicht zu oft und zu lang immer wieder begegnen: Die Zeit, die Eltern und Kinder im Erwachsenenalter miteinander verbringen, muss begrenzt sein, weil niemand, wie Roche sagt, sein Leben lang Kind sein oder, wie Agamben sagt, einen Großteil seines Lebens im Ausnahmezustand verbringen will – oder mit schlechtem Elterngewissen, das alle haben, die Kinder haben, wenn sie nicht egomanische Idioten sind: Einfach weil man als Eltern immer gravierende Fehler macht – mit den Worten des Autorenpaares Svenja Flaßpöhler und Florian Werner gesagt: „Nichts am Kinderkriegen ist harmlos“.
Niccolò Marchionni
Im aus all diesen Gründen alle Jahre wieder anstehenden großen Spiegel-Weihnachts-Krisengespräch verkannte im Jahr 2017 der sympathische Jesuit und Philosoph Michael Bordt diese harten Tatsachen, als er das schlichte Gebot aufstellte: „Du sollst deine Eltern enttäuschen“. Bordt warb zwischen Eltern und Kindern sehr nett für ein neues „Beziehungsangebot: Ich gebe mich als der zu erkennen, der ich eigentlich bin“.
Sie ahnen schon, was hier nicht stimmt: Denn „eigentlich“ sind Eltern wie Kinder gerade nicht, wie von Bordt beschworen, freie Individuen. „Eigentlich“ sind Eltern und Kinder zusammen für immer Eltern und Kinder. Zwischen ihnen gibt es keine freiwilligen Beziehungen.
Zwangsgemeinschaft, nein danke
Wie bedrückend das ist, lässt sich auf einer relativ harmlosen Stufe beobachten, wenn die in die Szeneviertel der Großstädte gezogenen, studierenden Sprösslinge ihre Alten herumführen müssen – nicht zuletzt, weil die ja die aktuelle Miete bezahlen und die zukünftige Eigentumswohnung finanzieren sollen. Noch nie habe ich eine solche, wieder zusammengeführte Zwangsgemeinschaft glücklich gesehen.
Immer hängen dunkle Wolken der Regression der Kinder und des ungelebten Lebens der Eltern über ihnen. Diese Peinlichkeit, dieser Neid, diese Sprachlosigkeit – und alles subsumiert unter den Labels „Dankbarkeit“ (ist doch klar, dass ich die rumführe; dass mein Kind mich rumführt), „Freundschaft“ (die sind echt cool drauf, meine Eltern; das ist gar nicht so schlimm, dieses Neukölln), „Natürlichkeit“ (sind halt meine Eltern; ist halt mein Kind).
Und jetzt wird alles schlimmer: Wir können nicht mehr auf Zeit spielen und sagen, na ja, was soll’s, die paar Jahre verkniffene Eltern-Kind-Beziehung, die sitzen wir aus. Die Spanne, die Eltern und Kinder gemeinsam denselben Planeten bewohnen, hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm ausgeweitet. Zwar sind Mütter heute bei der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter als in den 1960er Jahren, zu deren Ende ich geboren wurde. Die Altersspanne, in der Frauen Kinder bekommen, ist aber relativ unverändert geblieben, hochgejazzte Altpromischwangerschaften oder ewig-knackige Seniorenväter hin oder her. Halten wir uns an die Fakten: „Das beste Alter um Kinder zu zeugen? Anfang 20 bis 30“, sagt die Biochemikerin und Leibnizpreisträgerin Melina Schuh in der FAZ. Ab 35 Jahren gelten Frauen als „ältere Frauen“, und eine Schwangerschaft ist eine „Risikoschwangerschaft“. Und das wird trotz aller Humanoptimierung auch noch eine ganze Weile so bleiben. Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland handelt entsprechend. Die 15 zu Beginn erwähnten Jahre, in denen meine Eltern ihr neues Leben auf die Beine gestellt haben, in denen sie sich noch einmal ganz fremde Welten erschlossen und eine verbindliche Gemeinschaft aufgebaut haben – so etwas hätte es früher eben gar nicht erst gegeben!
Wird die Gesellschaft also eigentlich immer älter, so wurde sie in Italien im vergangen November auf einen Schlag jünger: Von der Jahrestagung der italienischen Geriatrischen Gesellschaft las ich im Corriere della sera: Alt sei man jetzt erst ab 75! Ein 65-Jähriger habe heute die physische und geistige Verfassung eines 40- bis 50-Jährigen von vor 30 Jahren! Ein großer Teil der 60- bis 75-Jährigen sei bestens in Form und quasi krankheitsfrei! „Wir können diese Menschen nicht mehr ‚alt‘ nennen“ sagte Professor Niccolò Marchionni, Leiter der Abteilung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen an einer der größten Kliniken Italiens, dem Careggi-Hospital in Florenz. Die Kategorie Alter müsse man dynamisch begreifen. Wissenschaftlich gesehen sei alt, wer nur noch zehn Jahre zu leben habe. „Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, der wird zugeben müssen, dass man 65-Jährige heute schlicht nicht mehr als Senioren wahrnimmt“, sagte der Professor.
Naja, professore: Schon mit 50 kann man sich verdammt alt fühlen und auch als solches wahrgenommen werden, jedenfalls (was man so hört) bei Tinder. Wenn allerdings Menschen, insbesondere Männer, sich auch heute noch von der Jugend abgehängt fühlen, dann liegt das vorzugsweise daran, dass sie nicht bereit sind, dazuzulernen und mit abgehalfterten Ideen und unerträglich autoritärem Gestus an frischen Diskursen teilnehmen wollen, die sie nur bedingt etwas angehen.
Wer sich hingegen die frenetisch-fröhlich silversurfenden Reisegruppen auf den Kanaren anschaut, die robust in Schlange stehenden Kakiwesten vor den Museen oder die kleine Kinder altautonom an der Biomarktkasse wegschubsenden MarathonläuferInnen – der wird feststellen, dass die Alten, die eben keine Alten mehr sind, nie in der Geschichte so selbstbewusst und selbstzufrieden waren wie heute. Diese Alten sind es, mit denen gemeinsam die Jungen immer älter werden. Was verbindet sie außer der vorbewussten und der bewussten Kindheit?
Die im Normalfall gewiss darin besteht, von einer Mutter und einem Vater (oder in jeder beliebigen anderen Kombination oder Individualität) liebend umsorgt worden zu sein, obwohl es aber eben auch ganz, ganz anders hätte ausgehen können – und es ja immer noch viel zu oft auch ganz, ganz anders ausgeht, nicht nur in christlichen oder reformpädagogischen Einrichtungen, nicht nur auf Provinz-Campingplätzen oder im Darknet, sondern in ganz normalen Einfamilienhäusern, die zu Folterkellern werden.
Ich habe ja keine Erwachsenen gezeugt
Das große gemeinsame Glück existiert trotz allen Elends. Ich kenne dieses Glück in beide Richtungen, schließlich bin ich selbst Vater. Vielleicht habe ich sogar für niemanden tiefere, innigere Gefühle als für meine Kinder – vielleicht: Denn noch weiß ich nicht, was ich fühlen werde, wenn meine Mutter stirbt; und ich weiß auch nicht, was es mir antäte, wenn meine Frau sagte, dass sie mich nicht mehr liebt und mich verlässt. Ich habe einen riesigen Spaß mit meinen Kindern – aber ich habe Kinder gezeugt und keine Erwachsenen. Wie sich unser Verhältnis als Erwachsene gestaltet, weiß ich ebenfalls noch nicht. Ich weiß nur, dass ich jedenfalls nicht nur traurig sein werde, wenn mein 18-jähriger Sohn in den nächsten Jahren auszieht, weil ich ihn jetzt lang genug darauf hingewiesen habe, dass er sein Zimmer aufräumen und eine Klobürste benutzen soll (und weil er sich das lange genug angehört hat).
Es wird uns beide erleichtern, wenn die Phase des dauernden Zusammenwohnens vorbei ist – zu Ende ist die Sache ja damit ohnehin nicht: Ich bin inzwischen alt genug, um nachvollziehen zu können, wie invasiv der auch nur temporäre Aufenthalt der Kinder im intimen, elterlichen Raum ist, etwa an Weihnachten. Nach der Abreise, ich weiß das genau, weil ich es als Kind immer noch tue, fehlt in der Wohnung hier ein Buch, dort ist das Geschirr nicht so eingeräumt, wie man das möchte, und die Batterien der Fernbedienung sind einfach mal kurz für ein eigenes Device ausgebaut worden (Sohn, ich weiß, dass du das getan hast!!) – kurz: Das erwachsene Kind stört insbesondere deswegen so enorm, weil es sich bei den Eltern immer noch wie ein Kind benimmt.
Wir immer älter werdenden Kinder wollen in Liebe alt werden mit den immer länger jung bleibenden Alten. Haben wir ähnliche Ansichten oder Vorlieben? Eher nicht. Sind wir uns ähnlich? Gewiss – physisch-natürlich und sozial-erlernt. Hören wir uns zu, erfahren wir etwas, lernen wir von einander? Ja. Nicht sehr oft, aber wenn, dann ist es sehr schön. Wir helfen uns, wir denken aneinander.
Aber die Kindheit, die eigentlich gemeinsame und intensive, unsere eigentliche Zeit, unser Honeymoon – sie rücken in die Ferne, je älter die Eltern werden, je mehr Lebenszeit wir gleichzeitig verbracht haben. Wir ähneln inzwischen Kriegsveteranen zum 50. Jubiläum: Wer kann die Einschläge der Kindheit noch hören, wer will die schon reichlich eingeebneten Narben immer und immer wieder betasten? Alles ist erzählt und wiedererzählt. Wir sind Wiederkäuer geworden. Und das soll bitte wie lange noch weitergehen?
Eben weil letztlich alle Beteiligten wissen, dass die Lage fatal ist, empfiehlt der kluge Jesuit im Spiegel, ein neues, ein authentisches Verhältnis aufzubauen. Aber er empfiehlt auch, falls das nicht gelingt, den radikalen Schnitt zu wagen. Als grundsätzlich „unbeschwerter“ und im Wohlstand aufgewachsener Mensch, als den wir ihn kennenlernen, sagt Michael Bordt leichthin, er verstehe manchmal Einzelne nicht, „die um jeden Preis an Beziehungen festhalten“.
Ich will mich nicht von den Eltern trennen
Ich gebe zu: Ich bin so ein Einzelner. Ich will mich immer noch nicht von meinen Eltern trennen. Es muss doch wahrhaftigere und praktikablere Lösungen geben, um die wachsende Entfremdung zu überbrücken. Vielleicht so: Kinder, lasst eure Eltern ziehen und missbraucht sie nicht als Babysitter oder stille Teilhaber eurer Baugruppe – materielles Erbe ist ohnehin asozial und nicht mehr zeitgemäß. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen werden.
Eltern, habt Mut, euch eures eigenen Erlebens zu bedienen anstatt euch an Spinnweben oder an der nächsten Generation Hosenscheißer festzuhalten. Gebt euer Geld für euch selber aus, dann habt ihr Spaß und müsst euch nie fragen, wie authentisch-liebevoll das Verhältnis zu euren Kindern tatsächlich ist. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen werden.
Und alle zusammen: Anstatt Jahrzehnte einen lauen, verkochten Erinnerungseintopf zu löffeln, müssen wir einen Weg finden, die wahren, die süßen wie die bitteren Gefühle einzufrieren und zum richtigen Zeitpunkt aus der Kühltruhe zu holen, um damit dann das letzte gemeinsame Abendmahl zu kochen. Das wird so traurig werden wie jeder Abschied für immer. Aber ich glaube, es wird allen Beteiligten so sehr viel besser schmecken. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen werden.
Eine Frage mindestens ist noch offen: nämlich die, wie wir das neue, das verlängerte, das junge und gemeinsame Alter denn nun nennen wollen. Vor gut zehn Jahren erschien ein Buch namens „Teenage – Die Erfindung der Jugend“. Der britische Autor John Savage gibt darin dem Teenager, wie wir ihn schon immer zu kennen meinen, einen Ursprung und zwar 1944 in den USA mit dem Erscheinen eines Magazins für Mädchen oder junge Frauen namens Seventeen. Der beginnende Wohlstandskapitalismus ist auf der Suche nach Kundschaft, die für schnell wechselnde Moden zu begeistern ist und findet oder erfindet das „Teenage“ als eigene Lebensphase.
Die jungen wohlhabenden Alten von heute, die nach ihrem Rentenbeginn noch 20 oder mehr gute Jahre vor sich haben und die für niemanden verantwortlich sein müssen als für sich selbst – sie ähneln frappant diesen kichernden, alle Ermahnungen mit einem lässigen „jaja, später“ in den Wind schießenden, grauenhaft nervigen und vollkommen hinreißenden: Teenagern. Und vielleicht gönnen wir uns den Spaß und nennen sie einfach mal so: Second Life Teenager oder kürzer: SLTeenager.
Von dieser Beobachtung ausgehend können wir nun die Lebensphasen des modernen Menschen neu ordnen: Auf eine lange Jugend folgt relativ abrupt um die 30 die schon sprichwörtliche Rushhour des Lebens mit Kinderkriegen und Karrierefundament. Ab 50 kommt dann die individuelle Freiheit peu à peu zurück: Die Karriere ist gemacht oder vergeigt, die Kinder sind nicht mehr pflegeintensiv, die jungen alten Eltern (SLTeenager) sind vollkommen selbständig auf Weltreise, verwirklichen sich bei sozialer Arbeit oder in ihrer Hanfplantage. Der 50-Jährige ist, von seiner Erwerbsarbeit abgesehen, überraschend frei. Und wie immer, wenn Menschen Freiheit haben, stellt sich ihnen die Frage, was sie mit dieser Freiheit eigentlich anfangen wollen. In den Kinderbüchern, die ich meiner kleinen Tochter abends vorlese, steht an dieser Stelle: Aber das ist eine andere Geschichte.
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