Elke Beitenbach im Interview: „Wir beginnen den Systemwechsel“
Berlins Sozialsenatorin will, dass Wohnungslosigkeit bis 2030 in der Stadt Geschichte ist. Dafür setzt sie auf einen Pakt mit der Stadtgesellschaft.
taz: Frau Breitenbach, Sie sind Ihr Amt mit dem großen Ziel angetreten, in Berlin die unfreiwillige Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Wie läufts?
Elke Breitenbach: Wir haben in den letzten fünf Jahren die Grundlagen für einen Systemwechsel gelegt, sodass sich die Wohnungslosenhilfe endlich an die Menschen anpasst, und nicht mehr die Menschen an die Wohnungslosenhilfe. In der Pandemie haben wir 24/7-Unterkünfte eingeführt, womit wir das Leben von obdachlosen Menschen auf der Straße gerettet und gebessert haben. Wir haben mit dem Prinzip „Housing First“ experimentiert, also dem Ansatz, obdachlosen Menschen erst einmal eine Wohnung bereitzustellen. Schließlich haben wir die gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung eingeführt. Ich weiß, ein sperriges Wort, aber es ist zentral wichtig, da wir nun Qualitätsstandards anlegen können, die es derzeit einfach nicht gibt.
Sie sagen, dass es einen „Pakt mit der Stadtgesellschaft“ braucht, um die Wohnungslosigkeit zu überwinden. Was meinen Sie damit?
Wir haben diesen Pakt bereits vor drei Jahren auf unserer ersten Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe beschlossen. Dort wurden alle Menschen eingeladen, die selbst betroffen sind oder sich mit diesem Thema befassen, zum Beispiel die sozialen Träger, aber auch Ordnungsämter oder Polizei. Alle haben gesagt: Wir möchten gemeinsam eine Lösung finden. Heute interessiert dieses Thema viele Berliner:innen, weil sie solidarisch sind.
Solidarität alleine wird nicht reichen.
Ich möchte, dass die Gesellschaft sagt: Wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass die Wohnungslosigkeit in dieser Stadt bis 2030 beendet ist. Dafür brauchen wir vor allem eins: Wohnungen.
Was ist Ihr Plan?
Ich kann Ihnen das vorrechnen: Wir wissen, dass in dieser Stadt um die 50.000 wohnungslose Menschen in Unterkünften untergebracht sind. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften haben etwa 320.000 Wohnungen. Die Fluktuation beträgt etwa fünf Prozent, das sind also etwa 16.000 Wohnungen. Davon möchte ich 10 Prozent für obdachlose Menschen haben, das sind also 1.600 Wohnungen pro Jahr. Hinzu kommen etwa 30.000 neu gebaute landeseigene Wohnungen, auch davon sollen 10 Prozent an obdachlose Menschen vermietet werden. Das sind nochmal etwa 3.000 Wohnungen. Mit dieser Quote hätten wir zusammengerechnet etwa 4.600 Wohnungen zur Verfügung! Und dann gibt es noch die Berlinovo. Zu deren Bestand gehören auch etwa 6.600 Mikro-Appartements, davon gehen schon jetzt etwa 200 Wohnungen an soziale Träger, bleiben also 6.400. Auch diese Wohnungen sollen obdachlose Menschen bekommen. Auf einen Schlag würden also 11.000 Wohnungen zur Verfügung stehen.
Elke Breitenbach,
geboren 1961, ist Erzieherin, Politologin, Ex-Gewerkschaftssekretärin und seit 2016 linke Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales.
Wird das reichen?
Wichtig ist, dass es eine verbindliche Regelung dafür gibt, dass die städtischen Wohnungsbaugesellschaften Wohnraum zur Verfügung stellen. Das muss die Stadtgesellschaft auch richtig finden, denn man muss nicht glauben, dass es Applaus dafür gibt, beim Zustand des derzeitigen Wohnungsmarkts eine derartige Quote festzulegen. Es gibt ja sehr viele Menschen, die eine bezahlbare Wohnung suchen. Die könnten sagen: Ich gehe arbeiten, um mir meine Miete leisten zu können, aber die Wohnungslosen bekommen eine solche gestellt? Diese Auseinandersetzung müssen wir führen.
Auch für das „Housing First“ werden Sie Wohnungen brauchen.
Ja, genau dafür müssen die eben genannten Wohnungen zur Verfügung stehen. Und wir brauchen außerdem ein Landesprogramm, in dem wir die jetzigen ASOG-Notunterkünfte zu Wohnungen um- und neue Gemeinschaftsunterkünfte mit Wohnungsstrukturen neu aufbauen können. So werden wir verbindlich und sukzessive den nötigen Wohnraum schaffen.Natürlich wäre es besonders gut, wenn die EU ein solches Programm auflegen würde im Rahmen ihres Zieles, Wohnungslosigkeit abzubauen. Wir sparen dabei auch Geld, weil die Unterbringung in Wohnungen viel günstiger ist, als die Unterbringung in Unterkünften.
Wie meinen Sie das?
Beispielsweise hatte ich vor kurzem den Fall einer alleinerziehenden Mutter mit 3 Kindern. Die waren am Stadtrand in einer elenden Unterkunft untergebracht, der Bezirk hat dafür über 2.000 Euro gezahlt. Für dieses Geld findet man auch eine Wohnung in Berlin.
Irre.
Ja, das müssen wir ändern. Die staatliche Unterbringung darf nicht teuer sein als die Miete selbst, und falls sie es doch ist, müssen die Menschen in ihrer Wohnung bleiben dürfen. Insgesamt bezahlen wir 300 Millionen Euro jährlich allein für Notunterkünfte. Da sind die Kältehilfe und die Beratungsstellen noch gar nicht mit drin. Mit öffentlichen Geldern wirtschaftlich umgehen bedeutet für mich deshalb: Housing First und Wohnungen für Wohnungslose.
Das wären zentrale Vorhaben für die nächsten 5 Jahre?
Das sind einige zentrale Vorhaben. Mindestens genauso zentral ist die Frage, wie wir verhindern, dass immer mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können.
Sie sprechen von Zwangsräumungen.
Genau. Jede Zwangsräumung ist eine zu viel. Aber unsere Pläne, bestimmte Gruppen von Zwangsräumungen auszuschließen – etwa Menschen, die auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sind oder Familien mit Kindern – sind nicht umsetzbar. Das muss man auf Bundesebene regeln. Was wir auf Landesebene brauchen, sind Möglichkeiten und Strukturen, frühzeitig auf die Menschen zuzugehen. Wenn ich als Bezirk weiß, dort sind Menschen, die haben ein Problem, macht es einen Unterschied, ob ich nur einen Brief schreibe oder ein Team schicken kann, das versucht, die Menschen vor Ort zu erreichen. In vielen Fällen öffnen Menschen in solchen Situationen ja ihre Briefkästen gar nicht mehr.
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