Eine Kurzgeschichte von Katrin Seddig: Hochzeit im Schnee
Die Braut ist schwanger, deswegen hat sie geheiratet. Doch am Hochzeitstag stirbt ihr Vater. Und sie begegnet ihrer Liebe.
E in altes Bild: Die Hochzeitsgesellschaft strömt aus der Kirche hinaus in eisiges, funkelndes Licht, in die kalte Schönheit des Winters. Die Braut schließt geblendet die Augen, in der rechten Hand hält sie einen Strauß weißer Federchrysanthemen. Der Bräutigam, hinter ihr, bückt sich nach dem Saum ihres kugelförmig aufgeplusterten Schneeballkleides, er selbst trägt eine weiße Nelke am Aufschlag seines weißen Jacketts. Er ist ein schöner Mann, die Braut ist es nicht, nach allgemeiner Einschätzung, sie hat markante Eckzähne, lang und spitz. Aber jetzt strahlt sie, die Augen zusammengekniffen, und er bückt sich, um den Saum ihres Kleides anzuheben. Hinterher kommen die Brautjungfern, in aquamarinfarbenen Kleidern und Teddypelzjäckchen, ihre Schatten huschen violett über den Schnee am steinernen Fuß der Kirche.
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Das ist der Anfang, die Hochzeit im Schnee, unter strahlender Sonne, die Luft schmeckt klar und die Klänge sind gläsern, die Bäume strecken ihre nackten Äste steif in den eisblauen Himmel, der über den Dächern der Häuser sich blass rosa färbt. Der Morgen geht schon in den Nachmittag über, die Tage sind kurz. Wir haben Ende der Sechziger oder Anfang der Siebziger, nur einen Tag vor Weihnachten, in einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands. Sie konnten mit dem Heiraten nicht mehr warten, denn die Braut, Margot Trebczyk, seit kurzem Geffken, sechsundzwanzig Jahre alt, ist hochschwanger, unter ihrem Schneeballkleid.
Sie feiern in einer Halle der Feuerwehr. Es ist eine große Völlerei, die Leute schlagen sich die Bäuche voll, Kartoffeln und Grünkohl, Kasslerbraten und Frikadellen, Schnitzel und Würste, Rotkohl und Rosenkohl, zum Nachtisch Zitronenspeise und Rote Grütze mit Schlagsahne und Vanillesauce, dazu Schnaps und Sekt und Bier und jede Menge Kuchen und Torten. Was alle wissen, und die meisten können das verstehen: Die Bräutigam-Eltern sind unzufrieden. Die Braut ist nicht schön, mit ihrem Vampirgesicht, außerdem zwei Jahre älter. Jürgen, der Junge, hätte was Besseres haben können. Fast jede hätte Jürgen haben können, so, wie er aussieht und alles. Wenn er Margot nur nicht geschwängert hätte, das hat sie geschickt angestellt! So reden die Leute, so redet die Schwiegermutter. Der Schwiegervater sagt nichts. Ihm ist egal, wie die Schwiegertochter aussieht, taugen muss sie was, anpacken muss sie können. Das wird sich erst rausstellen.
Die Mutter der Braut, Käthe Trebczyk, ist seit drei Jahren tot und der Vater der Braut, Walter Trebczyk, ist nicht zur Hochzeit erschienen. Am Vortag schon hat er sich betrunken, und kann von Glück reden, dass ihn einer im Schnee gefunden hat. So groß ist das Glück aber auch nicht gewesen, es sieht nicht gut aus, mit ihm.
Die Braut stammt aus einer Familie, die nicht so ist wie die der Geffkens, die was darstellen, die auch ein bisschen was haben, im Gegensatz zu den Trebczyks, die nichts darstellen, jedenfalls nichts Gutes, und schon gar nichts haben – und wenn die Braut sehr gut oder wenigstens gut ausgesehen hätte, dann hätte man den Jungen vielleicht verstehen können, aber so? – das ist wirklich sehr ärgerlich, für die Geffkens, manche der Gäste sind ein bisschen schadenfroh. Margot muss Jürgen wohl gezwungen haben, sie schwanger zu machen, ihn ausgetrickst haben. Auf eine Art muss sie auf ihn eingewirkt haben, von der man sich einfach keine Vorstellung machen kann, denn Jürgen Geffken ist so ein schöner und stattlicher, junger Mann! Mutter Geffken ärgert es nicht nur, insgeheim macht es sie richtig rasend. Ins Gesicht schlagen könnte sie diesem Weib, mit seinen Blutsaugerzähnen.
Und dann ist auch schon Weihnachten, einen Tag später ja schon, und sie sitzen im Haus der Geffkens, in ihrem Wohnzimmer, wo alles Holztäfelung und Teppich ist, Schwitzen und Essen, der Ofen bollert, gerade heben sie die geschliffenen Gläser, Margot auf dem Sessel, schwerfällig, müde, in einem hellblauen Rollkragenpullover, das Gesicht gerötet, die Haare schon strähnig, noch hässlicher als gestern sieht sie aus. Da ist sie wenigstens zurechtgemacht gewesen, nicht hingucken möchte man jetzt. Der Bräutigam dagegen, im weißen Hemd, schlank und groß, dunkles, gewelltes Haar, Mutter Geffken möchte ihn am liebsten von der wegzerren, ihn an ihren Busen drücken, ihren Jungen.
Der Vater der Braut, Walter Trebczyk, liegt derweil im Krankenhaus, auf einem weißen Laken, unter einer steifen, weißen Decke, aber er weiß es nicht, gar nichts weiß er mehr und das wird sich womöglich auch nicht mehr ändern. Das Letzte, das er gewusst hat, als er noch etwas wissen konnte, wird das gewesen sein, was er gedacht hat, als er sich im Schnee zum Schlafen gelegt hat. Müde!, wird er wohl gedacht haben, er war ja so müde. Mehr nicht. Hätte er mehr denken können, hätte er sich nicht im Schnee zum Schlafen niedergelegt. Nicht der schlechteste Tod, sagen einige, nicht die schlechtesten Gedanken, ist müde und schläft ein, sanft und ruhig. Schade nur, dass er die Hochzeit nicht miterlebt hat. Selber schuld, sagen andere, wenn man nicht abwarten kann, vorher schon mit dem Saufen anfängt.
Diese Geschichte geht so: Walter Trebczyk, sechzig Jahre alt, Witwer, probiert einen Tag vor der Hochzeit seiner Tochter seinen neuen Anzug an, er ist so angetan von seinem Spiegelbild, dass ihn die Lust ankommt, einmal kurz im Krug vorbeizuschauen. Er hat fest vor, nur ein Glas, höchstens zwei oder allerhöchstens drei, aber nicht mehr, zu trinken und ordentlich anzugeben. Er hat sonst nichts zum Angeben.
Seine Frau Käthe ist vor drei Jahren gestorben, still und grau in ihrem gemeinsamen Bett. Erst am Morgen merkte er, dass sie nicht mehr war. Lange schon war sie so still und so grau gewesen, jetzt war sie tot, und er wusste nicht, wie er damit umgehen, wie er das Unglück nun richtig empfinden sollte. Immer war sie da gewesen, jetzt war sie nicht mehr da, und daran konnte er sich nur schlecht gewöhnen.
Drei Jahre später sagte Heinz Frederking im Krug zu ihm, „Deine Tochter kriegt wohl was Kleines, oder wie sieht das aus?“
Da schämte Walther Trebczyk sich, weil er es noch nicht wusste, obwohl Heinz Frederking es schon wusste und alle anderen sicher auch. Sie wussten es und er wusste es nicht, obwohl doch Margot wieder bei ihm wohnte, mit ihm zusammen in einer Wohnung, und ihm den Haushalt führte, seit die Mutter tot war. Täglich war sie ein bisschen dicker geworden, und noch ein bisschen, und noch ein bisschen, und auf diese langsame Art war es ihm einfach nicht aufgefallen. Er sah sie eigentlich nicht richtig an. Auch seine Frau hatte er nicht richtig angesehen. Er sah sich auch den Tisch, an dem er aß, nicht richtig an, oder die Uhr, die an der Wand hing, nicht Heinz Frederking oder sonst jemanden, nicht die Bäume und nicht den Himmel, nichts sah er mehr richtig an, seit er vor Zeiten, die ihm alle gleich schienen, aus dem Krieg gekommen war, er machte die Augen einfach nicht mehr richtig auf.
„Kriegst du was Kleines?“, fragte er Margot, als sie zusammen beim Abendbrot saßen. Es gab Brot und Butter und Wurst und ein paar Radieschen, dazu eine warme Bockwurst.
Sie kniff die Augen zusammen und sagte schließlich: „Merkst du’s auch?“
„Was soll das heißen?“, sagte er und biss in die Bockwurst, er konnte nicht warten, er musste immer schlingen, auch die Gier kam vom Krieg und war nicht wieder weggegangen.
„Nichts“, sagte sie, und das war das Ende der Unterhaltung, denn dann stand sie auf und verließ den Tisch. Er ging nicht hinterher, er ging nie hinter ihr her oder fragte sie etwas. Es war nicht seine Art, seine Tochter oder seine Frau etwas zu fragen. Es interessierte ihn auch nicht. Kaum. Aber das lag nicht an ihnen, es interessierte ihn auch sonst kaum etwas. Sein Leben brannte auf einer niedrigen Flamme.
Aber später lag er im Bett und konnte nicht schlafen. Das war nicht neu. Die Bomben schlugen ein und die Toten marschierten um ihn herum, er wollte an etwas anderes denken und dachte an das Kleine im Bauch seiner Tochter. Er stand auf, zog sich seine Hose an und klopfte an ihrer Tür, was er sonst niemals tat.
„Ja“, sagte sie in ihrem Bett und durch die geschlossene Tür. Es war eine kleine, an der Seite abgeschrägte Tür, denn es war eine Tür unter einer Treppe, eine Kammer eigentlich nur, in der ihr Bett stand und in dem sie schlief.
„Von wem isses?“
Margot schwieg in ihrer Kammer.
Eine Weile stand er da vor ihrer Tür, in seinen grauen Hosen, im Unterhemd, und die Füße nackt. Er horchte auf die Antwort, er wartete, er wartete eine Weile, aber dann schwieg Margot immer noch, und er ging zurück in sein Bett, zu den Bomben und den ganzen Toten. Er sah neben sich, auf die Seite, auf der sonst seine Frau gelegen hatte, vor drei Jahren, als sie noch am Leben war. Und er dachte zurück an die Zeit, in der sie noch nicht so grau gewesen war und schwanger mit ihrem Kind, mit Margot. Nie hatte er daran gedacht, bis jetzt. Es war besser, als an die Toten und die Bomben zu denken.
Am Morgen beim Frühstück sagte Margot, „Georg Geffken“.
„Georg Geffken? Das hätte ich nich gedacht.“
„Warum nicht?“
Und nun liegt Walter Trebczyk im Krankenhausbett und stirbt. Draußen liegt immer noch Schnee, alles sieht sehr schön aus, wunderschön, wenn man ein Auge dafür hat, Interesse und freie Kapazitäten, einen wunderschönen Schnee zu würdigen. Am Nachmittag scheint die Sonne durch Walter Trebczyks Fenster auf seine Decke, aber nicht auf sein Gesicht, auf der Station singen sie Weihnachtslieder für die Kranken und schmücken den Flur mit Lametta.
„Wie geht es Ihnen heute?“, sagt die Schwester an seinem Bett.
„Gut. Wirklich gut“, sagt Walter Trebczyk. Er sagt es ganz leise. Man kann es eigentlich gar nicht hören. Vielleicht sagt er es auch nicht. Seine Augen sind geschlossen, er atmet schwer, er hat hohes Fieber. Er ist voller Kabel und all dem Zeug.
Die Schwester heißt Schwester Inge. Sie ist groß und stark und nicht besonders freundlich.
„Kommt denn Ihre Tochter nicht?“, fragt Schwester Inge.
„Sie ist jetzt verheiratet“, sagt Walther Trebczyk. „Sie heißt jetzt Geffken.“ Aber auch das sagt er nicht. Das hätte er gesagt, wenn er könnte. Wenn er noch hören oder etwas sagen könnte.
„Sie sollte aber kommen“, sagt Schwester Inge, denn sie versteht Walther Trebczyk auch so. Sie versteht sehr viel und mehr als andere Menschen.
Nach Schichtende fährt Schwester Inge mit ihrem Auto zu den Geffkens. Da steht sie am Heiligen Abend vor der Tür, so groß und stark und mit einem großen, rotbackigen Gesicht, dicke Augenbrauen wie ein Bär, ein wollenes Kopftuch umgebunden, auf dem einzelne Schneeflocken liegen.
Drinnen brennen schon die Kerzen am Weihnachtsbaum, es riecht nach Würstchen im Kessel und eine Schallplatte dreht sich ein bisschen eierig: „Leieise rieieselt der Schschnee“. Der Tannenbaum ist kurz und breit und es hängt viel dran, alles, was die Geffkens an Weihnachtsschmuck haben. Margot sitzt im Sessel wie ein dickes, rundes Fass und denkt an ihren Vater im Krankenhaus und ihr Baby in ihrem Bauch, das herumwühlt, das als eine kleine Beule über ihren strammen Rock wandert, vielleicht ein Arm, vielleicht ein Bein.
Als es klingelt, stemmt sie sich hoch und geht an die Tür.
„Dein Vater liegt im Sterben“, sagt Schwester Inge und geht zurück zu ihrem Auto.
„Warte“, sagt Margot und läuft ihr nach.
Als Schwester Inge gerade in ihr kleines Auto steigen will, hält Margot sie an der Schulter fest.
„Kannst du mich fahren?“
„Ich hab jetzt Feierabend“, Schwester Inge schüttelt sie ab.
„Ich bitte dich“, sagt Margot.
Ohne Jacke und ohne sich zu verabschieden fährt sie mit Schwester Inge zurück ins Krankenhaus. Im Auto verliebt sie sich. Schwester Inge und Margot Geffken steigen gemeinsam die Treppe hoch, gehen den Gang entlang, in dem knisternd das Lametta flattert, und stoßen die Tür auf, zu dem Zimmer, in dem Walter Trebczyk stirbt.
Aber er ist noch nicht gestorben. Er atmet noch und dann atmet er nicht mehr und dann ist er tot.
Schwester Inge fährt mit Margot zurück und unterwegs verliebt sich Margot noch einmal in Schwester Inge und umgekehrt verliebt sich Schwester Inge in Margot. Vielleicht haben sie sich auch zwischendurch verliebt, als sie am Bett von Vater Trebczyk saßen, dicht nebeneinander, sehr dicht, es war vielleicht alles nicht passend, der Zeitpunkt, die Umstände, es passte gar nicht gut.
Vielleicht verliebten sie sich schon vorher, als sie sich ein, zwei Mal begegnet waren. Schwester Inge ist eine Persönlichkeit, in die es sich zu verlieben lohnt. Wie ein Magnet ist sie, ein riesengroßer, rotgesichtiger, charakterstarker Magnet. Vielleicht sprachen sie miteinander, im zurückliegenden Sommer, als sie im Fluss baden gingen. Eine zog sich aus und legte ihre Sachen über einen Strauch, die andere zog sich auch aus, aber sie wusste nicht, dass die eine da war und plötzlich sahen sie sich, ihre nackten Körper in der Dämmerung zwischen den Bäumen an einem späten Abend Anfang Juli. Und verschämt guckten sie weg, aber sie hatten sich schon gesehen, und darum guckten sie noch einmal hin, ein bisschen länger. Und dann hatten sie vielleicht nachts in ihrem Bett daran gedacht und dann vielleicht noch einmal, und vielleicht hatten sie sich was ausgemalt, vielleicht voneinander geträumt. Wilde Träume, die am Morgen verblassen.
Margot war da schon schwanger von Jürgen, einem der schönsten Männer im Ort, von dem wirklich niemand geglaubt hätte, dass er sich ausgerechnet für Margot interessieren könnte. Aber er wollte Margot, die gar nicht besonders interessiert an ihm war, komischerweise. Sie wusste, dass sie nicht hübsch war, und dachte, sie würde allein bleiben, bis Jürgen Geffken sie schwängerte. Sie dachte, nun gut, was Besseres kriegt sie nicht. Und dann wollte er sie heiraten. Er hatte immer das Gefühl, dass er Margot nicht richtig kriegen konnte, dass sie ihn nicht richtig wollte. Mutwillig, absichtlich, hatte er sie geschwängert, und sie ließ es einfach geschehen, weil sie keine Ahnung davon hatte, dass sie es eigentlich nicht wollte, sondern etwas Anderes. Sie dachte, sie sollte froh sein, über all das, über Jürgen. Und so wurde sie schwanger und so heiratete sie einen Tag vor Weihnachten und so betrank sich ihr Vater, aus lauter Stolz, und so unterkühlte er sich und so starb er nun, direkt am Heiligen Abend. Schwester Inge fuhr Margot nach Hause, Margot sitzt nun wieder in ihrem Sessel, das Kind boxt von innen.
Irgendwann bekommen Margot und Jürgen ein zweites Kind, irgendwann ziehen sie um, in eine Stadt, wo Jürgen eine gute Arbeit findet. Irgendwann sind die Kinder erwachsen, ist Margot zweiundsiebzig Jahre alt, ist wieder Weihnachten. Sie sitzen zu acht, Kinder und Enkel, in ihrer eigenen Wohnung vor ihrem eigenen Weihnachtsbaum, ganz ohne Lametta, und Jürgen sagt zu Margot: „Weißt du, wen ich gestern gesehen habe?“
Margot schüttelt den Kopf. Woher soll sie das denn wissen? Margot ist ein bisschen dünn geworden, ihre Eckzähne hat sie verloren, sie trägt eine grüne Strickjacke mit goldenen Knöpfen, sie ist eine attraktive Zweiundsiebzigjährige. Jürgen sieht sie gerne an, ihr rosiges Gesicht, ihre feine, goldene Brille, ihm hat sie ja immer gefallen.
„Schwester Inge. Immer noch so ein Kaliber.“
„Was meinst du damit?“
„Auf ihre Art ist sie natürlich auch sympathisch.“
„Was soll das heißen, auf ihre Art?“
„Sie ist doch irgendwie schon komisch, findest du nicht?“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Margot erinnert sich. An den Abend, als Schwester Inge sie mitgenommen hatte, zu ihrem Vater, der starb, weil er so stolz auf sie gewesen war, dass er es nicht abwarten konnte, anzugeben. Der Stolz hatte ihn getötet, aber der Stolz war auch die ganze Zeit in Margot gewesen, war immer noch in ihr, ihr ganzes Leben lang, bis heute. Denn damals, als sie sechsundzwanzig gewesen war, hatte sie wirklich geglaubt, nicht hübsch genug, nicht gut genug zu sein. Margot erinnert sich daran, wie sie aus der Kirche gekommen war, Sonne und Schnee, wie sie vor ihrem Glück die Augen hatte schließen müssen. Es war ein zu großes, unbarmherziges Glück gewesen, es hatte sie fast zerrissen.
Margot sagt: „Sie ist nicht komisch.“
Sie erinnert sich daran, wie sie mit Schwester Inge am Bett ihres Vaters gesessen hatte, als der schon tot war, aber sie konnten sich nicht von ihm oder von seinem Bett oder voneinander lösen. Schwester Inge hatte ihre Hand gehalten, und was Margot dabei gefühlt hatte, war schöner und wilder als alles gewesen, was Margot jemals gefühlt hatte, wenn sie mit Jürgen zusammen gewesen war. Aber da lag ihr Vater und war tot, weil er so stolz auf sie gewesen war, auf ihre Hochzeit und das Kind, das sie bekam, und da musste sie eben Jürgen lieben und nicht Schwester Inge, in die sie sich zufällig verliebt hatte, mit einer Klarheit, die sie fast verleitet hätte, ihr ganzes Glück wegzuwerfen.
„Sie ist nicht komisch“, wiederholt sie.
„Na, du hättest sie mal sehen müssen“, sagt Jürgen.
„Sie ist nicht komisch“, sagt sie darum zum dritten Mal, und mit einer Heftigkeit, die sie selbst verwundert.
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