Eindrücke aus Kiew nach Putins Rede: Die Stimmung trügt
In den Straßen der ukrainischen Hauptstadt ist von einem Krieg nichts zu spüren. Dennoch fürchten sich die Menschen vor dem, was kommt.
Nur vor der russischen Botschaft auf dem Powitroflotskij-Prospekt Nummer 27 stehen zwei Wagen der Nationalgarde und ein gutes Dutzend Polizisten und Nationalgardisten. An anderen Tagen stehen hier nur zwei Polizisten vor der fast immer geschlossenen Botschaft. Gut möglich, dass in nicht allzu ferner Zukunft überhaupt niemand mehr vor der russischen Botschaft in Kiew stehen wird.
Nach der gestrigen Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk durch Russland denkt Präsident Wolodimir Selenski über einen völligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Russland nach. Dies würde die Schließung von zwei Vertretungen Russlands in Kiew, der Botschaft und des Konsulats bedeuten.
Der Eindruck von „Business as usual“, wie es auf den ersten Blick scheint, trügt. Alik kommt aus Aserbaidschan, er ist froh, dass er dem Karabach-Krieg entgehen konnte. Er hat mittlerweile die ukrainische Staatsbürgerschaft und sich ein kleines Unternehmen aufgebaut. Er bietet Lieferdienste und Taxifahrten an. Fast jeden Morgen joggt der 54-Jährige seine 30 Runden auf einem kleinen Sportplatz am Stadtrand von Kiew.
Julia, Sales Managerin in Kiew
Und an diesem Morgen träumt er vor sich hin: „Ich würde gerne ein Café aufmachen, irgendwo in einem Kiewer Vorort. Da wäre es sehr gemütlich, das Geschirr wäre immer sauber und die Gäste wären immer zufrieden. Das ist mein Traum“, sagt er, etwas außer Atem vom Laufen. „Aber jetzt, wo wohl bald Krieg kommt, wird da wohl nichts draus. Das Erste, was beim Krieg nicht funktioniert, ist die Wasserversorgung. Und ich brauche doch gutes Wasser für mein Geschirr“, sagt der Kleinunternehmer. Dass es zum Krieg kommen wird, ist für ihn inzwischen ziemlich sicher. „Ich habe ein paar sehr reiche Geschäftsfreunde“, so Alik, „und die sind alle schon im Ausland – ihr Geld haben sie natürlich mitgenommen.“
Alena, die von Maniküre und Pediküre lebt, ist glücklich. Endlich hat ihr ihre russische Freundin, mit der sie vor einigen Jahren gemeinsam in einer deutschen Klinik war, in der ihre Kinder behandelt worden sind, nach Jahren wieder geschrieben. „Weißt du“, so soll ihre Freundin aus der sibirischen Stadt Nowosibirsk ihr geschrieben haben, „ich will keinen Krieg gegen euch, auch meine Familie will keinen Krieg und meine Freunde wollen auch keinen Krieg gegen euch. Aber Putin will ihn. Wir sind wütend auf ihn, und wir haben Angst vor ihm. Wenn du deinen Mund aufmachst, musst du damit rechnen, dass dessen Leute dich zu Hause aufsuchen.“
Große Sorgen um ihre in Donezk lebende Mutter macht sich Julia Bloschenko, Sales Managerin der ukrainischen Vertretung der deutschen Kosmetikfirma Baehr, die selbst aus Donezk geflohen ist und jetzt in Kiew lebt. „Schon den ganzen Tag heute, so berichtete mir meine Mutter, fuhr Militärtechnik durch unsere Straße in Donezk.“ Am Montag habe ein Kunde im Geschäft ihrer Mutter plötzlich ganz erschreckt auf sein Telefon gesehen. Er hatte ein SMS erhalten, dass er sofort zum Militär müsse. Er wolle nicht, habe er ihrer Mutter gesagt. Aber es gebe Gerüchte, dass Männer, die sich weigern, sich einberufen zu lassen, gefoltert würden. Besonders schlimm sei das mit den Zwangsrekrutierungen in Luhansk, so Bloschenko.
Mittlerweile seien die Evakuierungen nach Russland eingestellt worden. Glücklicherweise sei niemand von ihrer Familie evakuiert worden, so Julia. Ihr seien einige Familien bekannt, deren Wohnung kurz nach ihrer Evakuierung ausgeraubt worden seien. Auch Julia fürchtet sich vor den Ansprüchen der Separatisten. „Ich glaube, die Separatisten meinen es ernst mit ihren Ansprüchen auf den gesamten Donbass. Ich hoffe aber auch, dass sie ihr gesunder Menschenverstand von einem Eroberungsversuch des gesamten Donbass abhalten wird.“ Denn nun sei die ukrainische Armee besser aufgestellt als 2014 und nun werde die ukrainische Armee sämtlichen Eroberungsversuchen Widerstand entgegensetzen. „Und das gibt dann einen großen Krieg“, so die aus Donezk stammende Julia Bloschenko.
Ihre Furcht ist berechtigt. Gegenüber dem russischen Fernsehen hatte der Chef der „Volksrepublik“ Donezk, Denis Puschilin, erklärt, dass die Grenzen der „Volksrepublik“ Donezk mit den administrativen Grenzen des Gebietes Donezk identisch seien. Und das bedeutet, dass Puschilin auch Ansprüche auf Städte wie Mariupol, Slawjansk und Kramatorsk stellt, die von Kiew kontrolliert werden. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski rechnet trotzdem nicht mit Krieg in seinem Land: „Wir glauben nicht, dass es einen Krieg gegen die Ukraine und eine weitreichende Eskalation geben wird“, sagte er am Dienstag in Kiew.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher