Einblicke in die Craft-Chocolate-Szene: Es muss nicht zart schmelzend sein
Vor zwanzig Jahren wurde die Schokolade neu erfunden. Unser Autor ist ein Teil der Bewegung, die die Kakaobohne aus den Fabriken befreite.
Haben Sie schon mal bemerkenswert gute Schokolade genossen? Eine, bei der Sie dachten: „Oha, so kann das also auch schmecken?“ Mir ging es oft so.
Dabei gab es drei einschneidende Erlebnisse. Zuerst die Erfahrung, dass Milch kein notwendiger Bestandteil von erfreulicher Schokolade ist. Kann man theoretisch verstehen, ist aber erst mit wirklich guter „dunkler“ Schokolade umzusetzen und hat viel mit der Erwachsenwerdung von Geschmack zu tun (Bitterstoffe und Co!).
Auch die beiden nächsten Schritte waren grundsätzlicher Natur – weg von Supermarkt-Premium zu echten Qualitätsmarken und schließlich hin zum Rohstoff und zum Selbstmachen. Vergleichbar der Strecke von Tiefkühlpizza hin zu zutatenbewusstem Kochen. Oder eben von „belgischer“ Milchschokolade zu frisch gerösteten Lieblingsbohnensorten aus Honduras, Costa Rica oder Peru.
Vor 20 Jahren, noch bevor mein Leben als selbstständiger Schokoladenhändler begann, war die sichtbare Schokoladenwelt so überschaubar wie das TV-Programm in den 80er-Jahren: drei Farben, eine Handvoll Hersteller, und der vermeintlich beste Stoff kam aus der Schweiz, Frankreich oder Belgien. Und alles war süß, süßer, am süßesten.
Eine dunkle Welt ohne Kühe und Kinder
Doch dann tauchten in den ersten Feinschmeckerboutiquen neue kleine Hersteller auf und manchmal sogar Kakaofrüchte. Die Hollywoodschmonzette „Chocolat“ gab endgültig den Startschuss für die Rückbesinnung auf eine dunkle Welt ohne Kühe und Kinder, die stattdessen mysteriös, sinnlich und berauschend war. Auf der ganzen Welt entstanden kleine Handwerksbetriebe. Vor allem im ehemaligen Schokoladen-Entwicklungsland USA explodierte eine Craftszene, die bean to bar, also von der Bohne bis zur Schokotafel arbeitet.
Philipp Kauffmann, Chocolatier
In Deutschland dauerte es noch weitere zehn Jahre, bis sich die ersten Wagemutigen aufmachten, den bislang nicht existenten Craft-Chocolate-Markt aufzubauen. Einer davon war ich. Nachdem ich ausreichend Erfahrung in Veredlung und Verkauf gesammelt hatte, wollte ich 2010 unbedingt direkt an die Bohne.
Ein anderer quereinsteigender Pionier ist Patrick Walter aus Burgstädt in Sachsen. „Die industriellen Marken beherrschten damals die gesamte öffentliche Wahrnehmung“, bestätigt er. „Da es zu diesen Firmen in den letzten gefühlt hundert Jahren keine Konkurrenz gab, war es für Lindt und Co leicht, ihre Schokolade als Qualitätsprodukt zu etablieren.“
hat vor 20 Jahren ein Fachgeschäft für Schokolade eröffnet. Aktuell plant er einen Neustart.
Eine David-und-Goliath-Aufgabe
Walters Familienbetrieb Choco Del Sol ist bis heute eine der wenigen deutschen Manufakturen, die ihre Produkte komplett von der Bohne an herstellen. Neben der David-und-Goliath-Aufgabe, die Definition von Qualität gegen die geölte und verzuckerte Marketingmaschine der Großhersteller durchzusetzen, sind es seiner Meinung nach vor allem behördliche Hemmnisse, die die hiesige Szene klein halten.
Ein Umstand, der auch Arne Homburg ärgert, ebenfalls ein Urgestein der deutschen Szene. Seit 1999 betreibt er mit theobroma-cacao.de eine Art deutsches Schoko-Wikipedia und ist auch als Hersteller und Händler aktiv. „Unternehmensgründungen sind in Deutschland bei Weitem nicht so angesagt wie in den USA“, sagt er, „speziell im Lebensmittelbereich erschlägt es einen mit im internationalen Vergleich hohen Anforderungen.“
Inzwischen beschränkt sich die Mehrheit auf Marketing und Vertrieb – und lagert die Produktion aus. So auch Philipp Kauffmann. Seine 2008 gegründete Firma Original Beans stellt ihre Schokolade nicht selbst her und ist trotzdem wichtiger Bestandteil der neuen Szene. Denn wie der Firmenname sagt, geht es hier nur um den Rohstoff. Kauffmann ist Purist. „Die Geschmackswelt von Kakao ist vierdimensional, im Gegensatz zur Flachheit von Konfekt“, postuliert er.
Keine Nüsse, keine Füllungen, kein Schnickschnack
Seine in der Schweiz produzierten Tafeln kommunizieren Anbaugebiet und Kakaogehalt in Prozent – und verzichten auf Nüsse, Füllungen, Gewürze und anderen Schnickschnack. Mit vollkompostierbarer Verpackung, dem Versprechen, für jede Tafel einen Baum zu pflanzen, und Hilfsprojekten in den Anbaugebieten erscheint Original Beans als Blaupause in Sachen Transparenz, Nachhaltigkeit und zeitgemäßer Genusskultur.
Apropos Verantwortung: Das größte Ärgernis der Qualitätskämpfer sind die Zertifizierungsversprechen der Industrie. Homburg betrachtet alle Nachhaltigkeitslabel als „reines Greenwashing“. Philipp Kauffmann verweist auf das „Kakao-Barometer“ des Südwind-Instituts: „Die Zertifizierungsansätze haben bislang nicht signifikant dazu beitragen können, dass Bäuerinnen und Bauern existenzsichernde Einkommen erzielen oder die FarmerInnen aus der strukturellen Armut zu holen“, heißt es dort. „Fairtrade ist wie Eier auf Tierwohlstufe 2“, ergänzt Kauffmann.
Tatsächlich wirtschaftet die Craft-Chocolate-Szene weitgehend abgekoppelt vom Weltmarkt. Auf der Jagd nach den besten Bohnen zahlen Hersteller das Doppelte und Dreifache dessen, was das Fair-Trade-Label garantiert. Die Erzeugung perfekter Kakaobohnen ist eine Arbeit, die dem Weinbau in nichts nachsteht, jede Kleinigkeit kann große Unterschiede im Geschmack machen. Eine Arbeit, die korrekt bezahlt werden muss und zu einem deutlich anderen Endpreis führt.
Ein kleines Gerät brachte die Wende
Sind die Bohnen das Rohmaterial dieser dunklen Gegenbewegung, ist ihr Werkzeug eine kleine Maschine. Der Melangeur oder Wet Grinder – eine deutsche Bezeichnung gibt es nicht – ist ein rotierender Topf mit Steinboden, in dem zwei rollende Mühlsteine alles, was Wasser oder Fett enthält, zu einer Masse verbreit. Ein simples Prinzip, das zu Beginn der industriellen Schokoladenproduktion eingesetzt, im Zuge der Produktionssteigerung aber vergessen wurde. Bis ein kalifornischer Blogger vor – genau! – 20 Jahren darauf hinwies, dass diese Maschinen zur Erzeugung von Linsen- und Gewürzpasten Bestandteil jeder besseren indischen Küche und damit billig erhältlich sind.
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Die Erfahrung, mithilfe einer solchen Maschine aus Kakaobohnen Substanzen herzustellen, die zu jedem Zeitpunkt des Prozesses aufregender schmecken als jede gekaufte Schokolade, ist magisch. „Diese Low-Budget-Möglichkeit ist der Motor für Craft Chocolate“, sagt auch Patrick Walter. „Alle neuen Entwicklungen und Trends sind daraus entstanden.“ Nur Arne Homburg schränkt ein, dass man derart einfach gearbeiteter Schokolade „immer ihre Herkunft und ihre Produktionsweise anmerkt, und das ist nicht jedermanns Geschmack“.
Stimmt. Genau darum sollte es gehen: einen Geschmack mit Charakter zu erzeugen. Schokolade ist Genuss-, nicht Lebensmittel. Und erst recht keine Impulsware. Wozu braucht’s hier überhaupt eine Industrie?
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