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Ein roter Faden mit Brüchen und LückenDie Suche nach dem verlorenen Buch

Unser Autor dachte, er lebe für seine Arbeit. Doch seine Erinnerung sagt etwas anderes. Vieles, was mal wichtig war, spielt nun keine Rolle mehr.

Auf der Suche nach der Vergangenheit Illustration: Eléonore Roedel

Wie wichtig ist Arbeit für ein erfülltes Leben? Vor Kurzem, mit 53 Jahren, bekam ich einen Schock, der mich auf den Gedanken brachte: Vielleicht wird die Rolle von Arbeit für das Selbstverständnis einer Persönlichkeit überschätzt?

Ich bin ein Aktivist, der erst Journalist wurde und dann wieder zum Aktivisten wurde. Ich arbeitete für Nichtregierungsorganisationen im Arbeitsrecht, dann für Mainstream-Medien und jetzt für eine Menschenrechtsorganisation. Wie viele Aktivisten, Journalisten und andere, habe ich Arbeit nie als bloße 9-bis-17-Uhr-Tätigkeit gesehen, sondern als Quelle der Selbstverwirklichung und als eine Art, meinem Leben größere Bedeutung zu verleihen.

Je älter man wird, desto wichtiger werden natürlich andere Dinge. Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der mir meine Familie, über sämtliche Generationen hinweg, sehr wichtig ist. Der Stellenwert von Arbeit relativiert sich in dieser Situation, doch trotzdem bleibt sie ein wichtiger Teil des Lebens.

Ich habe gemerkt, dass ich lange einen nostalgischen Blick darauf hatte, wie sich mein Arbeitsleben entwickelte und wie es über die Jahre meinen Charakter formte. In Wahrheit war meine Karriere eine Abfolge verschiedener Jobs, die einer nach dem anderen genau zur richtigen Zeit zu kommen schienen und in denen ich das Glück hatte, Gewinner in einem mehr oder weniger zufälligen Auswahlprozess zu sein.

Auf der Suche nach Themen

Damals allerdings war meine Selbstwahrnehmung eine andere. Wenn ich zurückschaue, sehe ich einen roten Faden, der sich durch mein Arbeitsleben zieht und eine Station mit der nächsten verbindet. Was ich als meinen Aktivistengeist begreife – die Idee, die Welt irgendwie zu einem besseren Ort machen zu wollen –, macht diesen roten Faden aus, den ich in meiner nostalgischen Denkart nie verblassen sah. Sogar dann nicht, als ich elf Jahre lang für die Financial Times arbeitete, wo ich viel gelernt habe, aber mich immer wie ein Außenseiter fühlte – immer auf der Suche nach Themen, über die zu ­schreiben mir wirklich wichtig war.

Wie das im modernen Leben oft der Fall ist, waren es ein Bruch in der Routine und ein Ortswechsel, der diese romantische Sicht auf meine eigene Arbeitsbiografie gehörig durcheinanderbrachte.

Hugh Williamson

Jahrgang 1964, ist Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch in Berlin. Zuvor arbeitete er als Journalist, unter anderem für die Deutsche Welle und als Berlin-Korrespondent der Financial Times. Sein Buch „Coping with the Miracle: Japan’s Unions Explore New International Relations“ (1994) ist auf Amazon erhältlich. (Keine Eile: 8,6 Millionen Titel verkaufen sich besser als dieser).

Vor Kurzem reiste ich beruflich nach Japan. Vor 25 Jahren war ich häufig dort, um Gewerkschaftsaktivisten zu interviewen und an Arbeitskämpfen teilzunehmen. Ich schrieb sogar ein Buch über das Land oder zumindest über einen skurrilen Seitenaspekt – ob sich die japanischen Gewerkschaften um die Ausbeutung von Arbeitern kümmerten, die in anderen asiatischen Ländern für japanische multinationalen Unternehmen arbeiteten (die Antwort nach 332 Seiten: Es interessierte sie nicht wirklich ).

Zuletzt war ich 1998 dort. Damals machte ich anscheinend eine neuntägige Buchvorstellungsreise durch drei Städte; zum Erscheinen der japanischen Übersetzung las ich in Tokio, Kioto und Osaka.

„Anscheinend“ schreibe ich deshalb, weil ich diese Reise komplett vergessen habe, genau wie ich mich auch an die vorherigen Recherchereisen fast gar nicht mehr erinnere. Dass es diese Lesereise gab, weiß ich nur deshalb, weil ich auf meinem Dachboden ein vergilbtes Stück Papier mit meinem Reiseplan drauf gefunden habe. Ich fand dort auch alte Fotos von einem viel jüngeren Ich zu japanischem Publikum sprechend, das offenbar aufmerksam zuhörte.

War ich das wirklich?

Wie kann das sein? Wenn es einen roten Faden gibt, der Schlüsselmomente in meinem Leben miteinander verbindet, dann sollte dieser Faden doch auch das einzige Buch umschließen, das ich je geschrieben habe? Doch tatsächlich fühlte ich mich, als ich mich erneut auf den Weg nach Japan machte, vollkommen abgeschnitten von dieser früheren Lebensphase, als ob sie jemand anderem passiert sei. Sogar wenn ich mein Buch noch einmal lese, verschwindet diese Barriere nicht. Habe wirklich ich das alles geschrieben?

Ich war verstört, beschloss aber, den Gedächtnisverlust als Herausforderung zu nehmen. Ich wollte versuchen, während meines Aufenthalts in Japan wieder mit meinem früheren Leben in Verbindung zu kommen, den Wert wiederherzustellen, dem ich meiner Arbeitsbiografie immer eingeräumt hatte.

Mein erster Wiederanknüpfungsversuch findet in Asakusa statt, dem beliebten Tokioter Tempelbezirk, den ich, meinen vergilbenden Notizen zufolge, auf meiner ersten Reise 1988 besuchte. Mein Hotel ist in der Nähe, und ich spaziere umher, besuche den Haupttempel, absolviere die Touristenrituale und bete zu den Göttern – aber ich habe nicht die leiseste Erinnerung. Nichts.

Beim Gewerkschafsbund Rengo

Später habe ich einen Termin beim Gewerkschaftsbund Rengo, dem japanischen DGB. Vielleicht könnte das ergiebiger werden, da sie dort vermutlich Interesse an meinen Tätigkeiten in meinem früheren Leben haben. Außerdem spielt Rengo eine große, wenn auch nicht unkritische Rolle in meinem Buch.

Innenstadt von Tokio, großes Bürohaus, siebter Stock, zwei freundliche Außenbeziehungsbeauftragte. Ich erkläre ihnen, warum ich hier bin, spreche ein wenig über das Buch.

Sie sind höflich, aber verwundert. Sie wundern sich darüber, dass dieser Fremde, der kein Japanisch spricht, sich offensichtlich mit den Details der japanischen Arbeitergeschichte auskennt. Etwas zögerlich nehmen sie die japanische Ausgabe des Buchs entgegen. Wir suchen schon bald nach anderen Gesprächsthemen. Auch hier: keine Wiederannäherung an vergessene Zeiten.

Das ist entmutigend, aber auch befreiend. Endlich kann ich mich von der Idee verabschieden, dass es für mich irgendwie wichtig war und ist, der Autor dieses Buchs zu sein. Endlich kann ich diese Arbeitsepisode als Teil einer ganz normalen Karriere begreifen.

Und dann gibt es doch noch einen Hoffnungsschimmer: An meinem letzten Abend treffe ich mich mit Yamazaki Seiichi. Vor 25 Jahren war er mein Übersetzer und ­bester japanischer Freund. Wenn Arbeit also weniger wichtig wird, wenn die Jahre vorbeiziehen – können dann wenigstens Freundschaften den Zeittest bestehen?

Wir machen uns auf den Weg durch Tokio zu seinem Haus am anderen Ende der Stadt. Abwechselnd ziehen und tragen wir meinen großen Koffer. Es ist Rushhour. Als uns die U-Bahn gerade vor der Nase wegfährt, erzählt er mir, er sei nun 67, pensioniert von seiner Tätigkeit in der Gesundheitsabteilung der Tokioter Stadtverwaltung. Er nimmt seine Kappe ab, um sein ergrauendes Haar zu zeigen. Wir besteigen einen Zug. Wie geht es deinen Kindern? Was machen sie jetzt? Immer mehr Menschen quetschen sich in den Waggon. Bist du immer noch gewerkschaftlich aktiv?

Eine große Flasche Sake

Wir kommen in seinem holzgetäfelten Vororthaus an. Seine Frau Michika heißt mich willkommen, sie ist schon über dem Pensionsalter, arbeitet aber noch immer als Sozialarbeiterin. Wir setzen uns zum Essen, die Konversation wandert angenehm durch die Höhen und Tiefen des mittleren Lebensalters und des Älterwerdens.

Dann holt Yamazaki eine mächtige Flasche Sake hervor, und etwas Schönes passiert: Wir sind wieder auf einer Wellenlänge. Freudig erinnert er sich exakt an unser Kennenlernen (es war etwas früher als in seiner Erinnerung). Die Protestkampagnen, die wir zusammen erlebt hatten, „waren für mich der Beginn einer neuen Lebensphase“, sagt er. Für mich war es genauso, merke ich plötzlich wieder.

Ich zeige ihm alte Fotos, die ich mitgebracht habe. Er kramt ein verstaubtes Fotoalbum hervor mit Bildern von einer Wanderung, die ich in den frühen 1990ern mit seiner Familie unternommen hatte (was ich vergessen habe). Wir erinnern uns an gemeinsame Freunde und Bekannte und wenden uns meinem Buch zu. Ich erzähle, dass ich mein einziges japanisches Exemplar Rengo geschenkt habe. Da geht er ins Arbeitszimmer und gibt mir eine neue Ausgabe. „Ich habe noch einige“, sagt er. „Wieso?“, frage ich. „Nun, ich habe es übersetzt“, sagt er. Zu meiner Schande erinnere ich mich nicht.

Jetzt könnte es komisch werden, aber glücklicherweise kommt es anders. Als ich auf das dicke Buch schaue und dann auf Yamazaki, fühle ich mich endlich wieder verbunden. Die Gefühle, die in mir frei werden bei der Erinnerung daran, was Yamazaki in einem früheren Leben für mich getan hat – diese Gefühle überbrücken einen Teil der Lücke, die sich zwischen mir und meinem längst vergessenen Arbeitsleben aufgetan hat.

Aus dem Englischen: Nina Apin

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1 Kommentar

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  • Erinnerungen sind keine gespeicherten Daten. Sie sind viel mehr so etwas wie eine Geschichte, die man sich dauernd wieder erzählt und die dadurch immer wahrer wird.

     

    Unterlässt man dieses sich-erzählen, zum Beispiel weil man ständig mit der Gegenwart zu tun hat, muss man das rechtzeitig nachholen oder die vereinzelten und dann zusammenhanglosen Erinnerungsbrocken erodieren einfach weg und sind für immer verschwunden.