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Altes und Neues von den Berliner SzenenEin Wiederlesen zum Abschied

Ein Urgestein unserer Seiten, die Berliner Szene, erhält einen neuen Namen. Einige der Szenen Detlef Kuhlbrodts folgen hier erstmals „richtig“ online.

In einer dieser Berliner Szenen steht Detlef Kuhlbrodt beim Einkaufen im Supermarkt in der Kassenschlange Foto: noa-mar/plainpicture

Die Rubrik „Berliner Szenen“ existiert schon seit Redakteursgedenken und hat schon viele Blattreformen überlebt. In Zukunft werden die Szenen überregional und in den digitalen Kanälen erscheinen, wo sie allerdings nur noch „Szenen“ heißen werden. Der Legende nach wurde die Rubrik eingeführt, um den kurzen Alltagsbeobachtungen des Flaneurs Detlef Kuhlbrodt einen passenden Rahmen zu geben. Um uns mit dieser heutigen Ausgabe von den Printseiten der Berlinkultur zu verabschieden, drucken wir hier einige seiner Szenen nach (d. Red.).

Lost und Space

Düster verschneit und still war die Mittenwalder Straße am Abend. Ich fummelte am Fahrradschloss herum, um es aufzuschließen. Von Weitem rief jemand, den man nicht sah, laut „Mutti“. Ich guckte in die Richtung des Rufers. Größer werdend sah ich den, der gerufen hatte, näher kommen. Der kleine Mann war Mitte 50, wie mir schien, und trug einen zerschlissenen Anzug. Man sah das alles aber auch nicht so genau. Ich stellte mich jedenfalls so an mein Fahrrad, dass ich ihn in meinem Blick behielt, während er an mir vorbeiging; um reagieren zu können, falls es ihm plötzlich einfallen sollte, mich zu schlagen. Er ging aber weiter, ohne mich zu schlagen. Vielleicht hatte ich ja gerade eine Schlagefantasie gehabt. Und als ich das Fahrrad dann aufgeschlossen hatte, hörte man ihn noch einmal von Weitem, als wenn er geschlachtet würde, laut „Mutti“ rufen.

Und dann kam Max Müller, der Sänger der Gruppe Mutter, aus einem Hauseingang raus. Ich erzählte ihm das eben Geschehene in der Meinung, das müsse ihn doch sehr interessieren. Er sagte so etwas wie „echt?!“.

Dann hörte man, nun schon viele Meter entfernt, den Mann noch einmal „Mutti“ rufen. Bei aller Emotionalität und trotz der Lautstärke hatte sein Ruf etwas Leierndes, fast Schepperndes. Wahrscheinlich hatte ihn seine Mutter vor fünfzig Jahren verlassen. Es könnte aber auch sein, dass er wie so einige Kreuzberger noch bei seiner Mutter lebt. Vielleicht waren die beiden nur spazieren gegangen und der Sohn hatte so sehr getrödelt, dass er seine Mutter aus den Augen verloren hatte und sein Rufen, das so herzzerreißend lost in time und space geklungen hatte, hätte so einen ganz konkreten Adressaten gehabt. Das ist aber unwahrscheinlich. (4. 3. 2005)

Katze werden

Es war Abend im Bezirksdreieck. Wo Lohmühlenbrücke, Weichselstraße und Maybachufer aufeinandertreffen, hatte sich ein Auflauf aus ungefähr dreißig meist jungen Leuten gebildet. Die einen tranken Bier und schauten den anderen zu, die versuchten, alte Fahrradreifen über den Bogen einer Straßenlampe zu werfen. Keine Ahnung, wo die vielen Fahrradreifen herkamen.

Wie beim Sportunterricht warteten die Reifenwerfer in einer Schlange, bis sie dran waren. Wenn jemand traf, wurde geklatscht und gejubelt. Wenn sich zu viele Reifen um die Bogenlampe gelegt hatten, wurde sie geschüttelt wie ein Baum, bis die Reifen weiter runterrutschten. Manchmal verfingen sich die Reifen auch in einem danebenstehenden Baum. Die Stimmung war gut. Die Menge wuchs mit der Zeit. Zwei Hare-Krishna-Anhänger kamen mit ihren Wägelchen vorbei und kicherten. Am Fuß der Bogenlampe machte ein Schild für einen Fahrradladen Reklame.

Ist das nun ein Flashmob? – So was Ähnliches. Man habe sich jedenfalls übers Internet verabredet. Jemand mutmaßte, die Kneipe „Freudenhaus“ habe mit der Sache zu tun. Ich dachte an die geheimnisumwitterte Hedonistische Internationale. Früher, also im 18. Jahrhundert zum Beispiel, hätte man von einem Studentenulk gesprochen. Eigentlich war es recht schön. Und als mir langweilig wurde, ging ich dann wieder.

Als ich gegen zwölf noch einmal mit dem Fahrrad vorbeifuhr, standen Polizisten da und verhörten drei Leute. Und später dann hatte die Band Katze ihre neue Platte „Du bist meine Freunde“ im überfüllten Club49 vorgestellt. Klaus Cornfield hatte auf dem Tresen gesessen, Minki Warhol hatte auf einem elektronischen Spielzeuginstrument gespielt, die Stimmung war super gewesen. Es ist ganz einfach, eine Katze zu sein: Es genügen vier schwarze Striche auf der Wange. (11.8.2010)

Leise sagt er das böse Wort

Nachdem ich glücklich alles gefunden hatte, was ich hatte einkaufen wollen, stand ich in der langen Schlange vor der Kasse, die ohne mein Zutun kürzer wurde, weil daneben eine neue Kasse aufmachte. Vor mir war das ganze Band voller Waren. Die Kleinfamilie kaufte ein. Der Kassierer preiste konzentriert die Waren ein, konzentriert tat die Frau sie in den Einkaufswagen, in dem auch ein kleiner blonder Junge ohne Maske saß. Leise, als probiere er das Wort zum ersten Mal aus, sagte der Junge das böse Wort.

Der Kassierer preiste die Waren zu Ende ein, legte kurz seine Hand auf die Hand des kleinen Jungen und beschwerte sich dann mit ruhiger Stimme bei den Eltern. Die Frau sagte, das könne nicht sein, er müsse sich verhört haben. Ein solches Wort würden sie nie benutzen. Der Junge sei erst zwei und könne es gar nicht kennen. Vielleicht hätte er „mega“ gesagt, weil sie so viel eingekauft hatten.

Der Kassierer sagte, doch, der Junge habe genau dies Wort gesagt, und ich dachte, der Junge sieht älter aus als zwei. Der Frau war alles wahnsinnig peinlich. Sie entschuldigte sich, bestritt aber weiter, dass ihr Sohn das Wort gesagt habe. Kurz sprach sie noch mit ihrem Mann – war’s jetzt Polnisch oder Russisch? – dann bezahlten sie und gingen. In allen Einzelheiten hatte ich die Szene nicht mitbekommen, das Wort war mit einer kleinen Verschiebung in der Erinnerung bei mir angekommen und dann erst wirklich geworden.

Mir imponierte die Ruhe, mit der der Kassierer agiert hatte, fand es dann aber irgendwie unpassend, paternalisierend, ihm das zu sagen. Auf dem Rückweg dachte ich an den ersten schwarzen Mann, den ich als Kind gesehen hatte. Das war, als ich von einem Baum gefallen war und mir den Arm gebrochen hatte. Der Mann hatte mich ärztlich behandelt und mir dabei beruhigend, wie der Kassierer dem Jungen, die Hand auf den Arm gelegt. (2.10.2020)

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