Ein Obdachloser und die Frauen: Edwin tanzt alleine
Nie wurde er geliebt. Edwin hat sich die Gunst der Frauen erkauft. Für Sofia hat er gar einen Kredit aufgenommen. Nun lebt er auf der Straße.
Vielleicht ging es um Geld, wer weiß. Wie genau sie sich kennenlernten, daran erinnert er sich nicht. Und das, obwohl er fast unaufhörlich von ihr spricht. In der Innenstadt muss es gewesen sein. Er Lagerarbeiter, ein naiver alter Mann voll Sehnsucht, sie Ende 20 und aus Griechenland gekommen, ohne Zukunft, ohne Job. Edwin* erzählte ihr, dass er bei der Partnervermittlung keine Frau bekommen hatte und wie ungerecht doch alles sei. Am Ende sagte sie ihm: Sagapo – ich liebe dich – und gab ihm einen Kuss.
Am liebsten sah Edwin Sofia in ihrem süßen Röckchen, voll Überschwang sagte sie ihm: Du bist mein Freund, mein Mann, mein alles. Ganz glücklich waren sie jedoch nie. Sie weinte oft, des Geldes wegen, und dann weinte er mit ihr. „Sofia mochte nicht, dass ich so viel rede. Ich sollte am liebsten schweigen.“ Auch, dass sie ein Paar waren: „Geheim, geheim.“
Sofias anderer Freund heißt Petros. Seit der Schulzeit sind sie ein Paar. Wenn er sie schlägt, tritt sie zurück und liebt ihn dennoch. Soldat ist er und drogensüchtig, Sofia sei das aber nicht. In der Drogenszene sind die beiden gut bekannt. Lebten lange in einem Zelt im Stadtgebüsch. Sie sei krebskrank, die Arztrechnungen seien hoch.
Edwin hat sie alle – ungesehen – gern bezahlt. Knapp 1.300 Euro Rente kriegt er. Sofia hebt das meiste davon ab, seit er ihr seine EC-Karte gab. Wenn ich dir Geld übrig lasse, lernst du nur eine andere Frau kennen, erklärte sie ihm mal. Und dann bekomme ja die das Geld. Auch für Edwins Miete reichte es schon bald nicht mehr. Er musste nun – und dafür hatte er Verständnis – fortan auf der Straße leben.
Irgendwas ging schief
Falls Sofia doch mal etwas liegen lässt, holt sich das meistens seine Bank. Denn Edwin, gerade auf der Straße angekommen, hörte von Sofia folgende Idee: Edwin könne mit ihr zusammen in eine schöne Wohnung ziehen. Nur er und sie, wie wunderbar. Sie brauche dafür nur ein wenig Geld. 2.000 Euro lieh sich Edwin, sagt er, zu den Schulden, die er schon hatte.
Doch irgendwas ging schief, das Geld verschwand. Oder war es nicht genug? So ganz begreift er das bis heute nicht. Sofia und Petros lebten jedenfalls weiterhin in ihrer Wohnung. Zu Besuch war er da gerne, auch wenn es immer dreckiger wurde, viele Griechen, die rauchten, tranken und all die Spritzen dort, herrje. Er, auf der Straße lebend, durfte dann Essen bringen.
Was Sofia und die Bank ihm heute lassen, bucht seine Versicherung ab. Fünf Jahre ist er obdachlos, gewiss, aber mit Hausratsversicherung ist ihm einfach wohler zumute. Alle, auch die anderen Obdachlosen, wissen, dass sein Herz zu weich ist für die Straße. Als er einem ein Fahrrad abkaufen wollte und ihm das Geld übergab, nahm der es und sagte, dass Edwin das Fahrrad gar nicht braucht – und behielt es. „Unehrliche Leute haben leichtes Spiel mit mir“, sagt Edwin. Oft sammelt er Flaschen, wenn es knapp wird oder er für Sofia sparen will.
Mit den Frauen war das immer so eine Sache.
Katharina hatte blonde Locken. Sie war schlank und schön, die Tochter eines Arbeitskollegen. Er war schon im Betrieb, sie noch auf der Schule. Er schenkte ihr sein Auto. Sie wurde irgendwie schwanger, von einem anderen – und den heiratete sie auch. „Die Katharina hab ich am allerliebsten gehabt. Die war süß, die war gut, aber … das war schwierig, die war weg.“
Lucia hatte langes schwarzes Haar, eine Italienerin mit Temperament, um die 40 vielleicht. Sie war lustig und getrunken hat sie gerne. Ihr Mann hatte sich getrennt, die beiden Kinder durfte sie nicht behalten. 300 bis 400 Euro schenkte er ihr im Monat, sagt er stolz. Auch für Kleider, die sein Vater, der charismatische Pastor, immer Hurenkleider nannte. Bald fand sie einen anderen. Schon als sie zusammen waren, hatte sie ja eifrig gesucht.
Eine fraß sich zu Tode
Ramona war anders, aber auch nicht besser. Sie sang gerne, wie eine Opernsängerin, so schön. Edwin traf sie auf der Straße, als sie für die Straße sang. Noch lieber aß sie. Die hat sich zu Tode gefressen, sagt Edwin. Sie wurde dicker und dicker, er fand das nicht mehr schön, aber er wollte nicht unhöflich sein. Er hätte ja auch keine Bessere gefunden, sagt er. Für sie lieh er sich gern Geld von seiner Bank. Ihre Beziehung hielt länger. Auch am Grab war er mal.
In die Tanzschule ging Edwin gern. Foxtrott. „Mir tat das gut.“ Und doch war es nicht seine Stärke. „Da musste ich alleine tanzen, weil alle besser waren als ich.“ Sie gaben ihm als Partnerin einen Besenstiel in die Hand. „Wir bitten Sie höflich, zum Abschlussball nicht zu kommen.“
Die Partnervermittlung hat lange gesucht. „Die Frauen haben mich dann gesehen und gesagt: nein. Wissen Sie, wie das ist, wenn man für etwas bezahlt hat und dann sagt einer nein?“ Am Ende gab man ihm für 10.000 Euro die Information, dass man ihm nicht helfen könne.
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„Alle haben ihn ausgenutzt“, sagt eine alte Bekannte. „Wir haben immer gesagt, ‚Edwin, die wollen nur dein Geld!‘ Aber er war immer froh, wenn er eine Freundin hatte.“ Er war immer hilfsbereit, sagt sie, wollte ihr im Garten helfen. Nachdem er im dritten Anlauf den Führerschein geschafft hatte, hätte er gern alle herumkutschiert. Wenige trauten sich, mit ihm zu fahren. Sein Vater setzte sich dafür ein, dass er die Arbeit im Lager bekam und sie bis zur Rente behielt. Von seinem ehemaligen Chef hört man, dass er nichts Schlechtes über Edwin sagen könne. Immer fleißig, immer bemüht. Die Kollegen machten sich oft über ihn lustig. Edwin wollte mehr als immer nur im Lager schuften. Aber eine anständige Arbeit wollten sie ihm nicht geben, sagt er. Immer nur Schrauben zählen! „Aber das ist gar nicht so einfach, da gibt’s große Schrauben und kleine.“
Ein paar Tränen finden sich immer irgendwo. Zu schnell ist er bei all dem Trüben, das ihn quält. Dann werden seine Gedanken vor Erregung immer wilder. Wenn es nicht die Liebe ist, die er nie hatte, dann ist es das fehlende Abitur, das ihn noch quält.
Wenn er zu einem hochschaut, die Stirn in Falten, dann lächelt er meist – und man sieht, dass ihm die oberen Schneidezähne fehlen – oder er guckt verdutzt und lächelt dann. Während das eine Auge hinschaut, blickt das andere manchmal weg. Sein Kopf hängt meist nur wenig höher, als sich sein Buckel heben kann. Immer schwer beladen unterwegs. Abnehmen lässt er sich nichts. „Ich kann besser gehen, wenn ich trage.“
Seine Eltern liebten ihn. Seine Mutter starb zu früh, Mitte 20 war er da. Die Neue des Vaters fand ihn suspekt. „Ich hatte in der Schule das schnellste Lernsystem, aber die anderen haben mich zusammengeschlagen.“ Mit 25, neben der Lagerarbeit, beginnt er, sich in Abendkursen auf den Realschulabschluss vorzubereiten. Nach einem halben Jahr sollte es so weit sein. Fünf Jahre später überreden ihn die Lehrer, es um Herrgotts willen endlich aufzugeben. Einer der Lehrer sagt: „Er ist eine liebenswerte Person, aber ich kann einfach nicht mehr.“ Ich hab trotzdem viel gelernt, sagt Edwin. „In Klammern A plus B Quadrat“, rattert er runter. „Das ist von Albert Einstein.“
„Ich möchte gerne haben, dass Sie auch eine Frau kriegen“, sagt er einmal unvermittelt. Ich? „Ja! Sie können ja nicht ewig allein bleiben!“ Vorher hatte er aus dem Nichts 20 Euro hingehalten. „Hier, damit Sie auch etwas haben. Haben Sie genug? Ganz sicher?“
Das letzte Mal, als er Sofia ansah, sah sie aus wie der Tod, sagt er voll Schrecken. Ein halbes Jahr ist das bald her. Sie werde vielleicht nicht mehr lange leben, hatte sie ihm noch gesagt. Zurück nach Griechenland ging sie mit Petros, zu den Heilquellen, die ihren Krebs besiegen können. Nicht mal Geld abgehoben habe sie inzwischen mehr von seinem Konto. Er will nur wissen, was los ist! Was ist mit Sofia? Ist sie tot? Er sitzt auf einer Bank, Spätsommernachmittag, am Rande eines schön begrünten Platzes, auf dem er manchmal schläft, die Sonne hängt reif am Himmel und er ist krank vor Sorge. „Ich hätte gern mein Glück gehabt. Jetzt habe ich alles verloren.“
„Die Menschen sollen glücklich werden. Edwin soll auch mal glücklich sein“, sagt Edwin. „Aber da gibt’s kein Glück.“
Er schaut herab: „Vielleicht mag die Sofia mich gar nicht. Was ich falsch gemacht hab, ist, dass ich immer nachgegeben habe mit dem Geld. Ich habe ihr immer wieder was gegeben.“
„Das Einzige, was mir übrig bleibt, ist das Kabarett.“
Das Programmheftchen hat er immer dabei, zitiert aus Stücken, plappert es kaum verständlich vor. Kennen Sie den? Und den? Und den? Die sind klasse! Er kauft Karten, nicht nur für sich, auch für die anderen Obdachlosen, knapp 30 Euro pro Person. Am Abend der Vorstellung kommt keiner. Er ist enttäuscht, findet dann aber die Freude wieder, lacht, klatscht, trampelt und schaut ständig, ob es einem auch gefällt.
Nach der Show, noch glücksgeladen, grüßt er im Foyer den alten Freund. Die Statue eines kleinen Mannes. Er streichelt ihm über den Kopf, küsst ihm im Überschwang die Stirn. Weil er die Künstlerin am Merchandising-Stand begeistert lobt, bekommt er von ihr einen Kuss auf die Wange. „Zuckersüß“, sagt er vergnügt. Beim Herausgehen ruft er zu ihr: „Vielleicht haben wir ja demnächst eine Fernbeziehung.“ Alle lachen und Edwin grinst, als er seinen Karren weiterzieht.
In die Stille der Laternen sagt er später: „Es hat auch manches geklappt“, und meint damit sein Leben.
Ein schöner Abend
An seinem Schlafplatz angekommen, legt er seine Sachen vor die Eisenbänke. „Hier schlafe ich immer. Hier sind die scheiß Toiletten.“ Siebzig Jahre ist der Mann, fünf davon obdachlos. Neben der Bank, auf der er meist sitzend ruht, bei den Blumenkübeln, findet er ein Buch. Es ist ein Neues Testament. Ein paar Käfer krabbeln heraus. „Das sollte für mich sein“, sagt er und legt es in die Tüte. Doch dann will er wieder zum Klagen ansetzen, Sofia, die alte Leier, aber er hält inne – nein, heute nicht mehr. Stattdessen seufzt er: „Das war ein schöner Abend.“
Seine Hand zum Abschied ist rau. An vielen Stellen aufgerissen. An anderen hat er sie aufgekratzt und herumgepuhlt. Sie ist groß und rau und weich.
„Ich will gerne wiedergeboren werden“, hatte Edwin mal gesagt. „Das Leben ist schön. Am Ende wird alles gut.“
Einige Wochen später, es ist Anfang November, sitzt er im McDonald’s, vor sich Briefe und andere Papiere ausgebreitet. Er hat über eine Sozialarbeiterin Kontakt zu einem Vermieter. Der gibt viele Wohnungen an Ältere und hilft auch Obdachlosen. Durch den Einsatz seiner Helfer ist er oben auf der Warteliste. Andere Möglichkeiten gibt es nicht, hat die Sozialarbeiterin erklärt. Lediglich die Miete muss man selbst zahlen. Aber Geld hat er ja, seit Sofia das Konto nicht mehr leert. Übermorgen ist Besichtigungstermin. Den darf er nur nicht verhauen. Die Verwalterin will sehen, ob er in die Hausgemeinschaft passt.
Die zweite, noch viel wichtigere Neuigkeit: Sofia hat geschrieben! Endlich! Sein Glück läuft über. Sie scheint in Griechenland wohlauf zu sein. Ein Kauderwelsch. Anrufen soll er ihre neue Nummer. Irgendwas mit einer „Karte“. Sie vermisse ihn. „Die will, dass ich zu ihr komme, will nicht mehr auf mich warten. Höhö.“ Vor ihm liegt auch ein Brief seiner Bank. Sie haben ihm ungefragt eine neue EC-Karte geschickt. Sofias Karte ist damit deaktiviert, ihr Zugang zu seinem Geld abgeschnitten. Schreibt sie ihm, weil er ihr seine neue Karte schicken soll?
Sofia oder Wohnung?
Edwin zögert, wirkt auf einmal nicht mehr so erfreut. Er ahnt, dass er sich entscheiden muss: Entweder bekommt all sein Geld weiterhin Sofia oder er zieht in die neue Wohnung ein.
Der Morgen, an dem Edwin über sein Leben entscheidet, ist neblig und kalt. 8.29 Uhr am Bahnhof. Aus Bussen huschen Pendler vorbei in ihre Bahnen. Inmitten der Zielstrebigkeit steht ein zerschlissener Mann, bucklig, und schaut ins dichte Grau, in der Rechten hält er eine grüne Tüte, in der Linken ein rotes Wägelchen. „Sie glauben nicht, was passiert ist!“, sagt er, „ich habe mir gestern ein Telefon gekauft. Für einen Euro!“ Aus seiner Jackentasche holt er ein Samsung Galaxy A6+.
Er hat endlich mit Sofia telefoniert! Ging es um Geld? Nein, nicht nur! Sie will nicht, dass er Geld überweist oder per Brief schickt. Das würden die nur einziehen oder klauen. Er soll es „am Bahnhof schicken“, ohne bis jetzt zu wissen, wie das geht. 300 Euro erst mal. Er ist glücklich.
Sofia ist dabei, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Die Tür zur Wohnung, die seine hätte werden können, beginnt sich zu schließen. Wie soll er mit leerem Konto Miete zahlen? Aber noch bleibt das neue Leben, das vielleicht etwas Glück für ihn bereithält, nah. Er muss es nur greifen.
Im Eingang des Plattenbaus sitzen Senioren beieinander und erzählen. Edwin bekommt von allen ein „Guten Morgen“ zugeraunt. Der Verwalterin reicht er zum Gruß die Hand. Auf seine unbeholfen liebe Weise schaut er zu ihr hoch. Die Dame ist freundlich, Edwin vorsichtig bemüht. Sie nehmen den Fahrstuhl in den 4. Stock. Gleich rechts ist das Appartement frei, es wird gerade renoviert. Die Dame erklärt, was alles noch gemacht wird. Im Januar könne er einziehen. Er tritt ein, schaut sich um, schaut in das Bad, schaut in den Raum. Es ist ein schönes, bescheidenes Zimmer: Kochnische, Laminat, große Fenster, schöner Ausblick. Ein Traum, um billig alt zu werden. Nie wieder auf Stein und Eisen schlafen.
Wirrer und wütender wird er
Jetzt wäre für Edwin der richtige Zeitpunkt, um der Dame zu sagen, dass ihm die Wohnung gefällt. In Edwin arbeitet es, er schweigt, guckt nur. Die Dame wartet.
„Und hier soll ich dann alleine wohnen?!“, quäkt er. Das Appartement sei zwar für eine Person ausgelegt, erklärt sie, aber Besuch sei natürlich okay. Sofia könne hier also nicht wohnen, nein? Er beginnt zu entgleiten. Immer müsse er allein sein! „Glauben Sie, dass hier eine Frau von der Partnervermittlung einziehen will? Ich habe denen 10.000 Euro gegeben und sie haben keine Frau für mich gefunden!“
„Sofia und Petros haben in einer Wohnung gelebt, die zwei Zimmer hatte“, brüllt er jetzt. „Und die habe ICH bezahlt!“ Er schlägt sich dabei zitternd auf die Brust. Die Verwalterin blickt erschrocken. „Ich soll IMMER ALLEIN sein!“ Noch wirrer und wütender wird er. Sofia. Die Liebe.
„Verstehen Sie mich?“, fragt er schließlich flehend und in Tränen.
„Um ehrlich zu sein …“
Keine Wohnung ohne Sofia. So einfach ist das. Vielleicht glaubt er ihr, weil seine Welt ohne ihre Lügen nicht auszuhalten wäre, weil es ihn zerrisse, ließe er den Gedanken fallen, dass ihn vielleicht doch irgendjemand – irgendjemand auf der Welt – lieben kann.
Er fährt hinab.
An der Haltestelle. Gestern kam der Mohammed zu ihm. „Der wohnt in vier Zimmern und darf auch keinen Besuch haben. Der kriegt ganz viel Geld aus Marokko. Der hat so doll bei mir gebettelt, das glauben Sie gar nicht! Hehe. Wollte nur zwei Euro haben für den letzten Bus.
Hab ich ihm gegeben.“
* Die Namen der beteiligten Personen wurden mit Rücksicht auf ihre Persönlichkeitsrechte geändert. Edwin ist der Redaktion bekannt.
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