Betreuer über seelisch kranke Obdachlose: „Vom System ausgespuckt“

Straßensozialarbeiter Julien Thiele und Psychiater Richard Becker suchen Obdachlose mit psychischen Problemeauf. Der Handlungsbedarf wird unterschätzt.

Ein Mann mit schmutzigen Fingern hält eine Tasse.

Stark verwahrlost und schwer anzusprechen: die Betreuung lehnt sich oft zurück Foto: dpa

taz: Herr Becker, Herr Thiele, schleppt beinahe jeder Obdachlose eine seelische Erkrankung mit sich herum?

Richard Becker: Jetzt werde ich gleich gehässig: Definieren Sie seelische Erkrankung.

Alles mögliche von Suchterkrankung über psychotische Störungen bis hin zu Depression und Messie-Syndrom.

Julien Thiele: Sie spielen mit Ihrer Frage auf die bisher größte deutsche Studie zum Zusammenhang von Wohnungslosigkeit und psychischen Erkrankungen an, die Seewolf-Studie, oder? Die ist genau mit dieser Grundannahme auf viel Kritik gestoßen.

Deshalb gebe ich die Frage an Sie weiter, denn Sie arbeiten ja als Straßensozialarbeiter und Psychiater mit dieser Gruppe Menschen. Oder darf man da so nicht rangehen?

Becker: Doch, doch. Julien und ich machen jetzt mit dem Caritas-Projekt „Citymobil“ seit über einem Jahr mittwochs zwei Stunden aufsuchende Straßenarbeit. Und zwei Stunden in der Woche sind wir in der Praxis und bieten eine kostenlose psychiatrische Sprechstunde an. Ich habe in dieser Zeit keinen Menschen getroffen, den ich nicht als Patient bezeichnen würde. Da stellt sich sofort die Frage: Sprechen wir hier von psychischen Störungen oder von unverarbeiteten Traumatisierungen? Und: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?

67, Psychiater, flog in England von der Schule und arbeitete im Londoner Zoo als Affenwärter. In Deutschland holte er sein Abitur nach und war Altenpfleger. Nach einem Studium der Psychologie arbeitete er mit Schwerstkranken, unter anderem in der Psychiatrie Hamburg-Ochsenzoll. Jetzt kümmert er sich auf der Straße um psychisch kranke Obdachlose.

Und? Henne oder Ei?

Becker: Da würden wir noch ewig hier sitzen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Aber den Bedarf nach psychiatrischer oder psychischer Begleitung haben meines Erachtens alle, die auf der Straße leben und in deren Leben wir einen, wenn auch diskreten, Einblick in ihre Leben haben. Ich kann mir allerdings kein Urteil über all die Menschen aus Syrien, Afghanistan und so weiter erlauben, weil da die gemeinsame Sprache fehlt.

27, kommt aus dem Osterzgebirge, lernte in Dresden Koch und arbeitete als Koch in Hamburg. Er studierte Soziale Arbeit und ist Straßensozialarbeiter in einem Männer-Ledigenheim und beim Projekt „Citymobil“ der Caritas.

Thiele: Zu den Zeiten, als die Migration noch nicht so stark war, konnte man bei den deutschen Obdachlosen aber davon ausgehen, dass eine psychische Störung vorlag. Ich kämpfe als Sozialarbeiter dennoch erst mal dafür, bei Menschen mit psychischer Erkrankung diese Erkrankung nicht zum Hauptgegenstand der Hilfe zu machen.

Wie kommen Sie an die Menschen ran, um ihnen Hilfe anzubieten?

Thiele: Ich bin regelmäßig auf der Straße unterwegs und habe die Leute schon auf dem Schirm. Wenn ich mit Richard draußen bin, versuche ich gezielt, die entsprechenden Leute zu finden, von denen ich denke, sie haben ein Problem, bei dem Richard helfen könnte.

Und wen suchen Sie da gezielt auf?

Thiele: Sei es eine Frau, die immer alle abweist, oder eine Person, die den ganzen Tag viele Rollwägen immer wieder ein Stück weiterschiebt, oder jemand, der ganz viele Taschen ansammelt. Und dann versuchen wir, Kontakt aufzunehmen. Viele von ihnen haben Angst vor den Institutionen, auch vor dem medizinischen Hilfesystem, und weisen uns erst mal ab. Denn manchmal ist die psychische Erkrankung auch der Auslöser der Wohnungslosigkeit gewesen.

Was passiert in solchen Fällen?

Thiele: Wir erleben, dass Menschen in eine psychische oder psychiatrische Behandlung gehen, vielleicht zwangseingewiesen werden, und in dieser Zeit alles andere verlieren, weil sich niemand mehr kümmert, zum Beispiel Angehörige oder Sozialdienste in den Behandlungszentren. Wir reden in der Regel von bereits vereinsamten Menschen.

Becker: Die Menschen wissen also in der Regel, wenn sie sich so oder so verhalten, kommen sie in die Klapsmühle, und wenn sie in Hamburg ganz großes Pech haben, kommen sie nach Ochsenzoll. Die Bereitschaft, sich helfen zu lassen, ist darum sehr gering. Julien und ich haben uns daher darauf geeinigt, zu sagen, dass ich Arzt bin. Was ja keine Lüge ist, ich bin Arzt. Wenn im Gespräch rauskommt, dass ich Psychiater bin und auch noch in Ochsenzoll gearbeitet habe, ist manchmal die Kacke am Dampfen. Niemand möchte als verrückt abgestempelt werden. Ich bin darum dazu übergegangen, den Leuten zu sagen: „Sie haben ein seelisches und ein soziales Problem. Herr Thiele ist zuständig für das soziale und ich für das seelische, für die Gespräche.“ So kommen wir ganz gut an die Leute ran.

Thiele: Die Kombi aus Psychiater und Sozialarbeiter, die zusammen die Menschen auf der Straße aufsuchen, funktioniert gut. Wir können besser Vertrauen aufbauen und auch erkennen, wo das Problem des einzelnen Menschen liegt und wie wir vielleicht helfen können. So schaffen wir es vielleicht auch, den Psychiater durch eine neue Art des Erstkontaktes wider positiv zu besetzen, und dann trauen die Menschen sich, diese Hilfe auch anzunehmen.

Becker: Aber mit den paar Stündchen, die ich da habe, ist es schwer, wirklich dahinterzusteigen, was mit einem Menschen los ist, der auffällig ist. Wenn man mit einem Menschen nicht in Kontakt treten kann, ist ja schon jede Verdachtsdiagnose eine Anmaßung. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn regelhaft Psychiater, die an eine Klinik angebunden sind, mit auf die Straße gehen würden und ein sinnvolles Stundenkontingent hätten, denn wir finanzieren uns nur aus Spenden.

Wieso gibt es dafür keine Mittel?

Thiele: In Hamburg besteht eigentlich ein Bewusstsein für dieses Problem. Hier gibt es Pläne im aktuellen Koalitionsvertrag, die psychisch kranke Menschen in den Blick nehmen und auf explizit angepasste Angebote abzielen. Da ist mein Erachtens nur bisher nichts geplant oder umgesetzt worden. Es wird immer darauf verwiesen, dass es bereits ein gutes Hilfesystem gibt. Aber die psychische Erkrankung ist eben genau die Hürde, diese Hilfe auch anzunehmen.

Becker: Es gibt in Hamburg kein koordiniertes System, mit dem man die Wohnungslosigkeit angeht. Es ist Stückarbeit. Es fängt damit an, dass Ärzte in den Krankenhäusern, die eingelieferten Menschen, auch die Wohnungslosen mit einer psychischen Störung, beurteilen sollen. Dann gibt es Richter, die eine Vorstellung einer Karriere vor sich haben, aber vorher auch durch das tiefe Tal der Obdachlosigkeit müssen, und dann gibt es gesetzliche Betreuer, die ihr Geld damit verdienen, dass sie einen chronisch psychisch Kranken betreuen. Deren Bezahlung ist ziemlich reduziert worden und darum sind da viele, sehr engagierte Leute verschwunden. Zwischen den Systemen besteht wenig Kontakt und wenig direkte Abstimmung untereinander und mit den Betroffenen.

Thiele: Und alle arbeiten mit sehr hohen Fallzahlen.

Becker: Genau. Dann gibt es noch die sozialpädagogischen Einrichtungen, die diese Menschen betreuen und ganz am Ende der Kette gibt es Leute wie Julien, die die Menschen auf der Straße aufsuchen. Wir verlieren die psychisch kranken Obdachlosen, sie werden vom System, auch vom medizinischen System, einfach ausgespuckt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Wir haben Frau S. kennengelernt. Wie lange bist du in ihrem Fall dem Gericht und der Betreuung hinterhergeeiert?

Thiele: Bestimmt ein halbes Jahr.

Becker: Wenn ein Sozialarbeiter da Unterstützung zum Beispiel vom Gericht bekäme und sich reinhängen könnte und nicht noch durch zig andere Fälle in Anspruch genommen werden würde, dann wäre diese Geschichte in zwei Monaten zu lösen gewesen.

Wie ist die Geschichte von Frau S.?

Thiele: Das ist eine über 80-jährige Frau, die aus der Schweiz kommt, dement ist und sie ist psychotisch, schizophren irgendwie. Sie hatte hier natürlich keine Ansprüche und konnte zum Beispiel das Winternotprogramm gar nicht in Anspruch nehmen, weil sie es am Tag verlassen musste, und nach einer Stunde wusste sie gar nicht mehr, wo sie letzte Nacht geschlafen hatte, geschweige denn, wie sie dahin zurückkommt. Und dann haben wir sie aufgenommen.

Wie kam der Kontakt zustande?

Thiele: Per Zufall, wir haben sie am Hauptbahnhof getroffen.

Becker: Einer unser besten Mitarbeiter ist der Zufall.

Thiele: Wenn wir unterwegs sind, sprechen wir Menschen an, die offensichtlich obdachlos sind und können da natürlich immer nur nach Stereotypen gehen. Aber unser Projekt Citymobil ist ja auch genau für diesen Personenkreis konzipiert, der sehr auffällig, stark verwahrlost und schwer anzusprechen ist und das Hilfesystem gar nicht in Anspruch nimmt. Und genau wie die Menschen scheitern dann auch wir an Hürden. Denn hier lehnt sich die Betreuung oft zurück und sagt: „Mehr als ihr tut, können wir ohnehin nicht tun.“ Sobald die gesetzliche Betreuung besteht, haben wir es nicht mehr in der Hand und können nur nachfragen, wie weit die Hilfen sind. Selten wird unser Angebot der Unterstützung angenommen. Und bei Frau S. war es der klassische Fall: Es passierte einfach gar nichts.

Und dann?

Thiele: Wir erfuhren dann, dass die gesetzliche Betreuerin ihre Kosten abgerechnet hat und die Betreuung eingestellt wurde.

Mit welcher Begründung?

Thiele: Dass Frau S. hier keinen Anspruch hat, die Schweiz ist auch nicht in der EU und so, man fühlte sich nicht zuständig und war einfach überfordert. Ich war wirklich erschrocken über das Gesetz. Die Dame konnte sich einfach nicht selbst versorgen.

Und dann?

Thiele: Wir haben hier so ein Container-Projekt für obdachlose Frauen und da haben wir sie untergebracht. Wir haben unser Angebot extra für sie erweitert, haben hier morgens und abends extra Essen gemacht, ich habe sie zum Duschen motiviert, habe ihr die Wäsche gewaschen, habe ihren Container gereinigt, habe versucht, sie zum Arzt mitzunehmen, den Arzt sogar zu ihr gebracht und habe versucht, ihr eine Perspektive zu erarbeiten. Und dann kam vom Gericht die Ansage: „Sie wissen ja gar nicht, ob sie sich nicht doch selbst versorgen kann, warten sie es doch mal zwei Wochen ab und fahren sie ihr Angebot runter.“ Aber wir haben ja schon gesehen, wie groß die Not war und dass sie es alleine nicht kann. Dann haben wir nichts mehr gehört vom Gericht. Wir haben sie bis in ihre Heimat, die Schweiz, zurückbegleitet und da lebt sie heute auch noch.

Ist das ein klassischer Fall?

Thiele: Ja. Sei es den hohen Fallzahlen geschuldet oder sei es nur Überforderung mit der Situation. Wenn wir einen gesetzlichen Betreuer beantragen, machen wir ja die Dringlichkeit deutlich und merken dann oft, dass unsere Fälle offenbar ganz nach unten in den Stapel wandern, weil die Bearbeiter auch wissen, dass man hier nicht viel machen kann.

Stimmt das nicht irgendwie auch?

Thiele: Ja, ein gesetzlicher Betreuer kann da alleine tatsächlich wenig machen, aber in Kombination mit einem Sozialarbeiter, der die Leute auf der Straße aufsucht, geht schon einiges. Um die psychisch kranken Obdachlosen zu erreichen, müssen wir rauskommen aus den Institutionen und zu den Menschen hingehen.

Becker: Als ich hier im Projekt anfing, habe ich mal die rund 2.000 Patienten der Schwerpunktpraxen im Computer durchgesehen, da waren auch die Diagnosen vermerkt, und es war überwiegend Alkoholismus. Psychiatrische Erkrankungen im engeren Sinne nicht mal eine Handvoll.

Was waren das für Diagnosen?

Becker: Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung, Depression. Ich habe es mir dann zur Aufgabe gemacht, eine Verdachtsdiagnose zu vermerken, die wenigstens ein bisschen Substanz hat. Wir finden auf der Straße kaum jemanden, der nicht gerade ein Bier gekippt hat. Du kannst also allen Alkoholismus unterjubeln. Hamburg täte gut daran, einen Psychiater mit Anbindung an eine Klinik zu haben, der mindestens 50 Prozent seiner Arbeitszeit auf der Straße verbringt und die Sozialarbeiter auf der Straße kennt und so auch irgendwann die psychisch kranken Obdachlosen kennt und eine Idee von der Lebenslage hat. Das ist die Mindestforderung.

Thiele: Wir erleben auch in unseren anderen medizinischen Hilfsprojekten, dass das eine ohne das andere gar nicht geht. Viele Betroffene wissen selbst, wie schwer es ist, wieder in Wohnraum zu kommen, auch ohne eine psychische Störung. Sie haben oft schon die Erfahrung gemacht, dass es nichts für sie gibt, vielleicht sind sie schon aus Einrichtungen rausgeflogen, weil sie sich nicht anpassen können. Die Menschen sind eben kompliziert für das Regelsystem und überfordern alle, die Kliniken, aber auch die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, haben teilweise Hausverbot. In Hamburg gibt es zum Beispiel kaum Einzelzimmer für Männer in Notunterkünften, es gibt kaum Anlaufstellen, die psychiatrischen Sprechstunden sind in fast allen Einrichtungen weggebrochen.

Bremen widmet jetzt eine Flüchtlingsunterkunft in 28 Einzelzimmer für psychisch kranke Wohnungslose um. Ist das eine gute Idee?

Thiele: Ja, man muss es nur hinkriegen, dass die Menschen sich nicht gegenseitig negativ beeinflussen. Wir erleben das ja mit unserem Container-Projekt für Frauen, das ist total niedrigschwellig, man muss keine Bedingungen erfüllen, wer ein Einzelzimmer braucht, bekommt eines und dann ist erst mal gut. Wir erleben, dass die Menschen das annehmen können. Es ist jedoch klein und muss als Zwangsgemeinschaft verstanden werden.

Wieso wurde in Hamburg die Versorgung für psychisch Kranke zurückgefahren? Der Bedarf ist ja nicht kleiner geworden, oder?

Thiele: Es gab ein Projekt der Stadt mit der Uni Hamburg und man hat festgestellt, dass es ganz gut ist, Menschen zu behandeln, die nicht im Regelsystem ankommen. Hierfür gibt es drei Schwerpunktpraxen, eine in Hand der Caritas, aber psychiatrische Sprechstunden sind schwer zu besetzen und daher kaum gegeben. Es ist auch schwer, Psychiater zu finden, die sich mit diesem Personenkreis befassen. Bei den anderen Medizinern, die zum Beispiel mit dem Krankenmobil rausfahren, ist das Interesse hingegen rege.

Wieso?

Thiele: Ich glaube, weil die Hilfe greifbarer ist. Man klebt dieses Pflaster auf. Man gibt diese Ta­blette mit. Und dann gibt es eben ein größeres System, in dem ein besserer Hilfeprozess ablaufen kann.

Hat man denn das Problem mit den psychischen Erkrankungen überhaupt schon richtig erfasst?

Thiele: Alle Seiten wissen, dass es dieses Pro­blem gibt. Es ist ja auch weithin sichtbar im Hamburger Stadtbild. Und es bleibt dabei: Man muss einfach raus auf die Straße, dahin, wo die Leute sind, und als Grundlage Räume schaffen, die fast bedingungslos Eintritt gewähren und Spielräume lassen. Wenn Sie einen Obdachlosen fragen, wo es medizinische Hilfe gibt, können Ihnen die meisten genau sagen, wann welche Sprechstunden sind, wann wo das Krankenmobil steht und so weiter. Aber wenn ich die Betroffenen fragen würde, „Wisst ihr, wo ihr hingeht, wenn ihr mal mit jemandem reden wollt oder ein psychisches Problem habt“, würden die meisten sagen: „Nein.“

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