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Ein Jahr nach dem Anschlag von HanauDeine Trauer, meine Trauer

Mitunter wird das Gedenken an Opfer rechten Terrors und islamistischen Terrors gegeneinander ausgespielt. Wer das tut, verharmlost die Gewalt.

Ein Jahr danach: Gedenken an die Opfer den Anschlags von Hanau am 19. Februar 2021 Foto: Boris Roessler/dpa

B ei den unzähligen Behördenversagen rund um den rassistischen Anschlag in Hanau fällt es schwer, noch mitzukommen. Angehörige der Ermordeten sowie die Überlebenden stellen ihre Fragen unermüdlich: Warum ermittelte die Staatsanwaltschaft nicht gegen den Täter, obwohl ihr sein antisemitisches, rassistisches und misogynes Manifest schon vor dem 19. Februar 2020 vorlag? Warum konnte er legal Waffen besitzen, obwohl er polizeibekannt und mit Zwangseinweisung in der Klinik war? Warum wurde anstelle Vili Viorel Păuns eine Sterbeurkunde auf den Namen seines lebenden Vaters ausgestellt?

Warum wurden die Ermordeten ohne Einverständnis der Angehörigen obduziert? Warum überhaupt, die Todesursache war doch offensichtlich? Warum war der Notausgang in der Arena Bar, einem der Tatorte, versperrt? Warum wurden die Angehörigen so spät informiert? Warum wurden sie wie Täter_innen behandelt? Und nicht vor dem Vater des Täters, der die Ideologie seines Sohns fortsetzt und möglicherweise vom Anschlagsplan wusste, gewarnt?

Für diese Erkenntnisse ist nicht etwa exzellente Polizeiarbeit, wie Hessens Innenminister Peter Beuth die Behörden lobt, verantwortlich, sondern die Überlebenden, Angehörigen und Journalist_innen. Institutionelles Versagen klingt bei diesem Ausmaß beinahe nach einer Untertreibung.

Und dann ist da das gesellschaftliche Versagen. Der 19. Februar 2020 war ein Angriff auf ein Viertel der Gesellschaft. Mindestens. Auf der einen Seite gibt es jene, für die seitdem kein Tag vergeht, an dem sie nicht an Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov denken. Die auf Demos, Kundgebungen, Sozialen Medien und durch lokale Arbeit erinnern.

Karneval und Breitscheidplatz statt Hanau

Auf der anderen Seite stehen jene, die am 20. Februar 2020 Karneval feierten, oder jene, die am vergangenen Freitag auf Twitter „Breitscheidplatz“ zum Trenden brachten. Sie fühlten sich in ihrem Gedenken an den islamistischen Anschlag vom 19.12.2016 durch Hanau, äh, benachteiligt. Viele Profile dieser Personen lassen vermuten, dass sie außer der Forderung Racial Profiling und Abschiebungen wenig gegen Islamismus unternehmen.

Auf linken Demos gegen Islamismus wird man diese Leute wohl nicht treffen. Auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz wird sie kaum interessieren, obwohl hier ebenfalls von Behördenversagen die Rede ist. Ihr „Kampf gegen Islamismus“ wird ein völkischer sein, oder er wird nicht stattfinden.

Dass der Jahrestag von Hanau als Anlass genutzt wird, um ein Leid gegen das andere auszuspielen und vom Trauern abzulenken, ist unerträglich. Beide Anschläge waren ein Angriff auf die Gesellschaft. Sie geht in Shisha-Bars und Kiosken und auf Weihnachtsmärkte. Wer nur letzteren Ort als ihr Symbol wahrnimmt, ist Teil ihres Versagens.

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Hengameh Yaghoobifarah
Mitarbeiter_in
Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Uni Freiburg und in Linköping. Heute arbeitet Yaghoobifarah als Autor_in, Redakteur_in und Referent_in zu Queerness, Feminismus, Antirassismus, Popkultur und Medienästhetik.
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13 Kommentare

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  • 1G
    14390 (Profil gelöscht)

    "Warum wurden die Ermordeten ohne Einverständnis der Angehörigen obduziert?"

    In Deutschland werden Tote, bei denen der Verdacht besteht, daß sie nicht eines natürlichen Todes gestorben sind, (1) nach Antrag der Staatsanwaltschaft auf (2) richterlichen Beschluß hin obduziert; Ausnahmen hiervon sind in § 165 StPO geregelt.



    Hieraus skandalisierend einen Vorwurf gegen die Ermittlungsbehörden zu konstruieren, ist unredlich.

  • "Warum wurden die Ermordeten ohne Einverständnis der Angehörigen obduziert?"Was wäre die Alternative?



    Hätte die die Staatsanwaltschaft bei diesen Ermittlungen (hier Tötungsdelikt, nicht Schwarzfahren) wirklich warten sollen, bis Angehörige einer Obduktion zugestimmt haben?



    Und wenn sie nicht zugestimmt hätten, diesen Teil der Ermittlungen dann unterlassen sollen?



    Der vermeintliche Totschläger / Mörder könnte dann behaupten (keine Ironie), die Getöteten seien mit und nicht an den Projektilen gestorben. Oder auch Letztere wären aus einer anderen Waffe eines (unbekannten) Dritten abgefeuert worden ...



    Und da in einem Rechtsstaat (sinnvollerweise) im Zweifel für den Angeklagte gilt. ...

    Fazit: Man tut den Betroffenen keine Gefallen, wenn man jede ihrer (in Trauer, ..., Wut) geäußerten Fragen wiederholt. So manche ist einfach offensichtlicher (aber leicht zu entschuldigender) Quatsch.

    Übrigens: Solche ungefragten weil staatsanwaltschaftlich angeordneten Obduktionen finden (manchmal) auch an Omis statt, die nach einem Sturz im eigenen Haus gestorben sind. Die meisten Angehörigen sind nicht davon erfreut. Aber manche finden es dann doch gut, wenn am Ende amtlich bestätigt wird: Kein Hinweis auf Fremdverschulden.



    Denn das baut so manchen (üblen) Nachbarschaftsgerüchten vor.

     

  • Mit Verlaub, in D werden ALLE Mordopfer obduziert, ohne die Angehörigen zu fragen. Das ist Usus - warum sollte es bei den Opfern von Hanau denn anders sein?



    Hätte man sie nicht obduziert, würde den Ermittlern Schlamperei vorgeworfen.

    • @Holger Steinebach:

      Die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz haben für die ungefragte Obduktion auch noch eine Rechnung bekommen. Es ist kein gegeneinander Aufrechnen im Zusammenhang mit Hanau auch auf die extrem empathielose bis zynische Reaktion der deutschen Gesellschaft auf den Anschlag am Breitscheidplatz zu erinnern.

  • Anzumerken bleibt, dass die Anschläge nicht nur durch Behördenversagen, sondern auch durch eine konstante Bevorzugung rechter bzw reaktionärer Politik durch Gesellschaft und Politik möglich waren. Dieses Problem gibt es seit Jahrzehnten in Deutschland, auch mit Auswirkungen in Länder des Nahen Ostens. Stichwort Waffenexport zum Beispiel.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @aujau:

      Liest wahrscheinlich eh keiner mehr: aber ich gebe Ihnen recht. Dazu möchte ich anmerken, hie nicht so relevant: aber, wir haben ein riesiges Problem Wissen und Information an den 'Mann' zu bringen. "Mehr als eine 1-zeilige Headline, nur mit halbnackten Frauen/Männern passt nicht in mein Partyschädel".

  • Hab ich nicht so wahrgenommen, dass da was gegeneinander ausgespielt oder aufgewogen wird. Allerdings habe ich doch den Eindruck, dass mit zunehmender Gefahr terroristischer Anschläge die Aufmerksamkeit bei Sicherheitsbehörden höher ist - und das wurde auch Zeit. Das es dabei noch Mängel gibt, darauf weist Peter Neumann hin ( taz- artikel). Die Polizei hat offenbar auch Nachholbedarf im Umgang mit den Opfern. Dafür müsste (besser?) ausgebildet werden. Ich habe den Eindruck das geschieht nicht.

  • Danke Frau Yaghoobifarah,



    das Ausspielen gegen einander Verharmlost die Gewalt und lenkt auch, durch die Betonung der angeblichen unterschiedlichen Arten von Terror, von den auffälligen Ähnlichkeiten hinter diesem Gewalt ab.



    Auf beiden Seiten finden sich leider eine erdrückende Überzahl an Täter gegenüber eine sehr geringe Anzahl Täterinnen.



    Auf beiden seiten sind Anzeichen dafür da, das Terror ein Mittel zur verteidigung patriarchaler Machtdominanz ist, und dafür, dass sich mehrheitlich Männer dafür einsetzen.



    Das muss nicht so bleiben: Ich habe gerade auf Empfehlung der TAZ das echt tolle Buch "Sei kein Mann" von JJ Bola gelesen: taz.de/JJ-Bola-ueb...lichkeit/!5722023/



    Er zeigt, dass Männlichkeiten viel mehr und besser können, als sich als Diener patriarchaler Dominanz und Hierarchien zu opfern. Lies mal!

    • @Nilsson Samuelsson:

      Diese Verbindung - wieviel rechter Terror und ebenso Islamismus mit destruktiven Vorstellungen von Männlichkeit zu tun hat, wird noch viel zu wenig gesehen.

      Es muss z.B. auch möglich sein, kulturell vermittelte, archaisch-patriarchal geprägte Männlichkeitsrollen zu kritisieren, ohne, dass sofort der Rassismus-Reflex einsetzt.

      • @cazzimma:

        Man könnte auch einmal einen Blick auf die Wirkung weiblicher Stereotype auf archaische Gedankenmuster und Gesellschaft haben. Ich kenne da manche, die haben sicher keinen minderen toxischen Einfluss.

        • @Hampelstielz:

          Da haben Sie einerseits Recht , das ist recht bedenklich -

          aber andererseits hat die toxische Männlichkeit weltweit ein kaum verstandesgemäß erfassbares Gewaltpotential zur Folge. Überall, in allen Kulturen, weltweit.

  • Auch ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau gibt es mehr offene Fragen, als Antworten. Trotz vieler warmer Worte mangelt es - wie praktisch immer bei rechten Terroranschlägen in Deutschland - am behördlichen Aufklärungswillen. Wenn ich mich nicht sehr irre, nennt man sowas woanders wohl „staatlich geduldeten Terror“.

  • Zustimmung bis auf einen Satz - wann genau finden die linken Demos gegen Islamismus statt? Ist es nicht vielmehr so, dass sehr viele Linke Angst haben, in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie sich gegen Islamismus stellen, ohne im selben Zug rechte Gewalt zu thematisieren?