Ein Jahr nach Schiffsunglück in Italien: Erinnern an Cutro
Im Februar 2023 kenterte ein Flüchtlingsboot vor Italien, fast 100 Menschen starben. Der Jahrestag könnte zur Abrechnung mit der Regierung werden.
A uf einen traurigen Jahrestag bereitet sich Italien vor. In der Nacht auf den 26. Februar 2023 kenterte ein Flüchtlingsschiff mit mehr als 180 Menschen direkt vor der kalabrischen Küste, vor dem Ort Cutro im Süden Italiens. Jetzt werden die Gedenkfeiern vorbereitet – allerdings ohne die stramm rechte Regierung unter Giorgia Meloni. Die nämlich tut, als gehe sie die Katastrophe von Cutro nichts an, wie im Vorfeld des Jahrestags Vincenzo Voce anmerkte, der Bürgermeister der bei Cutro gelegenen Provinzhauptstadt Crotone: „Als die Regierung damals nach Cutro kam, hat sie nicht einmal Blumen auf den Särgen abgelegt. Die Wahrheit ist, dass niemand sie [die Opfer] am Strand erwartete, um sie zu retten.“
Am Sonntag wird die Chefin des gemäßigt linken Partito Democratico, Elly Schlein, anders als Meloni nach Cutro zum Gedenkakt fahren. Die Oppositionsführerin beklagt, dass „wir bisher keinerlei Antwort von der Regierung erhalten haben“.
Mindestens 94 Menschen fanden vor einem Jahr den Tod. Außerdem wurden mindestens zwölf Vermisste gezählt und nur 81 Gerettete. Die Flüchtlinge starben, weil Italiens Behörden damals wegschauten.
Schon am Tag zuvor hatte ein Frontex-Flugzeug das Schiff gemeldet. Am Abend schickte die Finanzpolizei ein Patrouillenboot raus, rief es aber wegen schweren Seegangs zurück. Auch die für Seenotrettung verantwortliche Küstenwache fühlte sich nicht zuständig: In den Stunden, bevor das Schiff kenterte, gab es zwischen Finanzpolizei und Küstenwache keinerlei Kommunikation. Deshalb müssen jetzt diverse Angestellte beider Behörden mit einem Strafprozess rechnen.
Statt sich zu erklären, nahm Innenminister Matteo Piantedosi die Tragödie zum Anlass, das „Dekret Cutro“ durchzusetzen und die Daumenschrauben für Flüchtlinge weiter anzuziehen, zum Beispiel mit der Errichtung von Abschiebezentren, demnächst auch in Albanien, und der Einschränkung der Möglichkeit, humanitären Schutz zu erhalten. Vor allem hat die Regierung in den letzten zwölf Monaten ihren Feldzug gegen die in der Seenotrettung tätigen NGOs fortgesetzt. Schließlich hatte Meloni im Wahlkampf 2022 versprochen, die Flüchtlingszahlen zu senken, doch 2023 kamen mit 157.000 Menschen so viele wie seit 2016 nicht mehr. Was Piantedosi verschweigt: Nicht einmal 9.000 wurden von NGO-Schiffen gerettet, also nur knapp 6 Prozent.
Piantedosi macht gemeinsame Sache mit der libyschen Küstenwache. So wurde ausgerechnet im Vorfeld des Jahrestags das Rettungsschiff „Ocean Viking“ für 20 Tage an die Kette gelegt, weil die Crew Anweisungen der libyschen Küstenwache nicht befolgt haben soll – in internationalen Gewässern wohlgemerkt, aus denen libysche Patrouillenboote die von der „Ocean Viking“ Geretteten nach Libyen zurückschaffen wollten.
Die NGOs haben deshalb zum Jahrestag mit einer Erklärung reagiert, in der sie die Regierung auffordern, „die Behinderung unserer lebensrettenden Arbeit unverzüglich zu beenden“. Indirekt Unterstützung erhielten sie durch das Kassationsgericht in Rom – den höchsten Gerichtshof Italiens –, das letzte Woche die Verurteilung eines Kapitäns zu einem Jahr Haft auf Bewährung bestätigt hatte. Dieser hatte 101 Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet, sie dann aber nach Libyen zurückgeschafft. Er und Piantedosi mussten sich jetzt vom Gericht sagen lassen, dass Libyen wegen der dortigen systematischen Menschenrechtsverletzungen „kein sicherer Hafen“ ist.
Den Innenminister ficht das nicht an. Er erwiderte, er habe nie die Rückschaffung von Migrant*innen verlangt. Verlangt hatte er bloß, dass die NGOs den Libyern die Rückschaffung erlauben. Eine Reise nach Cutro plant Piantedosi nicht, anders als womöglich Tausende Bürger*innen. Sie wollen bis Montag der Opfer gedenken – auf etlichen Veranstaltungen, die zu einer Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik der Regierung werden dürften.
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