Ein Jahr nach Hanau: Eine verheerende Bilanz
Die Bedrohung migrantisierter Menschen werde weiter nicht anerkannt, klagt das Berliner Bündnis Hanau-Gedenken ein Jahr nach den rassistischen Morden.
Am Freitag wird an drei Orten coronakonform der Opfer und Hinterbliebenen der Morde gedacht. Um 16 Uhr in Kreuzberg/Oranienplatz, in Neukölln am Rathaus, in Wedding am Leopoldplatz.
Am Samstag gibt es ab 14 Uhr eine Demo vom S-Bahnhof Hermannstraße zum Oranienplatz.
Im Bündnis Hanau-Gedenken sind: Migrantifa Berlin, Aktionsbündnis Antirassismus, Kein Generalverdacht, Roma Trial e. V., Young Struggle, We’ll Come United. (sum)
Rechter Terror und Netzwerke würden politisch und polizeilich nicht konsequent angegangen, bundesweit besäßen rund 1.200 Rechtsradikale legal Waffen. Große Teile der Gesellschaft würden Rassismus weiterhin als außerdeutsches Problem ansehen, wie die Debatte über die Black-Lifes-Matter-Proteste gezeigt hätte. „Die permanente Bedrohungslage, in der sich migrantisierte Menschen in Deutschland sehen, wird weiterhin nicht anerkannt“, so Malik.
In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 ermordete der polizeilich schon länger auffällige Tobias Rathjen in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen: Gökhan Gültekin, 37, Sedat Gürbüz, 30, Said Nesar Hashemi, 21, Mercedes Kierpacz, 35, Hamza Kurtović, 22, Vili Viorel Păun, 23, Fatih Saraçoğlu, 34, Ferhat Unvar, 22, Kaloyan Velkov, 33. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst.
Die Tat löste eine erneute bundesweite Debatte über Kontinuität und Allgegenwart von Rassismus hierzulande aus, in vielen Städten, so auch in Berlin, gründeten antifaschistisch orientierte Migrant*innen sowie People of Colour Migrantifa-Gruppen. Zum Jahrestag der Morde organisiert Migrantifa Berlin zusammen mit RomaTrial, dem Aktionsbündnis Antirassismus, den Initiativen Kein Generalverdacht und Young Struggle, die sich zum Bündnis Hanau-Gedenken zusammengeschlossen haben, an diesem Freitag drei Gedenkveranstaltungen und am Samstag eine Demo.
Mehr Gesetze und Definitionen
Der Grünen-Politiker Sebastian Walter, im Abgeordnetenhaus zuständig für Antidiskriminierung, sieht die Versäumnisse naturgemäß auf Bundesebene. Aber auch er fordert grundsätzliche und strukturelle Veränderungen, etwa ein „starkes und scharfes“ Antidiskriminierungsgesetz auf Bundesebene, ein Bundespartizipationsgesetz sowie einheitliche Definitionen von Rassismus und Diskriminierung.
Die Berliner Landespolitik sei da schon weiter, lobt er die Arbeit von R2G: Mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz, dem Diversity-Landesprogramm oder den Gesamtstrategien gegen Antisemitismus oder LSBTIQ-Feindlichkeit „versuchen wir, Ausgrenzungen strukturell anzugehen“. Zudem habe man die finanzielle Unterstützung für Antidiskriminierungsprojekte verdreifacht und die Beratungsstruktur massiv ausgeweitet.
Doch auch für Hamze Bytyci von RomaTrial ist die Bilanz ein Jahr nach Hanau insgesamt „verheerend“, von erwachendem „antirassistischem Bewusstsein“ sei nichts zu spüren. „Stattdessen mussten wir zusehen, wie die Politik das Denkmal für die ermordeten Sinti* und Roma* wegen des Baus einer S-Bahn zur Disposition stellt, als wäre es eine Brache, die selbstverständlich bebaut werden kann“, sagte er der taz.
Im Mai war bekannt geworden, dass die Bahn für den Bau der S-21-Bahntrasse das Denkmal für die im NS ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten verlegen lassen will. Erst nach Protesten zeigte man sich zu Gesprächen über Alternativrouten bereit, das Thema ist noch nicht vom Tisch.
Von der Landespolitik fordert Bytyci, sich bei der Bahn für den Erhalt des Denkmals einzusetzen. Auch müsse Berlin seine „unmenschliche Abschiebepolitik“ – derzeit vor allem nach Moldawien – beenden. „Vor allem Roma haben dort keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben, flüchten vor der kumulativen Diskriminierung nach Deutschland – wo dann ihre Menschenrechte weiter missachtet werden.“
Migrantisierte Orte
Konkrete Forderungen für die Landespolitik hat auch das Bündnis Hanau-Gedenken. Malik von Migrantifa nennt als Erstes die Abschaffung der sogenannten gefährlichen – kriminalitätbelasteten – Orte mit ihren Sonderbefugnissen für die Polizei. „Wenn migrantisierte Orte wie zum Beispiel das Kottbusser Tor so markiert und genutzt werden, um anlasslose Kontrollen durchzuführen, zeigt sich der strukturelle Rassismus, etwa in Form von Racial Profiling.“
Zudem fordert die Gruppe die Abschaffung von hochgerüsteten Polizeirazzien, insbesondere in Neuköllner Geschäften wie etwa Shishabars. Damit würden „migrantisierte Menschen“ polizeilich unter Generalverdacht gestellt. „Das hat auch gesamtgesellschaftliche Auswirkungen – die Mehrheitsgesellschaft denkt, Migrant:innen seien kriminell oder gefährdeten den Status quo.“
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