Schwarz übermalter Graffiti

Schwarz übermalter Graffiti gegen die Regierung, Teheran 11.9. 23 Foto: Vahid Salemi/ap

Ein Jahr „Jina-Revolution“ in Iran:„Es gibt kein Zurück mehr“

Der Tod von Jina Mahsa Amini vor einem Jahr hat in Iran eine Bewegung losgetreten. Vier Ira­ne­r*in­nen erzählen, wie es ihnen seither ergangen ist.

13.9.2023, 18:49  Uhr

Jina Mahsa Amini starb infolge ihrer Festnahme durch die iranische Sittenpolizei, die sie wegen eines angeblichen Verstoßes am 13. September 2022 festgenommen hatte. Der gewaltsame Tod der 23-jährigen Kurdin löste eine landesweite Proteswelle aus, mit der sich weltweit Menschen solidarisierten. Die taz hat die Gedanken von vier Ira­ne­r*in­nen protokolliert. Sie alle eint die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Mona*, 30, Lehrerin aus Teheran

Wenn der Kalender den 16. September erreicht, wird es ein Jahr sein, seit nichts mehr so war wie vorher. Es war der 13. September 2022, und ich war mit meinen Freun­d*in­nen auf Reisen. In den sozialen Medien las ich die Nachricht von einem jungen Mädchen, das ins Koma gefallen war.

„Mahsa (Jina) Amini“ wurde in Teheran von der Sittenpolizei wegen Nichttragens eines Hidschabs festgenommen und einige Stunden später aufgrund eines Schädelbruchs ins Koma versetzt und ins Kasra-Krankenhaus in Teheran gebracht. Während meiner Reise verfolgte ich Jinas Zustand drei Tage lang ununterbrochen und kehrte schließlich am 16. September nach Teheran zurück, als mich die Nachricht von ihrem Tod erreichte.

Am 17. September ging ich mit meinen Freun­d*in­nen auf die Straße. Wir protestierten gegen die Tötung von Jina Amini durch die Regierung, während wir „Frau, Leben, Freiheit“ skandierten. Ich werde diesen glorreichen Tag nie vergessen. Die Anzahl der Menschen, die ohne vorherige Absprache und ohne Aufruf auf die Straße gekommen waren, war so groß, dass uns Tränen der Begeisterung in die Augen schossen.

Von diesem Tag an wurden die Straßen der iranischen Städte zu einem Ort, wo wir das neu geborene Ritual des „Schalverbrennens“ zelebrierten. Ich sah mutige Mädchen und Frauen, die neben Jungen und Männern standen und ihre Rechte einforderten. Ich erinnere mich an die Sonne, die auf ihr schönes Haar schien. Ich sah sie, wie sie die Hidschabs anzündeten. Ich erlebte die ersten Erschütterungen an der Festung der Unterdrückung des Revolutionsführers Seyyed Ali Chamenei.

100 Jahre sind seither vergangen

Von diesem Tag bis heute war ich überall dabei, wo sich Menschen versammelten, um zu protestieren. Ich verbrannte meinen Schal. Ich ließ mein Haar frei und forderte mein Recht auf den Straßen ein.

Jetzt ist ein Jahr seit dem Tod von Jina Mahsa Amini vergangen. Für die Menschen auf der Welt, für Aktivistinnen und Feministinnen überall, für westliche Diplomaten, für alle UN-Mitglieder, ist es nur ein Jahr seit Jina Mahsa Aminis Tod, aber für die Menschen im Iran fühlte sich dieses eine Jahr psychologisch und emotional wie hundert Jahre an. Hundert Jahre seit dem Tag, an dem Frauen und Männer im Iran beschlossen, frei zu leben. Hundert Jahre seit dem Tag, an dem Frauen im Iran keinen Zwangshidschab mehr tragen.

Von jenem Tag an, als Jina Mahsa Amini von den Agenten der Islamischen Republik getötet wurde, bis heute haben wir, die Menschen im Iran, jeden Tag um die Ermordung von einer der unsrigen getrauert. Wir trauern um junge Mädchen und Jungen, die für ihre grundlegendsten Rechte auf die Straße gingen und auf den Straßen und in den Gefängnissen auf schrecklichste Weise getötet wurden.

Wir begannen in diesem Jahr jeden Tag mit Nachrichten vom Tod unserer Landsleute und wachten jede Nacht mit der Angst vor Hinrichtung und Tötung unserer Lieben auf. Wir gingen zu den Protesten, wo unsere Körper mit Schlagstöcken verletzt wurden; und viele von uns mussten sich immer wieder lange verstecken und konnten nicht nach Hause gehen, weil wir von Regimeagenten identifiziert wurden. Wir verloren unsere Ausbildungs- und Arbeitsplätze, aber wir hatten Hoffnung, wir haben Hoffnung, und wir haben unsere Hoffnung nie verloren, und wir werden sie nicht verlieren.

Die Straße ist voller Frauen

Ein Jahr ist vergangen, und noch immer werden jeden Tag Menschen im Iran wegen Protesten gegen die Islamische Republik inhaftiert und getötet. Die Islamische Republik hat den Hidschab und misogyne Gesetze 44 Jahre lang als Druckmittel benutzt, um ihre finsteren Ziele zu erreichen, und heute ist sie in einer Position der Schwäche, weil die Frauen ihre Gesetze nicht mehr befolgen.

Ich bin eine Frau und gehe jeden Tag ohne Hidschab auf die Straße. Jeden Tag trete ich mit einem Gefühl von Angst, Bedrohung, Macht und Hoffnung auf die Straße, und jeden Tag sehe ich auf der Straße Frauen, die trotz aller Drohungen der Islamischen Republik ohne Hidschab auf den Straßen sind. Wenn wir ohne den Zwangshidschab in unseren Autos sind, konfisziert die Regierung der Islamischen Republik unsere Autos, annulliert unsere Führerscheine und verbietet uns die Ausreise aus dem Land.

Dennoch ist die Stadt voller Frauen, die ohne Zwangshidschab in ihren Autos fahren. Frauen, die keinen Hidschab tragen, werden von ihren Jobs entlassen, und öffentliche Orte, die Frauen ohne Hidschab Eintritt gewähren, werden geschlossen und versiegelt. Die Sittenpolizei hat ihre Aktivitäten wieder aufgenommen – und trotzdem verlassen Frauen ihr Zuhause jeden Tag ohne Hidschab.

Die Ablehnung des Verschleierungszwangs durch Frauen und die Tatsache, dass diese Frauen von Männern unterstützt werden, ist die größte Errungenschaft der Revolution von Jina. Ein weiterer der großen Erfolge dieser revolutionären Bewegung ist, dass endlich auch die Stimmen von Frauen gehört werden, die in benachteiligten Gebieten wie Sistan und Belutschistan leben. Frauen, die vor der Revolution von Jina nie protestiert hatten, und die immer ignoriert wurden, stehen seit einem Jahr jede Woche nach dem Freitagsgebet neben den Männern und verlangen nach Freiheit.

Wir haben Hoffnung – und Angst

Während wir uns dem Jahrestag von Jina Mahsa Amini nähern, werden Personen, die bei den Protesten festgenommen und gegen Kaution freigelassen wurden, erneut vor Gericht gebracht. Viele von ihnen wurden erneut festgenommen und ins Gefängnis zurückgebracht. Familienmitglieder der Opfer, die während dieses Jahres von den Kräften der Islamischen Republik drangsaliert und misshandelt wurden, werden vor dem Jahrestag ebenfalls wieder inhaftiert.

Mona* ist Lehrerin in Teheran

„Wir begannen in diesem Jahr jeden Tag mit Nachrichten vom Tod unserer Landsleute und wachten jede Nacht mit der Angst vor Hinrichtung und Tötung unserer Lieben auf“

Das Internet im Iran ist wie in den ersten Tagen dieser revolutionären Bewegung gestört. Wir, die Menschen im Iran, sind hoffnungsvoll, aber wir haben auch viel Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor Folter und Tötung und Hinrichtung.

Ein Jahr nach Mahsa Jina Aminis Tod wurde keine einzige Person, die während dieser Proteste Menschen getötet hat, identifiziert und vor Gericht gestellt. Im Iran gibt es keine Sicherheit.

Zu Beginn dieser revolutionären Bewegung standen alle westlichen Länder und die Vereinten Nationen an unserer Seite; wir fühlten uns durch ihre Unterstützung ermutigt und setzten unsere Proteste fort.

Hohle Versprechen des Westens

Mit der Zeit sahen wir, dass alle Versprechen der westlichen Länder und der Vereinten Nationen hohl waren. Es gab keine Unterstützung und es wurde keine Wahrheitsfindungskommission gebildet. Weiterhin laden die Führer der westlichen Länder die Vertreter der Islamischen Republik zu offiziellen Treffen ein und geben ihnen die Hand, und noch immer werden unschuldige Menschen im Iran von den Agenten der Islamischen Republik getötet.

Wir, die Menschen im Iran, wissen heute, nach einem Jahr, dass die westlichen Länder uns nicht helfen werden. Unsere einzige Bitte an diese Staaten ist, dass sie, wenn sie uns schon nicht helfen, nicht auch noch die Mörder nicht unterstützen sollen.

Wir werden nicht zurückgehen. Für die Freiheit, im Namen von „Frau, Leben, Freiheit.“

Übersetzung: Gilda Sahebi

Daikato*, 34, Aktivist* aus Shiraz

Eine der wichtigsten Veränderungen, die ich während der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung in Iran erlebt habe, ist, dass der große Unmut der Menschen über die Zivilgesellschaft durch eine große Hoffnung ersetzt wurde. Ich selbst wollte letztes Jahr schon aus dem Iran auswandern. Ich war enttäuscht von der iranischen Gesellschaft. Ich habe so oft gedacht: Hier ist weder eine Heimat für mich noch sind die Menschen hier meine Leute.

Aber all das wurde durch die Parole „Frau Leben Freiheit“ vor allem von Jugendlichen auf den Straßen Irans weggeblasen. Iran wurde zu meiner Heimat und Ira­ne­r*in­nen wurden meine Leute.

Jetzt, ein Jahr nach der „Jina-Revolution“, hat sich einiges verändert. Einer meiner Freunde sagte mir: „Das Andere in der Gesellschaft wurde durch diese Bewegung sichtbar und anerkannt.“ Ein anderer Freund sagte: „Ich habe jetzt ein stärkeres gesellschaftliches und politisches Bewusstsein.“ Ein anderer sagte: „Jetzt weiß ich mehr über Minderheiten. Ethnische Minderheiten und Genderminderheiten. Queerfeindlichkeit wurde durch diese Bewegung weniger.“

Daikato* ist non-binär und setzt sich für Genderminderheiten ein

„Frauen sind sichtbarer und deutlich sicherer. Vorher hat man nach 23 Uhr keine Frau ohne männlichen Begleiter in den Dörfern gesehen. Jetzt sieht man sie, wie sie Besorgungen machen, Schischa rauchen und Brot verkaufen, auch spätabends, ohne dass sich die Männer verpflichtet fühlen, sie zu beschützen“

Viele haben sich verändert und diese Veränderungen zeigen sich nicht nur in den Metropolen. Auch in Dörfern in den südlichsten Teilen Irans erlebt man das. Frauen sind sichtbarer und deutlich sicherer. Vor der Bewegung hat man nach 23 Uhr keine Frau ohne männlichen Begleiter in den Dörfern gesehen. Jetzt sieht man sie, wie sie Besorgungen machen, Schischa rauchen und Brot verkaufen, auch spätabends, ohne dass sich die Männer verpflichtet fühlen, sie zu beschützen.

Das Wichtigste ist aber, dass wir üben, in Freiheit zu leben. Das Gefühl ist einzigartig. Die Repressionen sind zwar intensiver geworden, aber sie werden von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert. Wir warten nur auf den richtigen Moment – und dann explodiert es wieder.

Protokoll: Mina Khani

Farhad*, 53, Anwalt aus Isfahan

Das Wichtigste für mich sind meine Gesundheit und die meiner Familie. Ich habe eine 22-jährige Tochter, die in Teheran studiert, ich selbst wohne mit meiner Frau in Isfahan und arbeite hauptsächlich, um das Studium meiner Tochter zu finanzieren. Als Anwalt bin ich es gewohnt, mich mit den Sorgen der Menschen zu befassen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber im letzten Jahr habe ich mich sehr ohnmächtig gefühlt. Fast alle Sorgen der Menschen haben mit der Regierung zu tun, ob wegen der schlechten Wirtschaft oder der islamischen Sittengesetze.

Mit Straßenprotesten haben wir nichts zu tun gehabt. Aber das Chaos in dieser Zeit trifft jeden. Meiner Frau ist am Steuer mehrmals das Kopftuch heruntergerutscht, sofort wurde sie von den Kameras (mit Gesichtserkennung), die überall im Land aufgestellt wurden, geblitzt und per SMS verwarnt. Wenn das noch einmal passiert, drohen uns die Beschlagnahmung des Autos und hohe Geldstrafen.

Dieser Stress gehört zu unserem Alltag, aber normal ist es deshalb noch lange nicht. Die Wirtschaft und die Unterdrückung werden gefühlt mit jedem Tag schlimmer, ich weiß nicht, wie lange das noch so weitergehen kann. Meine Tochter will nach dem Studium nach Wien ziehen. Früher haben mich ihre Auswanderungspläne traurig gemacht, aber mittlerweile wünsche ich ihr, dass sie das Land so bald wie möglich verlässt und in Sicherheit leben kann.

Persönlich wünsche ich mir für die Zukunft Irans, dass die Menschen es schaffen, ihr Problem mit der Regierung selbst zu lösen, ohne dass sich ausländische Mächte einmischen. Wann immer ausländische Mächte in Iran ihre Hand im Spiel hatten, ist alles nur noch schlimmer geworden. Wir brauchen keine Hilfe, uns reicht es, wenn der Westen aufhört, mit unseren Peinigern Geschäfte zu machen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Protokoll: Teseo La Marca

Ali*, Musiker aus Shahinshahr

Es geht mir im Moment sehr schlecht. Das bedeutet aber nicht, dass ich keine Hoffnung habe. Eigentlich ist es genau andersherum. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist die Hoffnung. Und so geht es der gesamten Gesellschaft, so scheint es mir zumindest. Uns geht es schlecht. Der Druck ist zu hoch. Wir haben so viele Opfer gebracht, aber der Opposition außerhalb Irans waren ihre Streitereien wichtiger als wir. Für uns hier sind die Konsequenzen sehr hart.

Ali* ist ein bekannter Musiker

„Ich habe festgestellt, dass ich nicht allein bin. Wichtiger: Viele sind bereit, genau wie ich, ihr Leben dafür zu opfern, damit wir für Iran in Zukunft Freiheit und Veränderung bringen“

Was sich im positiven Sinne aber in Iran für mich geändert hat, ist, dass ich festgestellt habe, dass ich nicht allein bin. Meine Ziele sind die Ziele vieler anderer. Wichtiger: Viele sind bereit, genau wie ich, ihr Leben dafür zu opfern, damit wir für Iran in Zukunft Freiheit und Veränderung bringen. Das ist so schön für mich. Die Menschen sind mutiger geworden. In den letzten Monaten sah man, dass viele, von Jung bis Alt, auf einmal keine Angst mehr hatten. Menschen wurden bewusster, aufgeklärter als in all den vorigen Jahren. Aber natürlich gibt es Teile der Bevölkerung, die man noch abholen muss.

Eine große Veränderung, die überall zu sehen ist, ist, dass Frauen einfach das tragen, was sie wollen. In dieser Hinsicht gibt es kein Zurück mehr. Es gibt nur vorwärts.

Ich erwarte von europäischen Ländern auch jetzt nicht viel. Ich weiß, dass für sie ihre eigenen Interessen an erster Stelle stehen, dass sie wichtig sind. Das ist normal, aber ich hoffe sehr, dass sie uns nicht nur als Fremde wahrnehmen. Die Islamische Republik ist eine Gefahr für die ganze Welt.

Protokoll: Mina Khani

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