Ein Jahr Fälscher-Skandal beim „Spiegel“: Relotius' verbrannte Erde
Genau vor einem Jahr wurde der Fälschungsskandal beim „Spiegel“ bekannt. Welche Lehren man aus dem Fall heute ziehen muss.
Ein Jahr ist es her, da lud der Spiegel in Hamburg aus heiterem Himmel zu einem Pressegespräch. Und während die Medienjournalist*innen noch dorthin stapften, wo sie erfahren sollten, dass der Spiegel einen Geschichtenfälscher in den eigenen Reihen enttarnt hatte, bereitete der Hamburger Verlag bereits seinen eigenen Dreh zu der Affäre vor.
Seither ist viel passiert. Es gab nicht nur eine schmerzhafte Aufarbeitung beim Spiegel, sondern auch eine Nabelschau des Journalismus allgemein. Hängen wir zu sehr dem schönen Geschreibe an, lassen wir uns zu sehr blenden von dem was sein könnte anstatt fleißig zu prüfen, was ist?
Zugegeben, es ist auch viel übertrieben worden im letzten Jahr. Jede Unsauberkeit, jeder Mist, den irgendwo ein Journalist*in baute, war plötzlich ein „Relotius“-Fall. Der Skandal verunsicherte und reizte teils zu übertriebenem Misstrauen. Aber einiges hat der Fall die Medienbranche dann doch gelehrt.
Lektion 1: Starreporter gehören nicht ins Ausland
Die Auslandsberichterstattung in Deutschland hat so einige Schwächen, wenn nicht sogar ein gewaltiges Problem. Auch dieses existiert nicht erst seit Claas Relotius, es ist durch ihn nur noch mal deutlicher geworden.
In den vergangenen Jahren wurde der Auslandsjournalismus immer stärker ausgedünnt, Korrespondent*innen aus Verträgen entlassen und Berichtsgebiete zusammengelegt. Die wenigsten Häuser leisten sich heute noch eine kontinuierliche Berichterstattung aus dem Ausland. Und wenn doch, erwarten die Heimatredaktionen oft große Geschichten und Reportagen, die zwar am Schreibtisch ausgedacht funktionieren, nie aber die Realität abbilden.
Beispielhaft dafür steht die Entstehung der Reportage „Jaegers Grenze“, die Relotius gemeinsam mit dem Reporter Juan Moreno, der ihn später der Lüge überführte, geschrieben hat. In einer Mail von Matthias Geyer, die er damals noch in seiner Funktion als Leiter des Spiegel-Gesellschaftsressorts an Relotius und Moreno schrieb, formulierte dieser präzise, welche Vorstellungen er von der späteren Reportage hat, die aus zwei Perspektiven auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko blicken sollte.
19. Dezember 2018: Der Spiegel gibt bekannt, dass er seinen Starreporter Claas Relotius der systematischen Fälschung überführt hat. Zwei Wochen zuvor hatte Relotius den Reporterpreis gewonnen – für einen Text, den der Spiegel nun als „fantasievolles Machwerk“ bezeichnet. Misstrauisch geworden war Spiegel-Kollege Juan Moreno.
Januar bis Mai 2019: Der Spiegel prüft sich selbst. Eine Kommission untersucht die Strukturen, die zum Skandal geführt haben. Zwei verantwortliche Redakteure aus Relotius‘ Ressort, Ullrich Fichtner und Matthias Geyer, verzichten auf Beförderungen. Überhaupt wirft man dem Ressort „Gesellschaft“ intern mangelnde Kritikfähigkeit vor.
Oktober 2019: Relotius meldet sich zu Wort. Bis dato hatte man von ihm nichts gehört, nun nimmt er in der Zeit Anstoß an dem Buch, das Kollege und Enttarner Juan Moreno über den Spiegel-Skandal geschrieben hat. Moreno verbreite „erhebliche Unwahrheiten und Falschdarstellungen“, wird Relotius zitiert. Die beiden befinden sich im Rechtsstreit.
Geyers Ausführungen lesen sich wie das Drehbuch zu einem Film. Es ist die Rede von Figuren, die man für einen Konflikt sucht. „Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres“, schrieb Geyer noch am Ende seiner Mail. Und ja, „Jaegers Grenze“ wurde ein gefeierter Text. Journalistisch aber, das weiß man heute, war er nicht.
Die Auslandsreportagen von Claas Relotius stehen also auch für einen Fehler im System, und dieser Fehler liegt in den deutschen Redaktionen selbst. Sie sind es, die statt in erfahrene Korrespondent*innen zu investieren, die mit Sprach- und Ortskenntnissen ausgestattet sind, lieber renommierte, dafür aber unwissende Starreporter ins Ausland schicken.
In deren Reportagen finden sich deshalb nicht selten Stereotype, unnötige Zuspitzungen, Ungenauigkeiten. Vermeiden lässt sich dieses Problem nur durch das Investieren in Korrespondent*innen, engere Zusammenarbeit mit Übersetzer*innen und Expert*innen von dort. Damit die Geschichte aus dem Ort des Geschehens heraus- und nicht in ihn hineingetragen wird.
Lektion 2: Die Reportage ist in Nöten
…aber nicht erst seit Relotius.
Die Reportage, das ist eine altehrwürdige journalistische Form. Die subjektive Wiedergabe eines einzelnen Ereignisses. Nur ein Moment, nur ein Ort und meistens nur eine Protagonist*in. Wer Reportagen schreibt, ist dem Schicksal ausgeliefert, kann nur beschreiben, was wirklich passiert. Genau deshalb hat diese Form seit jeher so eine besondere Anziehungskraft. Die Reporter*in bringt einen Moment nach Hause, der durch niemanden reproduziert werden kann.
Der Nachteil: Niemand kann je 100-prozentig nachprüfen, was im Text steht. Bei vielen Angaben muss sich die Redaktion auf die Autor*in verlassen. Aber genau hier wurde Relotius erfinderisch. Weil ihm, so ist zu vermuten, die Momente, die er berichten wollte, nicht magisch genug waren. Und weil am anderen Ende Verlag und Redaktion nach immer magischeren Geschichten hungerten.
Die Reportage hat es also schwer, seit Relotius. Wobei das nicht ganz stimmt, es gibt bereits einen Trend weg von der Momentaufnahme, der schon länger besteht. Seit mehreren Jahren schon, sagt Nannen-Schulleiter Andreas Wolfers, verantwortlich für den Henri-Nannen-Preis, würden bei den Reportagepreisen immer häufiger Texte eingereicht, die weniger Reportage als vielmehr Rekonstruktion sind.
Eine Rekonstruktion ist anders als die Reportage eine Form, die nicht ausschließlich vor Ort stattfindet, sondern sich alle Zeit und Recherchewerkzeuge zunutze macht, um ein Ereignis oder eine Entwicklung nachzuerzählen. Streng genommen muss man dafür nicht mal vor Ort sein. „Die Rekonstruktion ist keineswegs eine schlechtere Form“, sagt Wolfers. „Schade ist, dass dadurch die klassische Reportage, also ein Text darüber, was die Reporterin selbst erlebt hat, ein bisschen unter die Räder gerät.“
Warum diese Form die andere ein Stück verdrängt, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht ist durch soziale Netzwerke das Bedürfnis, via Zeitungsartikel direkt vor Ort zu sein dem Bedürfnis gewichen, exakt und perfekt recherchiert informiert zu werden.
Verschwinden wird die Reportage deswegen aber höchstwahrscheinlich nicht. Durch den Relotius-Fall müssen Reporter*innen aber inzwischen davon ausgehen, dass die Redaktionen Protokolle über die Recherche verlangen. Und dass stichprobenhaft überprüft wird, ob die Reportage plausibel ist.
Lektion 3: Die eigentlichen Reformen stehen noch aus
Im Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius taucht eines immer wieder auf: das Gesellschaftsressort des Spiegel und seine Besonderheiten.
Im Bericht heißt es, das Gesellschaftsressort habe sich von den anderen Ressorts im Haus abgeschottet, die Zusammenarbeit mit anderen und auch eine fachliche Unterstützung abgelehnt. Man sei dort und auch in der Chefredaktion auf Journalistenpreise fixiert gewesen. Hinzu kommt ein Klima im Ressort, das es schier unmöglich machte, Dinge oder gar Kolleg*innen in Frage zu stellen.
Erschreckend liest sich auch, wie unsterblich verliebt man offenbar in Claas Relotius war, wie blind ihm deshalb seine Vorgesetzten vertrauten, selbst dann noch, als die Beweislage gegen ihn eigentlich schon erdrückend war. Was hat man beim Spiegel nach diesem erschütternden Kommissionsbericht also verändert?
Nun, organisatorisch wie personell hat sich einiges getan. Der frühere Leiter des Gesellschaftsressorts Matthias Geyer hatte den Spiegel relativ rasch verlassen, ebenso ein Dokumentar. Seit Ende dieses Jahres existiert das Gesellschaftsressort in seiner alten Form nicht mehr. Es trägt nun den Namen „Reporter“, arbeitet den anderen Ressorts zu und hat somit seine einstigen Privilegien verloren. Geleitet wird „Reporter“ außerdem von Özlem Gezer.
Derzeit erstellen mehrere Arbeitsgruppen intern ein Richtlinienpapier, das „Erzählstandards, Recher-chestandards und Verifikationsregeln“ neu formuliert. Das ist ein Anfang.
Die Kommission formulierte am Ende ihres Berichts mehrere Empfehlungen, um nicht nur die Qualität des Spiegel zu verbessern, sondern auch einen zweiten Relotius-Fall zu verhindern. Ein Teil davon wurde bereits umgesetzt. „Die Kritik- und Fehlerkultur im Haus ist nicht sehr ausgeprägt“, schrieb die Kommission aber auch. Und das gibt zu denken. Ob der Spiegel es schafft das Arbeitsklima und die gewachsenen Strukturen im Haus zu verändern, ist die viel größere Aufgabe. Und die wird Zeit erfordern.
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