Ein Jahr Ampel-Kanzler: „Etwas lauter bitte, Olaf“
Auch nach einem Jahr im Amt bleibt Olaf Scholz für viele schwer greifbar. Das öffentliche Urteil ist verhalten, Koalitionspartner aber sind zufrieden.
W er bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt“, hat Olaf Scholz der taz mal in einem Interview gesagt. Und hinzugefügt: „Das geht natürlich nicht im Alleingang.“ Das war im November 2009 nach seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden der Hamburger SPD. Scholz’ Drohung hatte damals einen Adressaten – die von Intrigen ruinierte Hamburger Sozialdemokratie. Scholz war der Mann, der aufräumen musste. Nüchtern, pragmatisch, auch autoritär.
12 Jahre später, am 8. Dezember 2021, wählte der Bundestag Scholz zum Kanzler. Der Satz wird seitdem viel zitiert, Scholz wird an ihm gemessen. Er soll das Land durch die Zeitenwende führen, als Kanzler der ersten Dreierkoalition auf Bundesebene mit SPD, Grünen und FDP. Er soll den Aufbruch wagen und in der Krise den Status quo sichern. Eine Gratwanderung. Wie macht er das?
Wir haben mit Kolleg:innen aus der Ampelkoalition und mit Menschen gesprochen, die ihn lange auf seinem politischen Weg begleitet haben. Entstanden ist das Bild eines Mannes, der für alles einen Plan zu haben scheint, aber nicht allen verrät, welchen. Der trotz Dauerpräsenz in der Öffentlichkeit schwer greifbar bleibt. Der arrogant auftreten kann, der aber auch zuhört und Fragen stellt. Der stur sein kann bis zur Halsstarrigkeit.
„Er ähnelt in manchem Wolfgang Schäuble. Herr Schäuble weiß auch alles immer ganz genau“, sagt jemand, der mit Scholz am Kabinettstisch sitzt.
Erst Stamokap, dann Law and Order
Scholz kann jedenfalls ebenso herablassend wie Schäuble sein. Als eine Journalistin den Kanzler im Sommer fragt, ob er konkretisieren könne, wie die deutschen Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen, sagt Scholz nur: „Ja, könnte ich.“ Schweigt. „Das war’s.“
Wie Schäuble blickt Scholz auf eine lange Dienstzeit als Politiker zurück: Vom ultralinken Stamokap-Flügel der SPD kommend, hat er sich zum Law-and-Order-Innensenator und Ersten Bürgermeister in Hamburg entwickelt, hat erfolglos versucht, SPD-Vorsitzender zu werden, und es dennoch zum vierten SPD-Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik gebracht.
Vom Menschen Scholz ist wenig bekannt. Er hat zwei jüngere Brüder – der eine Arzt, der andere in der IT-Branche –, lernte seine Frau Britta Ernst in den 80ern bei den Jusos kennen. Sie sei die Liebe seines Lebens. Er kocht gern Königsberger Klopse, rudert und joggt in seiner Freizeit. Er versteht sich ganz gut mit Markus Söder, der ihn mal zurechtgewiesen hat, er solle nicht so schlumpfig grinsen. Überhaupt mag Scholz Schlümpfe, weil sie klein, verschmitzt und clever sind und am Ende immer gewinnen.
Christian Dürr, FDP-Fraktionsvorsitzender
Das alles hat Scholz der Bunten sechs Wochen vor der Bundestagswahl gesagt. Als SPD-Kanzlerkandidat gehört so ein Interview wohl zum Pflichtprogramm. Jedenfalls hat er nach der Wahl nie wieder ein ähnliches gegeben und reagiert auch sonst auf persönliche Fragen ablehnend. Beim Bürgertreffen im Sommer, ein Jahr später in Magdeburg, möchte die Moderatorin wissen, was der Kanzler als Kind werden wollte. Den meisten PolitikerInnen würde jetzt schon etwas einfallen, das sie in freundlichem Licht zeigt. Scholz sagt: „Ich bin 64 Jahre. Ich weiß es nicht mehr.“
Angela Merkel machte ihre Biografie lange fast unsichtbar, weil sie glaubte, als ostdeutsche Frau Widerstand zu mobilisieren. Auch Scholz wirkt ungreifbar. Aber aus einem anderen Grund. Er fremdelt mit Menschen. Ihm fliegen die Sympathien auch nicht zu. Er hat nicht die Fähigkeit, Fremdes durch Offenherzigkeit in Vertrautes, Distanzen in Nähe zu verwandeln. Sein Humor ist mitunter schrullig, viele verstehen ihn nicht. Lars Haider, Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, hat 2021 eine Biografie über den Kanzler geschrieben. Sein Eindruck: „Scholz ist ein zutiefst schüchterner, sehr zurückhaltender Mensch.“
Machtpolitischer Malus
Das ist machtpolitisch ein Malus. Denn mit Charmeoffensiven kann man Vertrauen erneuern, Konflikte besänftigen. Das ist nicht Scholz’ Stärke.
Die Hamburger Grünen sind gebrannte Kinder. Die Scholz-SPD schrammte 2015 knapp an der absoluten Mehrheit vorbei und brauchte die Grünen als Juniorpartner, um das Rathaus zu halten. Die Zweite Bürgermeisterin der Grünen, Katharina Fegebank, erinnert sich an Scholz als „harten Verhandler“. „Er hat den Anspruch, der Platzhirsch zu sein, Gespräche auch dominieren zu wollen und relativ wenig Spielraum zu lassen“, sagte Fegebank 2021 der Deutschen Presseagentur. Charmant klingt das nicht.
Ein Kabinettsmitglied
Doch in der Ampel herrschen heute andere Verhältnisse. Die SPD gewann die Bundestagswahl nicht mit 46, sondern mit 26 Prozent. Die Grünen sind Konkurrent und Partner zugleich, die FDP hat erstmals seit Jahrzehnten wieder ins linke Lager gewechselt und will umsorgt sein.
Christian Dürr ist seit einem Jahr Fraktionschef der FDP im Bundestag. Als solchem steht ihm ein geräumiges Büro zu, das selbst mit Fahnenhalter samt Europafahne nicht überladen wirkt. Nach Scholz’ Führungsstil gefragt, antwortet Dürr wie aus der Pistole geschossen: „Gut.“ Pause. Dürr beugt sich vor, bekräftigt: „Er macht das menschlich echt gut.“ Man könne sich auf sein Wort verlassen.
Das Lob für den Kanzler mutet seltsam an. Schließlich ist die FDP die Partei, die bislang überhaupt nicht von der Koalition profitiert. Vier Landtagswahlen gingen seit dem Regierungsantritt schief. Und dennoch ist Dürr enthusiastisch. Er redet sich fast in Ekstase: Der Kanzler habe echt „Bock“, etwas zu wagen, sei anders als Merkel ein Reformer, habe „Drive“.
Keine Frage nach der Vermögenssteuer
Die Grünen sind dem Kanzler gegenüber skeptischer. Katharina Dröge, ist eine von zwei Grünen-Fraktionsvorsitzenden. Augenhöhe, ja doch, sagt sie. „Das kann man so sagen. Eine harte Koch-Kellner-Regierung wie in Hamburg haben wir hier nicht, würden wir auch nicht mitmachen.“
Aber für den Geschmack der Grünen lässt Scholz der FDP viel zu viel Raum, gerade in finanzpolitischen Fragen stehe er zu oft an Christian Lindners Seite.
Rückfrage bei Christian Dürr. Hat Scholz in den Koalitionsrunden schon mal die Vermögenssteuer erwähnt? Steht schließlich so im SPD-Wahlprogramm. Ist in diesen Zeiten, in den der Staat 300 Milliarden an Schulden für die Krisenbekämpfung aufnimmt, auch keine ganz abwegige Idee. „Nein, daran erinnere ich mich nicht. Schließlich haben wir uns als Koalition darauf geeinigt, die Steuern nicht zu erhöhen“, sagt Dürr.
Möglicherweise ist Scholz’ Zurückhaltung aber auch ein Signal an die gebeutelte FDP: Ich respektiere Eure Grenzen.
„Olaf Scholz hatte schon immer eine sehr gute Art, die Dinge zusammenzuführen“, sagt Sarah Ryglewski. Die Abgeordnete ist im Kanzleramt Staatsministerin für Bund-Länder-Koordination und Nachhaltigkeit. Scholz holte die SPD-Linke 2019 zunächst ins Finanzministerium, zwei Jahre später folgte sie ihm ins Kanzleramt. Von Top-Down und Kontrollwahn, der Scholz aus Hamburger Zeiten nachgesagt wird, kann Ryglewski nicht berichten. Im Gegenteil: Scholz lasse seinen Leuten viele Freiräume – so lange alles funktioniere.
Das große Ganze im Blick
Näher kennengelernt hat sie Olaf 2017, als sie Mitglied der Antragskommission wurde, die Scholz damals schon seit über einem Jahrzehnt leitete. Die Kommission hat eine Schlüsselrolle für eine Programmpartei wie die SPD, vor Parteitagen sichtet sie Hunderte von Anträgen, vom Unterbezirk Wandsbeck bis zum Landesverband NRW, und entscheidet, was am Ende abgestimmt wird. „Er hatte immer Verständnis dafür, dass jeder Landesverband seinen Punkt braucht, und hatte dabei das große Ganze im Blick“, lobt Ryglewski ihren Chef.
Die Erfahrungen aus der Antragskommission überträgt Scholz auf die Ampelkoalition – jede der drei sehr unterschiedlichen Parteien braucht mal einen Punkt, mit dem sie glänzen kann. Die FDP kann sich für den Tankrabatt und den Abbau der kalten Progression auf die Schultern klopfen, die SPD feiert den Abschied von Hartz IV und die Grünen das 49-Euro-Ticket und den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Gleich zu Beginn hat seiner Amtszeit hat Scholz dem Spiegel gesagt: „Man muss als Koalition mit dem Anspruch antreten, bei den nächsten Wahlen wiedergewählt zu werden.“
Frank Stauss, Politikerberater, der für SPD erfolgreiche Wahlkämpfe inszeniert hat, sagt, Scholz führe als Kanzler „nicht plakativ, nicht lautstark, nicht auf Effekt gerichtet“. Ebenso wie er auch als Arbeits- und Finanzminister und Vizekanzler gearbeitet habe. „Er ist Realist und kann genau einschätzen, was politisch geht und was nicht.“
Macht durch Moderation hieß schon bei Merkel das Schlüsselwort. Scholz ergänzt diesen Stil durch offenere Kommunikation. Er hat allen Minister:innen gleich zu Beginn der Amtszeit das Du angeboten. Jeden Mittwoch morgens um 9 Uhr trifft sich das Kabinett. Es gibt keine Tagesordnung. Die MinisterInnen dürfen sich bei der zweistündigen Debatte nicht von StaatssekretärInnen vertreten lassen. Mit Ausnahme von Außenministerin Annalena Baerbock, die viel reist.
Diese Runde – vor der amtlichen Kabinettssitzung um 11 Uhr – hat etwas von einer Schulstunde. Der Kanzler redet leise. Meist fordert der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir als erster in der Runde „Etwas lauter, Olaf“. Scholz redet dann etwas lauter, um seine Stimme bald wieder herunterzupegeln. Wie ein Lehrer, der für Konzentration im Klassenzimmer sorgen will.
Stress erkennen und befrieden
Scholz hört sich reihum an, was die Ampel-Ministerinnen auf dem Herzen haben, wo Krach droht. Konflikte, etwa zwischen Umwelt und Verkehrsministerium, sollen auf den Tisch. Das Ziel: Stress früh erkennen und befrieden. Der Kanzler frage viel nach, ordne ein, kommentiere und mahne mal eine Entscheidung an. Er macht, so Kulturstaatsministerin Claudia Roth „sanfte, aber klare Ansagen“. Und tritt dabei, so Roth, „nie autoritär auf“.
Roth ist mittlerweile seit über zwei Dekaden im Parlament. Sie kennt die Zeiten noch, als die SPD den Koch und die Grünen den Kellner spielten sollten. „Das ist anders geworden“, sagt sie. Scholz, den sie fast ebenso lange im politischen Geschäft kennt, sei „sehr rational“ und „unfassbar resistent gegen Angriffe“.
Das Kabinett ist zufrieden mit dem neuen Format, der sozialdemokratische Teil euphorischer als der Rest. Ein Wundermittel ist es aber nicht. Wenn sich richtig harte Konflikte anbahnen, komme das um 9 Uhr nicht immer zur Sprache, so eine Ministerin.
Doch im Laufe dieses Jahres wird auch deutlich, wie begrenzt Scholz’ Steuerungsmöglichkeiten und wie groß die Fliehkräfte in der Ampel sind.
Da ist der erste Versuch, die hohen Gaspreise in den Griff zu bekommen. Die Lösung aus dem von Robert Habeck geführten Wirtschaftsministerium: eine Gasumlage, um die Extrakosten der Großversorger abzupuffern. Auch im Kanzleramt ist man von dieser Lösung überzeugt. Scholz unterbricht extra seinen Sommerurlaub im Allgäu und verkündet für seine Verhältnisse gut gebräunt Ende Juli, dass der Bund beim Großversorger Uniper einsteige, dass aber auch die Verbraucher:innen ihren Teil beitragen müssen. Das könnten bis zu 300 Euro für eine vierköpfige Familie im Jahr sein. Andere Länder deckeln die Energiepreise längst.
Erratischer „Doppel-Wumms“
Zwei Monate später, am 29. September, wird Scholz – wesentlich fahler im Gesicht nach überstandener Corona-Erkrankung – aus der Wohnung im Kanzleramt das Aus der Gasumlage verkünden. Stattdessen kommt der „Doppel-Wumms“. Für jemanden, der stets behauptet, eigentlich alles schon immer vorausgesehen zu haben, wirkt die Scholz’sche Krisenpolitik manchmal erstaunlich erratisch.
Er kann aber auch autoritär. Als es im Oktober um den Weiterbetrieb von drei Atomkraftwerken geht, können sich Grüne und FDP nicht einigen. Scholz zückt die Richtlinienkompetenz. In einem knappen Brief weist er die zuständigen Minister:innen an, alles in die Wege zu leiten, damit drei Meiler bis längstens Mitte April am Netz bleiben können.
Viele Kommentator:innen legen ihm diesen Griff zum schärfsten Machtmittel eines Kanzlers als Schwäche aus. Nach nicht mal einem Jahr Kanzlerschaft. Merkel hatte in 16 Jahren nur einmal damit gedroht.
Doch Scholz wirkt im Nachgang zufrieden mit sich. Er habe da mal einen Brief geschrieben, erzählt er bei Gelegenheit, wenn die Mikrofone aus sind. Selbst wenn er breitbeinig auftritt, tut er das leise.
Was Scholz selbst über eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke dachte, sei lange nicht klar gewesen, monieren manche Grüne. Warum? Weil in Niedersachsen gerade Wahlkampf war, vermutet man in Parteikreisen. Und für die SPD, die Stephan Weil als Ministerpräsidenten durchkriegen wollte, passte die Rolle der Erwachsenen, die im Streit zwischen Halbwüchsigen vermittelt. Manchen Grünen ärgert diese Selbstinszenierung der SPD. Scholz lasse Dinge manchmal gern laufen, weil es ihm machtpolitisch in den Kram passe, heißt es.
Entscheidung in Rekordzeit
Christian Dürr verteidigt den Kanzler in der Causa. „Die Verlängerung der Laufzeit hat Scholz doch in Rekordzeit entschieden“, sagt Dürr. Jedenfalls im Vergleich zu Merkel, die alle Konflikte ausgesessen habe.
Doch aussitzen, das geht nicht mehr. Denn die eine Krise, die weitere nach sich zieht, bestimmt seit dem 24. Februar das politische Handeln. Eine „Zeitenwende“ wird Scholz dazu sagen, am Sonntag nach dem russischen Überfall im eilig zusammengetretenen Bundestag.
Das restliche Europa schließt sich fester zusammen, blickt zunehmend fordernder auf Deutschland. Die größte Volkswirtschaft soll eine Führungsrolle übernehmen, auch militärisch.
Scholz fremdelt anfangs mit dieser neuen Rolle. Es wirkt, als müsse er erst Tritt fassen auf internationalem Parkett, als sei ihm die Bürde der neuen Verantwortung unheimlich. Als er Mitte Februar zum Antrittsbesuch in Kyjiw die Gangway des Regierungsfliegers Schritt für Schritt herabsteigt, auf den ausgerollten roten Teppich zu und sich, Halt suchend, am Revers seines Mantels greifend, hat Scholz eine Reihe von Ideen im Gepäck, wie man das nie umgesetzte Minsker Abkommen wiederbeleben kann. Aber kein Angebot für Waffenlieferungen, obwohl Russland seine Truppen rund um die Ukraine bereits zusammengezogen hat und Ukrainer:innen in Scharen das Land verlassen. Doch auf der anschließenden Pressekonferenz im Kyjiwer Regierungspalast redet Scholz von Deeskalation, weicht der Frage nach Waffen aus und verweist auf die finanzielle Unterstützung für die Ukraine.
Scholz ist damals gut gestimmt nach dem Gespräch mit dem ukrainische Präsidenten Wolodomir Selenski. Er glaubt, dass es doch noch eine Verhandlungslösung geben kann. Einen Tag später fliegt er nach Russland und wird von Wladimir Putin auf die Frage, ob nach seinem Abflug russische Kampfbomber hinter ihm aufsteigen würden, nur Schweigen ernten.
Mehr als rostige Haubitzen
Aus dem Kanzleramt hieß es bis dahin immer, Deutschland habe nicht mehr zu bieten als ein paar „rostige Haubitzen“ aus NVA-Beständen. Das erweist sich im Nachhinein als falsch. Inzwischen verschießen die Ukrainer mit deutschen Panzerhaubitzen täglich 300 Granaten, wird Kyjiw auch mit dem aus Deutschland gelieferten supermodernen Flugabwehrsystem Iris-T verteidigt und deutsche Gepard-Panzer schützen kritische Infrastruktur. Die Ukrainer haben sich mehrfach bedankt. Aber warum hat Scholz dann anfangs den Anschein erweckt, er wolle eigentlich gar keine Waffen liefern und zumindest immer neue Gründe vorgebracht, warum das eigentlich nicht möglich sei – keine Munition, keine Ersatzteile, zu lange Ausbildungszeiten?
Aus drei Gründen. Am Montag nach seiner „Zeitenwende“-Rede im Bundestag war Scholz eher nachdenklich als euphorisch. Man müsse jetzt an die Hälfte der Bevölkerung denken, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges habe. Wenn der Krieg lange dauert, braucht man langfristige Unterstützung der WählerInnen. Also Vorsicht, um einer möglichen Protestbewegung wenig Angriffsflächen zu geben. Außerdem zweifelt Scholz, ob Europa, selbst wenn es nun danach ruft, ein militärisch starkes Deutschland wirklich will.
Er wartet fast zwei Monate, bis Ende April, ehe er im Spiegel seinen Kurs erklärt. Ein Fehler.
Scholz ist in den 80er Jahren politisch in der Friedensbewegung groß geworden. Er ist zwar kein Pazifist und Fan von Helmut Schmidt, dem Erfinder der Nachrüstung. Aber er hat wie viele Boomer ein distanziertes Verhältnis zum Militär.
Ende August besucht der Kanzler einen Truppenübungsplatz. Er dankt der Rüstungsindustrie und den ukrainischen Soldaten, die die Bundeswehr hier an Gepard-Panzern ausbildet. Etwas ratlos steht er beim Fototermin vor dem wuchtigen Kriegsgerät. Er faltet die Hände und sucht eine Position, die ihn, den Kanzler und das Gefährt, in einen Zusammenhang bringen. Schließlich stützt er leicht den linken Ellenbogen auf das Metall, lässt die rechte Hand in die Hosentasche gleiten und senkt die linke Hand auf den Panzer. Das Handauflegen ist eine Geste der Vertrautheit, der Inbesitznahme. Wie ein Familienvater, der den neuen VW Golf nach Hause bringt. Als die Fotos gemacht sind, nickt der Kanzler knapp und nimmt die Hand vom Panzer. Das Fremdeln der zivilen Republik vor dem Militärischen ist noch spürbar.
Ruhe in hektischen Zeiten
„Es wäre wohl besser gewesen, wenn wir der Ukraine noch früher und noch entschiedener geholfen hätten. Besser für die Ukrainer:innen“, sagt Katharina Dröge Anfang November. Sie hat die Heizung im Büro runtergedreht und ein Tuch umgelegt. Der neue ukrainische Botschafter war gerade zum Antrittsbesuch da. Hat erzählt, dass Russland am Vortag 70 Raketen auf sein Land abgeschossen habe. 19 konnte die ukrainische Armee auch dank deutscher Abwehrtechnik abfangen. Der Rest sei eingeschlagen. Aber auch Dröge findet, dass Scholz international souverän auftritt. Sie lobt seine Ruhe, die er in diesen hektischen Zeiten ausstrahlt.
„Mit Waffenlieferungen an die Ukraine hätten wir noch schneller sein können“, findet auch FDP-Fraktionschef Dürr. Allerdings habe Scholz auch diesen oft unterschätzten Satz gesagt: Was wir machen, müssen wir auch durchhalten. „Das war mutig vom Bundeskanzler“, sagt Dürr und stutzt: „Jetzt habe ich ihn ja schon wieder gelobt.“
Tatsächlich ist die militärische Hilfe für die Ukraine zwar spät angelaufen, dafür stetig. Gerade hat Deutschland weitere Haubitzen geliefert.
Über 100 Länder hat Scholz im ersten Amtsjahr besucht. Anfangs tauschte er sich noch eng mit Merkel aus, inzwischen telefonieren sie nicht mehr so häufig miteinander. In der Ampelkoalition ziehen die vier Fraktionsvorsitzenden Anfang Dezember eine passable Bilanz. Die Grüne Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann spricht von einer Arbeitskoalition. Dürr besteht darauf, dass man dennoch mehr Fortschritt wage.
Ob Fortschritt tatsächlich gelingt, wird sich zeigen. Im nächsten Jahr wird die Ampel Farbe bekennen müssen, wie Deutschland seine Klimaziele konkret einhalten will. Schon jetzt laufen sich FDP und Grüne warm für künftige Auseinandersetzungen. Gerade im Verkehrssektor bewegt sich bislang nichts. Die Grünen erwarten von Scholz, dass er sich hier positioniert.
Merkel hat Deutschland 16 Jahre geführt, solide, unaufgeregt, am Ende im Vorruhestand. Konflikte kleisterte sie mit Kompromissen zu. Die Digitalisierung blieb liegen, die Energiewende, die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Die Ampelkoalition muss Deutschland aus dieser Lethargie herausführen. Im Alleingang schafft Scholz das nicht.
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