Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: „Wir haben große Verantwortung“
Grünen-Fraktionsvize Brugger fordert schnellere Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan. Ein solches Abzugsdesaster dürfe sich nicht wiederholen.
taz: Frau Brugger, am Montag vor einem Jahr fiel Kabul an die Taliban. Wie haben Sie die Tage im vergangenen August erlebt?
Agnieszka Brugger: Das war eine bittere Zeit. Ich war damals in zwei unterschiedlichen Welten unterwegs: Es war Wahlkampf und ich hatte tagsüber viele Termine in meinem Wahlkreis in Oberschwaben. Nachts saß ich dann lange über dem Laptop oder habe mit dem Kollegen Nouripour telefoniert. Wir haben uns bemüht, möglichst viele Fälle von Schutzbedürftigen an die Regierung weiterzugeben. Wir haben unsere Fraktion gebrieft und haben unfassbar viele Interviews gegeben, um die Große Koalition zum Handeln zu bewegen.
Ihr Fokus lag also auf der Evakuierung der Ortskräfte?
Es ging auch um deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und um besonders gefährdete Gruppen wie Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen. Aber die Wut war beim Thema Ortskräfte besonders groß, weil sowohl Abgeordnete verschiedener Fraktionen, die Zivilgesellschaft als auch die Bundeswehr seit Monaten vor genau diesem Szenario gewarnt hatten. Als man Flüge hätte chartern müssen, hat man sich zynisch um Abschiebeflüge gekümmert. Später ging es dann um das gesamte Krisenmanagement, das nun ein Untersuchungsausschuss zu Recht aufarbeiten wird, um zu verhindern, dass sich so ein Desaster wiederholt.
37, ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. Sie ist zudem Mitglied im Verteidigungsausschuss.
In den vergangenen zwölf Monaten wurden Tausende Ortskräfte und deren Angehörige doch noch evakuiert. Viele andere harren aber immer noch im Land aus, haben zum Teil noch nicht mal eine Aufnahmezusage. Warum gibt es auch unter der Ampel solche Probleme?
Wir haben eine große Verantwortung für die verbliebenen Ortskräfte und die haben wir noch lange nicht erfüllt. Ich bin sehr verärgert darüber, wie lange das dauert. Ich weiß, dass Außenministerin Baerbock und insbesondere unsere Menschenrechtsbeauftragte Luise Amtsberg sich seit Monaten mit großem Nachdruck für Fortschritte in Verhandlungen mit dem Innenministerium einsetzen, dessen Chef:in zum Glück nicht mehr Horst Seehofer heißt. Dieser Unterschied muss sich auch in der praktischen Politik zeigen.
Was fordern Sie?
Der Koalitionsvertrag ist in dieser Frage sehr klar: Es soll ein Aufnahmeprogramm geben. Jetzt haben wir diesen traurigen Jahrestag und die Zeit drängt. Es braucht jetzt schnell eine großzügige, schnelle und kluge Lösung.
Blicken wir noch mal zurück auf den 15. August 2021: Die Bundesregierung wurde damals vom Fall Kabuls überrascht. Sie auch?
Ich habe wie so viele befürchtet, dass der Abzug des westlichen Militärs die verheerende Entwicklung der letzten Jahre noch mal beschleunigen wird. Das Tempo haben aber wenige vorhergesehen. Umso schlimmer, dass die damalige Bundesregierung nicht auf Szenarien vorbereitet war, von denen alle wissen mussten, dass sie früher oder später kommen.
Die Lehre für die Zukunft lautet also: Immer vom Schlimmsten ausgehen?
Nein, aber man muss sich auf verschiedene Szenarien vorbereiten und darf nicht leichtsinnig sein. Mir hat der letzte August noch mal die Tragweite unserer politischen Entscheidungen deutlich gemacht. Das war für mich auch ein emotional einschneidendes Erlebnis. Und es hat mir in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie schwierig es ist, einen verantwortungsvollen Abzug umzusetzen. Es ist schnell und auch zutreffend gesagt, dass Donald Trump den Abzug katastrophal angelegt hat. Aber wie könnte ein Abzug aussehen, der keine solche Dynamik auslöst? Und was hätten wir sonst noch anders machen müssen in den zwanzig Jahren Auslandseinsatz? Das sind Fragen, die mich nicht nur am Jahrestag beschäftigen. Daher ist es auch so wichtig, dass eine Enquetekommission nun das ganze Engagement in Afghanistan mit Lehren für die Zukunft mit viel Expertise aufarbeiten wird.
Haben Sie jenseits der Kommission schon erste Antworten auf Ihre Fragen?
Für mich ist eine der wenigen Gewissheiten, die wir bisher haben: In der ruhigen Sicherheitslage der ersten Jahre hätten alle Chancen genutzt werden müssen, um die Konfliktursachen stärker mit zivilen Mitteln anzugehen. Das habe ich auf meinen ersten Afghanistan-Reisen sogar von vielen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gehört. Eine weitere Lehre, aus der wir in Mali auch schon die Konsequenz gezogen haben: Ohne eine Regierung, die an echten politischen Reformen interessiert ist und mit der eine vernünftige Zusammenarbeit möglich ist, kann die Ausbildung von Sicherheitskräften nicht erfolgreich sein. Es ist sogar eher mit Risiken behaftet, wenn ein Einsatz immer wieder fortgesetzt wird, ohne eine Erfolgsperspektive zu sehen. Den Afghanistan-Mandaten hatte ich deshalb im Bundestag in den letzten Jahren auch nicht zugestimmt.
Die EU-Ausbildungsmission in Mali wurde schon im April gestoppt. Seit Freitag ist wegen dauernder Schikanen der Militärjunta auch die deutsche Beteiligung am Stabilisierungseinsatz Minusma teilweise ausgesetzt. Gerade nach den Erfahrungen aus Afghanistan: Wäre es nicht schon lange an der Zeit gewesen, auch diesen Einsatz zu beenden?
Es ist wichtig, jeden Konflikt und jedes Land für sich zu analysieren. Und so sind auch Mali und Afghanistan nur auf den oberflächlichen Blick einfach in der Analogie. So haben wir auch die Ausbildung für das malische Militär beendet. Aber jetzt zu sagen, wir werfen auch bei der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen einfach hin, wirft die Frage auf, was unser Abzug eben auch auslösen könnte. Dabei geht es in erster Linie um die Situation der Zivilbevölkerung und eine Unterstützung der Vereinten Nationen. Russland baut systematisch den eigenen Einfluss in der Region aus, und wir beobachten international, wie die Vereinten Nationen immer weiter geschwächt werden. Trotzdem gibt es natürlich einen Punkt, an dem ein Einsatz gescheitert ist. Bei der Frage, ob wir die Beteiligung an Minusma fortsetzen, stehen wir in den nächsten Wochen vor einem Dilemma.
Was sind für Sie die entscheidenden Kriterien?
Wenn die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten nicht mehr gewährleistet ist, würde ich sehr schweren Herzens zu dem Schluss kommen, dass der Einsatz nicht verantwortungsvoll fortgesetzt werden kann. Wenn also zum Beispiel die Rettungskette nicht mehr steht, weil die Militärjunta die Überflugrechte permanent aussetzt oder bestimmte Fähigkeiten nicht da sind. Aktuell kann die Mission ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen, weil Mali die Ankunft von Sicherungskräften verhindert hat. Die malische Militärjunta spielt mit dem Feuer. Die aktuellen Probleme bei den Kontingentwechseln müssen sich in den nächsten Wochen ein für alle Mal klären.
Bleibt denn so viel Zeit? Müsste die Entscheidung nicht in den nächsten Tagen fallen?
Da der Hintergrund des ständigen Hin und Hers aktuell unklar ist, ist es klüger, zu schauen, ob die Gespräche zwischen den Vereinten Nationen, den Minusma-Staaten und der malischen Regierung in den nächsten Wochen zu einer nachhaltigen Lösung führen, statt einfach sofort hinzuwerfen.
Zieht die Ampel in der Frage an einem Strang? Zuletzt war von Differenzen zwischen Verteidigungs- und Außenministerium zu lesen.
Zum letzten Bundestagsmandat hatten wir gemeinsam einen sehr intensiven Diskussionsprozess, den alle als sehr gewinnbringend empfunden haben. Es ist wichtig, dass sich die Ressorts eng und gut abstimmen. Entscheidungen solcher Tragweite müssen Bundesregierung und Parlament gemeinsam und nach sorgfältiger Abwägung treffen.
Über Mali hinaus: Wird das Afghanistan-Desaster zu weniger Bundeswehreinsätzen führen, weil dort offensichtlich wurde, wie begrenzt ihr Potenzial ist?
Das Scheitern führt uns vor Augen, wie wenig wir mit militärischen Mitteln allein oft beeinflussen können. Manche ziehen aus dem brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Schlussfolgerung, dass wir uns nur noch auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren sollten. Das teile ich nicht. Wir sehen ja, dass es keine Krise gibt, die nicht auch uns in der einen oder anderen Weise erreicht. Und wenn wir den Anspruch haben, dass die Werte der UN-Charta global etwas wert sind, dann braucht es mehr Engagement Deutschlands auf der Weltbühne und nicht weniger. Das sollte nicht in leichtfertigen, übereilten oder schöngeredeten Militäreinsätzen bestehen, sondern in einem informierten Engagement mit den richtigen Instrumenten für den jeweiligen Konflikt.
Hat die Bundeswehr überhaupt noch Ressourcen für Auslandseinsätze, wenn sie künftig viel stärker zur Abschreckung Russlands benötigt wird?
Natürlich wird die Landes- und Bündnisverteidigung auf absehbare Zeit mehr Kräfte binden. Ich kenne auch niemanden, der jetzt euphorisch neue Einsätze beginnen will. Trotzdem kann die Bundeswehr grundsätzlich auch in Zukunft beides leisten.
Schauen wir zum Schluss noch auf Afghanistan heute: Die politische, wirtschaftliche und humanitäre Lage ist katastrophal. Welche Verantwortung hat die Bundesrepublik jenseits der Ortskräftefrage – und wird sie ihr gerecht?
Leider bestätigt sich, was viele immer befürchtet haben: Sobald die Bundeswehr abgezogen ist, klingt das öffentliche Interesse ab. Unsere Verantwortung endete nicht mit dem Abzug und trotzdem sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt, denn niemand möchte die Taliban-Regierung stärken, legitimieren oder anerkennen. Wir müssen schauen, dass wir gerade Organisationen wie die Vereinten Nationen unterstützen, die noch vor Ort sind und direkten Zugang zu den Menschen haben. Da sollte Deutschland ein großer Geldgeber bleiben, insbesondere wenn es um die Situation von Frauen und Mädchen geht.
Einige Hilfsorganisationen kritisieren westliche Sanktionen gegen Afghanistan. Sie seien eine der Ursachen für die humanitäre Krise.
Ich verstehe, dass man diese Maßnahmen beim Anblick des Leids schwierig findet. Aber ich glaube nicht, dass die Menschen in Afghanistan profitieren würden, wenn die Sanktionen fallen. Am Ende würde nur die radikale und korrupte Taliban-Regierung ihre Macht ausbauen und das Geld in die eigenen Taschen stecken.
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