Afghanistan und Scharia-Gesetzgebung: Justiz nach Art der Taliban

Im Kabuler Stadtviertel Nummer 10 tagt das Scharia-Gericht. Es geht um Entschädigung für einen IS-Kämpfer, Mietschulden und fehlendes Schreibgerät.

Zwei Taliban mit Turban sitzen hinter einem Schreibtisch

„Ich bin nicht gerecht, es ist die Scharia, die gerecht ist“: Richter Shakeer und ein Beisitzer Foto: Francesca Borri

KABUL taz | Rechts des Richters hat ein Dschihadist vom „Islamischen Staat“ (IS) Platz genommen. Davor sitzt eine Mutter mit ihrem 16-jährigen Sohn: Dieser war von dem Gotteskrieger dazu animiert worden, seinen eigenen Vater zu erschießen. Der war als Soldat der afghanischen Armee in den Augen des IS ein Verräter im Sold der USA. Aber nicht der Mann vom „Islamischen Staat“ ist hier angeklagt. Sondern die Mutter. Denn der Dschihadist verlangt von ihr Schadenersatz in Höhe von 16.000 US-Dollar, weil er wegen Anstiftung zum Mord im Gefängnis einsitzen musste.

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Die Mutter trägt einen weißen Hidschab, ein islamisches Kopftuch, wie es für weibliche Staatsangestellte in Afghanistan bisher üblich war. Sie lässt sich von der Atmosphäre im Gerichtssaal nicht einschüchtern.

Der als Richter agierende Mullah, zugleich der von den Taliban eingesetzte Bürgermeister des Stadtviertels, streicht seinen Bart. „16.000 Dollar für alles inklusive?“ fragt Mohamed Shakeer. „Auch für die Folter?“ Dann schaut er die Reporterin an und sagt: „Kabul ist schon verdammt kompliziert. Es ist eben nicht Dubai.“ Dort funktioniert nach Meinung vieler Afghanen alles perfekt.

Niemand weiß, wie viele Einwohner in der afghanischen Hauptstadt leben. Laut englischsprachigem Wikipedia sind es 4,6 Millionen, laut deutschem 4,3 Millionen. Kabul ist in so vielen Kriegen so oft zerstört und wieder aufgebaut worden, dass die Stadt keine Struktur mehr besitzt. Die Stadt zwischen den Bergen ist eine Ansammlung von Gebäuden. Gewiss ist einzig, dass Kabul in 22 Viertel unterteilt ist. Deren Bürgermeister müssen sich im Grunde um alles kümmern – auch um die Scharia, das islamische Recht.

Korruption hat das alte Regime verhasst gemacht

Das Rathaus von Distrikt Nummer 10 ist in einem gewöhnlichen zweistöckigen Betongebäude untergebracht, an einem Hof voller Wracks alter, rostiger Humvee-Militärfahrzeuge. Das Viertel ist der wichtigste Bezirk, denn es liegt im Zentrum der Stadt. Hier bat ein französischer Reporter einen Talib nach der Machtübernahme der Islamisten, Afghanistan auf einem Globus zu lokalisieren. Das Video, in dem der Talib die Frage nicht beantworten kann, ging viral.

„Aber wer trägt denn die Schuld dafür, wenn ein Talib noch nie einen Globus gesehen hat? Er oder diejenigen, die ihm nie eine Schule gebaut haben?“, fragt ein junger Mann, der vor dem Gebäude in der Warteschlange steht. „Wie wohl jeder andere würde auch ich einen Wirtschaftswissenschaftler als Wirtschaftsminister vorziehen. Aber bisher haben die Ökonomen Afghanistan nur zu einem der korruptesten Länder der Welt gemacht,“ sagt er.

Afghanistan liegt auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 165 von 179 Staaten. Nach zwanzig Jahren US-geführter Intervention und einem 2,3 Billionen Dollar teuren Krieg gibt es in Kabul immer noch keine vernünftige Kanalisation, aber dafür alltägliche Stromausfälle. Das Wasser aus den Leitungen ist gelblich verfärbt.

Der in der Schlange wartende junge Mann heißt Abdul Hakim und ist Universitätsdozent. Er erzählt, dass er 50.000 Dollar Lösegeld bezahlen musste, um seinen entführten Bruder freizubekommen. „Ich weiß nicht, ob die Taliban in der Lage sein werden, die Wirtschaft wieder aufzubauen oder nicht“, sagt er. „Aber ich weiß, dass die Entführer meines Bruders bereits im Gefängnis sitzen.“ Zum ersten Mal seit Jahren sind Kabuls Straßen auch nachts ruhig.

Die Angeklagten kommen ohne Zwang

Im Rathaus von Distrikt Nummer 10 tagt so etwas wie ein Scharia-Gericht unterster Instanz. Bewaffnet mit einem Stempel des Islamischen Emirats Afghanistan hört der 35-jährige Bürgermeister die streitenden Parteien an. Mohamed Shakeer wird von vier Beratern mit schwarzen Turbanen unterstützt: Wenn es keine einvernehmliche Lösung gibt, entscheidet Shakeer den Fall alleine. Sein Urteil kann danach vom Obersten Gerichtshof angefochten werden.

In der Regel erscheint der Angeklagte freiwillig, denn, so sagt es Shakeer: „Sie wissen, dass wir sonst an ihre Tür klopfen würden. Die Zeit der Straffreiheit ist vorbei.“ Köpfe und Hände werden hier nicht abgeschlagen. Die Taliban bemühen sich derzeit um internationale Anerkennung und um Zugang zu den dringend benötigten internationalen Finanzhilfen. Die einzigen hier verhängten Strafen lauten deshalb vorerst auf Gefängnisaufenthalte.

Was wird aus Afghanistan werden? Diese Frage stellt sich jeder in Kabul. Sind die Taliban anders als vor 20 Jahren, als sie schon einmal die Macht innehatten? „Ich weiß es nicht“, sagt Bürgermeister Shakeer lakonisch. „Damals waren die meisten von uns noch nicht auf der Welt.“ Das Durchschnittsalter der Bevölkerung Afghanistans liegt bei gut 18 Jahren.

Zweifellos ist es in diesem Land für niemanden einfach, an der Macht zu sein und es auch zu bleiben. Nach dem islamischen Kalender leben wir derzeit im Jahr 1443. Man sieht immer noch Heißwasserverkäufer in den Straßen. Schreiber, die für Analphabeten Briefe verfassen, bieten ihre Dienste an.

Mit Stiften kann das Gericht nicht aushelfen

Vor dem Gericht beklagt sich ein Mann, dass direkt vor seinem Haus ein Gebäude gebaut werde – ohne jeden Mindestabstand. Dann tauchen drei Taliban aus einem anderen Stadtviertel auf. Sie bitten den Richter um Stift und Papier. „Wie können wir ohne Stift und Papier regieren?“ sagen sie. „Tut mir leid, ich habe nur diesen Stift“, antwortet der Bürgermeister. „Und es ist nicht einmal meiner.“ Im Rathaus von Distrikt Nummer 10 steht kein einziger Computer.

Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht fürchtete die internationale Gemeinschaft auch die Rückkehr der Scharia, des islamischen Rechts. Tatsächlich geht es in Kabul eigentlich so zu wie zuvor. Denn es galt schon immer die Scharia. Der einzige Unterschied besteht darin, dass man unter der alten Regierung bestechen musste, um sein Recht zu erhalten, so heißt es. Jetzt hingegen seien alle gleich. Reich und Arm. Taliban und Nicht­taliban. Und die Scharia lässt sich unterschiedlich interpretieren.

Ein schiitischer Hasara, dessen Moschee von IS-Dschihadisten angegriffen worden ist, kommt in den Gerichtssaal und bittet um Schutz. „Und trauen Sie den Taliban?“, frage ich. „Ich würde mir eine andere Regierung wünschen. Aber für euch ist die Scharia ein hartes Gesetz. Für uns ist sie in erster Linie ein Gesetz“, sagt er. „Es gibt kein schlimmeres Gesetz als das Gesetz, das niemand umsetzt.“

Viele Taliban sind dürr, so wie viele Afghanen. Zwischen einer Schicht und der nächsten schlafen sie in einem Raum im Erdgeschoss des Rathauses, mit ihrer AK47, der Kalaschnikow. Als ob sie nichts anderes hätten.

Einer von ihnen heißt Said Haroon und ist 19 Jahre alt. Er schiebt mit leerem Blick Wache. Haroon sagt, er habe sich den Taliban angeschlossen, nachdem die Amerikaner bei einer nächtlichen Razzia seine gesamte Familie getötet hatten. „Ich wurde allein gelassen. Und niemand hat mich überhaupt gefragt: Wie geht es dir?“, sagt er. „Ihr, die ihr studiert habt, sagt mir: Das ist also Demokratie?“

Wir kennen jeden Namen der westlichen Gefallenen. Doch von den afghanischen Opfern kennen wir nicht einmal die Zahl. Keiner hat sie je gezählt.

Viele Taliban sehen wie eine Art Robin Hood aus, wie arme Kämpfer, die unter der armen Bevölkerung leben und für die Armen kämpfen. Andere wirken eher wie US-Marinesoldaten, gut gebaut und genährt, durchtrainiert – und voll ausgerüstet. Das sind die Taliban vom Haqqani-Netzwerk. Das steht al-Qaida nahe. Alle haben Angst vor den Haqqanis. So wie jeder Angst vor den vielen Warlords hat.

Der Richter verlangt Respekt

Ein schicker Mittzwanziger kommt in den Gerichtssaal. Er hat seit Monaten seine Miete nicht bezahlt. Er ist seinem Vermieter gegenüber ziemlich unhöflich und macht einen trotzigen Eindruck. Als er aufgefordert wird, auf seinen Ton zu achten, antwortet er nur: „Ich arbeite für Dostum!“ Der ehemalige afghanische Vizepräsident Abdul Raschid Dostum gilt als ein bekannter Mörder. „Wir sprechen von Ihrer Miete“, sagt der richtende Bürgermeister. „Und passen Sie auf, wie Sie sprechen, sonst schneide ich Ihnen den Kopf ab.“ Einer seiner Berater sieht die Reporterin an. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt er. „Es ist nur Gerede.“

Die Taliban hatten zu keinem Zeitpunkt einen militärischen und einen zivilen Flügel, sondern sie waren letztlich einfach nur Kämpfer. „Sie sind ehrlich, ja“, sagt ein Offizier. „Aber sie regeln den Verkehr mit einer Kalaschnikow. Und wozu braucht man im Verkehr eine Kalaschnikow? Man braucht ein Verkehrszeichen oder eine Ampel.“ Und doch, sagt er: „Sie sind das kleinere Übel.“ Dann sieht er mich an. „Die anderen haben so versagt, dass im Vergleich dazu sogar die Taliban das kleinere Übel sind.“

Im Lauf des Tages entscheidet das Gericht, dass der Fall des IS-Dschihadisten, der eine Entschädigung verlangt, an den Obersten Gerichtshof verwiesen wird. Die von ihm verklagte Mutter des 16-Jährigen, der seinen Vater erschoss, drängt auf eine Entscheidung. Sie weiß nicht, wer am Obersten Gerichtshof das Sagen haben wird.

Bürgermeister Mohamed Shakeer hat einen hervorragenden Ruf. Was würde bei einem Mullah geschehen, der nicht so viel Autorität wie er besitzt? Shakeer antwortet: „Ich bin nicht gerecht, es ist die Scharia, die gerecht ist.“

Seine Berater reden weiter. Sie diskutieren darüber, ob der Dschihadist wirklich ein IS-Kämpfer war. Ob er von Amerikanern oder von Afghanen gefangen genommen wurde. Der 16-Jährige, der auf Befehl des Mannes seinen Vater umbrachte, starrt ausdruckslos auf den Boden. Stumm. Er zittert. Keiner fragt ihn, wie es ihm geht.

Aus dem Englischen Sven Hansen

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