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EU-WahlenIn Brüssel geht es nur mit Alkohol

Die EU hat immense Demokratiedefizite. Linke meiden kritische Fragen, um den Rechten nicht in die Hände zu spielen – das ist ein Fehler.

Wahlbanner vor dem Europäischen Parlament in Brüssel Foto: Virginia Mayo/AP/dpa

I ch geb’s zu, ich habe gerade einen Durchhänger. Entgegen kommt mir da der Mai, der dieses Jahr drei Feiertage unter der Woche hat. Der Mai, ein super Monat für Lohnabhängige. Mein derzeitiger Durchhänger-Status wird leider gerade durch Europa verstärkt. Falls Sie es vergessen haben – in zwei Wochen ist EU-Wahl. Aber gibt es eine breite öffentliche Debatte darüber, wie man dieses an sich tolle Konstrukt namens EU besser machen kann und was grundsätzlich schiefläuft? Fehlanzeige.

Dabei sind die Wahlen die einzige Gelegenheit für die EuropäerInnen, einmal mitzureden. Es dominieren Nachrichten über Marine Le Pen und einen AfD-Spitzenkandidaten, der jetzt keine Wahlkampfauftritte mehr absolvieren darf, aber trotzdem ins EU-Parlament einziehen wird.

Passend zu meiner Stimmungslage gucke ich mir gerade binge-mäßig Auftritte des Satirikers, Demotivationstrainers und ausscheidenden EU-Abgeordneten Nico Semsrott an („Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt“) und lese sein Buch über seine Jahre in Brüssel. Klar, Semsrott betreibt Markenpflege in eigener Sache, aber er sagt erfrischende und kluge Sachen zu Europa. Etwa, dass sich „Brüssel“ und die Bevölkerung einfach nicht verstehen, keinen Kontakt zueinander haben. Der EU-Apparat lebt in einer abgeschotteten Blase mit eigenen Logiken und einer eigenen Sprache (mein derzeitiger Lieblings-EU-Begriff ist übrigens „Aufbau- und Resilienzfazilität“, gemeint sind die Post-Corona-Wirtschaftshilfen).

Es ist ein eigenes System, das auch jene verschluckt, die es mal anders machen wollten. Oder kann sich noch jemand an Ska Keller erinnern, die 2009 als linke Grünen-Rebellin ins Parlament einzog, mehrere Jahre Fraktionsvorsitzende war, dann im Parlament irgendetwas mit Fischerei machte und sich jetzt sang- und klanglos verabschiedet?

Was macht der Maschinenraum?

Semsrott beklagt zu Recht, wie mächtig und intransparent die EU-Bürokratie ist. Der EU-Bürger, die EU-Bürgerin bekommt immer nur die ständigen „Gipfel“ mit, wo die MinisterInnen kameragerecht plaudern und scherzen, erhält aber keinerlei Einblick in den Maschinenraum, in dem die vielen kleinen Entscheidungen getroffen werden.

Bei Europawahlen agieren Medien arg beflissen und pädagogisch und ähneln dem Politikunterricht in der 10. Klasse: Oh, es sind wieder Europawahlen, dazu müssen wir jetzt mal was Positives machen. Aus Angst, den Rechten in die Hände zu spielen, werden grundsätzliche Probleme umgangen, etwa die eklatanten Demokratiedefizite der EU. No Fun Fact: Der deutsche Reichstag unter Wilhelm I. und II. hatte mehr Haushaltskompetenzen als das EU-Parlament; dieses muss sich das Haushaltsrecht mit dem Rat, also den Einzelstaaten, teilen.

Oder das EU-Dogma, dass auch öffentliche Güter wie Wohnraum oder Schienenverkehr dem Wettbewerb unterliegen. Wettbewerb, die heilige Kuh der EU. Sozialen Wohnungsbau darf es laut EU übrigens nur für die ganz Armen und nicht für die Mittelschicht geben, die ebenfalls schon längst unter explodierenden Mieten leidet. Aber klar: Der Markt soll es richten, sagt die EU.

Kalte Sprache

Was die Angst vor den Rechten angeht, ist das Gegenteil richtig: Wenn die Linke zu Grundsätzlichem schweigt, überlässt sie den Rechten das Terrain. Linke, gern konstruktive EU-Kritik ist dringend nötig. Ich habe vor Jahren mal eine EU-Pressereise nach Brüssel gemacht, die so deprimierend war, dass mein Gehirn fast alle Erinnerungen an die Reise gelöscht hat. Ich weiß zum Beispiel überhaupt nicht mehr, in welchem Hotel ich geschlafen habe. Ich kann mich nur noch an die technokratische, kalte Sprache der Spitzenbeamten und Abgeordneten, mit denen wir uns in fensterlosen Räumen trafen, erinnern. Und an die Parlamentskantine, wo schon mittags reichlich Rotwein ausgeschenkt wurde; anders kann man es da wohl nicht aushalten.

Wenn die Wahlkampfberichterstattungsroutine zu Ende ist und die Rechten wegen der internen Spaltungen hoffentlich einen Dämpfer bekommen, sollten wir mal dringend darüber reden, was grundsätzlich falsch läuft in der EU. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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7 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Der grundlegende Fehler ist es heutzutage überhaupt noch links/rechts denken zu promoten. Wenn eine Kommunistin wie Sarah Wagenknecht problemlos rechte Asylpolitik mit linker Sozialpolitik mischt und dabei aus dem Stand bei 7%, und damit soviel wie Linke und FDP zusamnen, landet, sollte es dämmern das Etiketten des 19. Jahrhunderts nichts mehr Aussagen.



    Die Kampflinie ist anywheres (gut ausgebildete "Internationale" denen egal ist wie sich ein Land entwickelt, weil sie problemlos wechseln können und deswegen ihre Ideologie durchdrücken wollen) gegen somewheres (eben Menschen die Lokal verwurzelt sind). Und da ist eben "Queerfront" wie verrückt: anywheres sind sicher multinationale Unternehmen, die eben da hin gehen wo die Subventionen am höchsten und Steuern und Löhne am geringsten sind, aber am Ende auch "Aktivisten" aller Art, von Klima bis gender, denen es am Ende Wurst ist wann und wo sie ihren Protest verkünden, solang er dort finanziert wird.

    Letztlich geht es darum, welche Gruppe den Ton angibt und die EU lenkt. Wird es mit einer "Weltregierung" besser? Oder ist es doch eher dezentrales agieren dass den Menschen hilft?

  • Was gar nicht hilft ist hier ausgerechnet den Establo-Mat zu verlinken, der verlangt nun wirklich keinen Artenschutz mehr, ausser Konkurrenz:

    de.wikipedia.org/wiki/WahlSwiper#Kritik

    Und sich dann wundern, wenn sich wieder nichts ändert. Immerhin wurde über eine soziale Alternative berichtet, der Swiper ist aber erhellender. Man müsste ihn nicht mal machen, allein dieser peinliche Boykott hat mir die Wahl versüsst.

  • "In Brüssel geht es nur mit Alkohol"

    Das ist aber kein Alleinstellungsmerkmal (selbst wenn man Straßburg noch einbezieht) .

    "Die EU hat immense Demokratiedefizite"

    Trotzdem sollten wir froh sein, dass es die EU überhaupt gibt. Es kann eigentlich nur besser werden (zum Erfolg verdammt). Wird aber (leider) noch dauern.

    "Linke meiden kritische Fragen, um den Rechten nicht in die Hände zu spielen – das ist ein Fehler"

    Die entscheidende Frage ist, wer denn die "Rechten" aus der Perspektive der Linken sind. Wenn es Alle sind, die nicht (weit genug) links ticken, dann ist das in der Tat ein Fehler.

  • "EU-Parlament; dieses muss sich das Haushaltsrecht mit dem Rat, also den Einzelstaaten, teilen."



    Ich fürchte nicht einmal das, Europarlament kann per Akklamation EU Haushalt zustimmen, ablehnen aber nicht zurückweisen, Was i Europarlament fehlt ist darüber hinaus eine der parlamentarischen Königsdisziplinen das Initiativrecht für Gesetzesvorlagen, mit diesem wäre es weder so zum Katargate noch Phizergate der EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gekommen mit Schaden von 35 Milliarden € für die EU mit der Folge, dass Polen, Ungarn Rückerstattungen fordern, während die belgische Staatsanwaltschaften gegen von der Leyen ermittelt, es aber Kräfte in EU gibt, die der belgischen Staatsanwaltschaft Verfahren entziehen wollen damit des nicht zu Hauptverfahren kommt sondern im Sande verläuft bis es verjährt

  • "Linke, gern konstruktive EU-Kritik ist dringend nötig."

    das kann man nur unterstreichen!

    • @nutzer:

      Das stimmt.

      Allerdings ist trotzdem unerlässlich, dass auf gewissen Gebieten zum Wohle aller EU/Weltbürger*innen supranationale verschärfte Mindeststandards für Steuern, Arbeitnehmerschutz, Transparenz , Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz etc. etabliert werden und dafür braucht es eben weiterhin einen starken überstaatlichen Akteur, der das ganze auch mit Nachdruck durchsetzen kann.

      Die EU hat hier bei allen Fehlern bereits beachtliche Erfolge erzielt. Großer Reformbedarf bleibt, da stimme ich zu.

      Die Gefahr besteht aber auch gerade, dass durch die beständigen Angriffe von rechts auch die Erfolge, die da sind einfach rückabgewickelt werden. Insofern sollte man bei aller Kritik eben auch die Vorzüge und Erfolge nicht außen vor lassen.

      • @spaltarsch:

        sicher, es gibt ja gute Seiten der EU. Problematisch ist es jedoch, wenn die EU pauschal als das Gute, als die heere Idee Europas erhöht wird. Gerade von links ist eine Überhöhung und eine Unterdrückung von Kritik an der EU zu bemerken. Dient die EU doch dazu als Gegenpol zum deutschen Nationalismus benutzt zu werden, da muß sie per Definition als gut definiert werden.



        Aber wie immer ist nicht nur gut oder nur schlecht, die EU hat große Defizite ist undemokratisch und hat ein Parlament, dass mehr Schein als Sein ist, gerade das macht es problematisch. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert, letztlich schadet dies der eur. Idee.



        Konstruktive Kritik kann sogar die Idee von Europa befördern, die allgemeine Angst, dass Kritik die EU untergraben könnte, ist das Problem. Ein Projekt über das nicht diskutiert wird ist ein Scheinprojekt und (ich behaupte) genauso wird es auch wahrgenommen. Das Desinteresse an den EU Wahlen (seit Jahrzehnten) ist nicht vom Himmel gefallen, es entspringt einer realistischen Wahrnehmung der Wichtigkeit.



        Soll die EU gestärkt werden muß sie zum Projekt der Bürger werden, mit all dem Knatsch der dazu gehört, nur wenn Bürger den Einfluß spüren wird es relevant.