EU-Verfahren gegen Mitgliedstaat: Polen hat es auf die Spitze getrieben
Zum ersten Mal leitet Brüssel ein Verfahren wegen Gefährdung von Grundwerten gegen ein EU-Land ein. Was bedeutet das? Fragen und Antworten.
Die EU-Kommission hat ein bisher noch nie dagewesenes Sanktionsverfahren gegen Polen eingeleitet. Warum?
Im Kern geht es um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz – und um die Weigerung der Regierung in Warschau, auf die Bedenken und Beschwerden aus Brüssel einzugehen. In den vergangenen zwei Jahren habe die rechtsgerichtete Regierung der PiS in Polen „mehr als 13 Gesetze“ erlassen, die „die gesamte Struktur des Rechtssystems“ verändern, kritisierte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans. Mehr als 25 Beschwerdebriefe aus Brüssel hätten daran nichts geändert. Nun bestehe die „ernste Gefahr“, dass die Rechtsstaatlichkeit in Polen missachtet wird – und damit ein Grundprinzip der EU.
Auf welcher Grundlage handelt die EU-Kommission?
Die Rechtsgrundlage ist Artikel 7 des EU-Vertrags, in dem es um eine „schwerwiegende Verletzung“ der europäischen Werte durch einen Mitgliedstaat geht. Dabei unterscheidet der Vertrag zwischen einer „eindeutigen Gefahr“ und der tatsächlichen Verletzung. Die „Gefahr“ muss von vier Fünfteln der EU-Mitglieder festgestellt werden – nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und Anhörung des betroffenen Landes. Erst danach geht es um die sogenannte „Nuklearoption“, das heißt die Aussetzung des Stimmrechts des betroffenen Staats. So weit sei es noch nicht, sagte Timmermans. Dennoch stellt der Start eines Sanktionsverfahrens eine Premiere dar: Artikel 7 ist bisher noch nie angewandt worden.
Warum hat Brüssel so lange gezögert?
Die EU-Kommission hat sich schon im Januar 2016 eingeschaltet. Zunächst hat sie jedoch einen „konstruktiven Dialog“ gesucht, wie dies im EU-Jargon heißt. Als das zu nichts führte, hat sie im Juli 2017 mit einem Sanktionsverfahren gedroht. Passiert ist jedoch nichts – weil damals noch nicht alle EU-Staaten bereit waren, das Verfahren mitzutragen. Vor allem Deutschland zögerte, nicht zuletzt mit Blick auf die Bundestagswahl. Beim letzten EU-Gipfel Mitte Dezember hat Bundeskanzlerin Angela Merkel dann aber Unterstützung signalisiert.
Kurz nach der Beantragung eines Strafverfahrens gegen Polen durch die EU-Kommission sind in dem Land zwei weitere umstrittene Justizreformen in Kraft getreten. Staatspräsident Andrzej Duda unterzeichnete am Mittwoch nach eigenen Angaben zwei Reformen, die das Oberste Gericht und den Nationalen Justizrat betreffen. Die polnische Opposition und die EU sehen in den Gesetzesänderungen eine Einschränkung des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung. (afp)
Wie geht es jetzt weiter?
Zunächst dürfte Polen angehört werden. Wenn die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit weiterbestehen, muss das Europaparlament dem Sanktionsverfahren zustimmen. Erst danach wäre eine Entscheidung des Rates möglich. Allerdings hat die EU-Kommission Polen noch einmal drei Monate Zeit gegeben, um es sich anders zu überlegen. Konkret geht es um fünf Empfehlungen: Unter anderem soll die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts wieder hergestellt werden. Sollte dies geschehen, könne man das Verfahren stoppen, sagte Timmermans. In der Praxis wird also wohl bis Ende März abgewartet.
Der Rat muss einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der EU-Werte vorliegt. Wie wahrscheinlich ist das?
Es ist so gut wie ausgeschlossen, denn Ungarn hat sich bereits hinter Polen gestellt und ein Veto angekündigt. Dagegen hat Frankreich das nun eingeleitete Verfahren genau wie Deutschland begrüßt. Die Kommission hat also die Rückendeckung der beiden wichtigsten EU-Staaten, sie weiß jedoch auch, dass sie bei einer Kampfabstimmung den Kürzeren ziehen würde.
Wie hat Polen reagiert?
Das polnische Außenministerium hat die Entscheidung Brüssels kritisiert. Der Beschluss der EU-Kommission habe politischen und nicht rechtlichen Charakter, erklärte das Ministerium am Mittwoch.
Ist es politisch klug, ein Land so an den Pranger zu stellen?
Das hat sich die EU-Kommission auch gefragt – und deshalb lange gezögert. Vizepräsident Timmermans betont nun, dass sich die Prozedur nicht gegen Polen und seine Bürger richte – im Gegenteil: Man wolle sicherstellen, dass auch die polnischen Bürger in den Genuss einer unabhängigen und fairen Justiz kommen.
Was passiert, wenn wieder nichts passiert? Ist die EU dann gescheitert?
Darüber möchte Brüssel lieber nicht nachdenken. Die EU-Kommission hat schon jetzt Autorität eingebüßt, weil sie zwei Jahre lang nicht in der Lage war, die Rechtsregierung in Warschau in die Schranken zu weisen. Für ein Scheitern im Ministerrat wäre aber nicht nur Brüssel verantwortlich – dort sind alle EU-Staaten gefragt.
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